JudikaturVfGH

G10/2024 ua (G10/2024-16, G44/2024-13) – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
Umweltrecht
03. Dezember 2024

Aufhebung des §43a Oö Natur- und Landschaftsschutzgesetz 2001 (Oö NSchG 2001) idF LGBl 35/2014. Die aufgehobene Bestimmung ist nicht mehr anzuwenden.

§43a Abs1 Oö NSchG 2001 regelt – in Abweichung von §13 VwGVG –, dass in den Angelegenheiten des Oö NSchG 2001 Beschwerden gemäß Art130 Abs1 Z1 B‑VG keine aufschiebende Wirkung haben, wenn durch den angefochtenen Bescheid eine Berechtigung eingeräumt wird. Dieser Ausschluss der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde gilt allerdings nicht generell und ausnahmslos. Die aufschiebende Wirkung ist auf Antrag der beschwerdeführenden Partei gemäß §43a Abs2 Oö NSchG 2001 von der Behörde zuzuerkennen, "wenn dem nicht zwingende öffentliche Interessen entgegenstehen und nach Abwägung der berührten öffentlichen Interessen und Interessen anderer Parteien mit der Ausübung der durch den angefochtenen Bescheid eingeräumten Berechtigung für die beschwerdeführende Partei ein unverhältnismäßiger Nachteil verbunden wäre."

Nach Art136 Abs2 dritter Satz B‑VG können durch Bundes- oder Landesgesetz Regelungen über das Verfahren der Verwaltungsgerichte getroffen werden, wenn sie zur Regelung des Gegenstandes erforderlich sind oder soweit das in Art136 Abs2 erster Satz B‑VG genannte Bundesgesetz, das das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Verwaltungsgerichtes des Bundes für Finanzen einheitlich regelt, sohin das VwGVG, dazu ermächtigt. Nach der Rsp des VfGH können von den allgemeinen Bestimmungen der Verfahrensgesetze abweichende Regelungen nur dann "erforderlich" sein, wenn sie nicht anderen Verfassungsbestimmungen, wie etwa dem Rechtsstaatsprinzip und dem daraus abgeleiteten Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes, widersprechen.

Der VfGH hat im Hinblick auf den Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes ausgeführt, dass der Gesetzgeber bei der Regelung der vorläufigen Wirkung zulässiger Rechtsmittel bis zur Entscheidung darüber neben der Stellung des Rechtsmittelwerbers auch Zweck und Inhalt der Regelung, die Interessen Dritter sowie das öffentliche Interesse zu berücksichtigen hat und unter diesen Gegebenheiten einen Ausgleich schaffen muss, wobei dem Grundsatz der faktischen Effizienz eines Rechtsbehelfes der Vorrang zukommt und die Einschränkung dieses Grundsatzes nur aus sachlich gebotenen, triftigen Gründen zulässig ist.

Diese rechtsstaatlichen Vorgaben betreffen nach Auffassung des VfGH alle Arten von behördlichen Verfahren: Gleichgültig wie viele Parteien an einem Verfahren jeweils beteiligt sind, muss der Gesetzgeber die Behörde (bzw das Verwaltungsgericht) zur Entscheidung darüber ermächtigen, wessen Interessen im Rechtsmittelverfahren in welchem Umfang entgegenstehende Interessen dahin überwiegen, dass im Weg des Provisorialverfahrens jedenfalls die Effektivität des Rechtsschutzes gewahrt bleibt. In einem solchen Provisorialverfahren ist gleichwohl nicht nur auf die Position des Rechtsschutzsuchenden, sondern auch auf die Interessen Dritter sowie auf das öffentliche Interesse abzustellen. Der Gesetzgeber hat unter diesen Gegebenheiten einen Ausgleich zu schaffen.

Der VfGH hat demnach den generellen Ausschluss oder die starke Einschränkung der aufschiebenden Wirkung von Rechtsmitteln als dem Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes widersprechend erkannt, sofern dafür nicht sachlich gebotene, triftige Gründe vorliegen. Eine automatische Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsmittels kraft Gesetzes, wie sie §13 Abs1 VwGVG vorsieht, ist nach der Rsp gleichwohl nicht gefordert.

Im Zusammenhang mit §78 Abs1 GewO 1994 in der Stammfassung BGBl 194/1994 wurde ausgesprochen, dass der ausnahmslose Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von (damals) Nachbarberufungen gegen Betriebsanlagengenehmigungsbescheide dem Rechtsstaatsprinzip widerspricht (VfSlg 16.460/2002). Der VfGH hat zugleich jedoch deutlich gemacht, dass eine Regelung unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten verfassungskonform sein kann, wenn sie den wirtschaftlichen Interessen des Genehmigungswerbers entgegenkommt und diesem "im Regelfall bereits während des Laufes eines gegen die Genehmigung gerichteten Rechtsmittelverfahrens die vorläufige Inanspruchnahme seiner Genehmigung" gestattet. Die in diesem Sinn neu erlassene Bestimmung des §78 Abs1 GewO 1994 erlaubt dem Genehmigungswerber bereits ab dem Zeitpunkt der Erlassung des Genehmigungsbescheides – vorläufig und auf die Dauer von drei Jahren befristet – die Errichtung und den Betrieb der Anlage bzw von Teilen derselben bei Einhaltung der im Genehmigungsbescheid festgelegten Auflagen. Die Behörde hat die Inanspruchnahme dieses Rechtes gemäß §78 Abs1 GewO 1994 jedoch auszuschließen, wenn der Begründung der Beschwerde zu entnehmen ist, dass "auf Grund der besonderen Situation des Einzelfalles trotz Einhaltung der Auflagen des angefochtenen Bescheides eine Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit zu erwarten ist".

Die in VfSlg 16.460/2002 und 19.969/2015 dargelegten Erwägungen des VfGH zum Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes sind auf die mit §56 Oö BauO 1994 im Wesentlichen wortlautidente Regelung des §43a Oö NSchG 2001 übertragbar. Auch diese Bestimmung ermöglicht es der Verwaltungsbehörde bzw (ab Zuständigkeitsübergang) dem Verwaltungsgericht, einer Beschwerde gegen die erteilte naturschutzrechtliche Bewilligung bei Vorliegen der Voraussetzungen des §43a Abs2 Oö NSchG 2001 die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Im Rahmen dieser Entscheidung hat die Verwaltungsbehörde bzw das Verwaltungsgericht umfassend die öffentlichen Interessen sowie die Interessen des Bewilligungswerbers und alle geltend gemachten (auch öffentlichen) Interessen der Rechtsmittelwerber gegeneinander abzuwägen.

Dass aus der Umsetzung eines von der Naturschutzbehörde bewilligten Vorhabens vor der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes mitunter irreversible Nachteile für die Natur und Landschaft resultieren können, kann und muss von der Behörde bei ihrer Entscheidung über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung (zentral) beachtet werden. §73 Abs1 AVG verpflichtet die Behörde – in rechtsstaatlich gebotener Weise – überdies, derartige Entscheidungen zur Vermeidung solcher Nachteile mit Blick auf das konkrete Vorhaben und dessen potentiell irreversible Nachteile für die Schutzgüter des Oö NSchG 2001 "ohne unnötigen Aufschub" zu treffen. Sie hat dabei nicht die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung zu beurteilen, sondern ausschließlich die oben dargestellte Interessenabwägung vorzunehmen.

Da §43a Oö NSchG 2001 – auf Grund eines Antrages der beschwerdeführenden Partei – die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung vorsieht und im dazu zu führenden Provisorialverfahren der Behörde eine Abwägung aller relevanten Interessen, darunter insbesondere auch jene der beschwerdeführenden Partei, zur Pflicht macht, widerspricht diese Bestimmung nicht dem Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes.

Mangelnde "Erforderlichkeit" des §43a Oö NSchG 2001 iSd Art136 Abs2 B‑VG betreffend die von §13 VwGVG abweichende Regelung der aufschiebenden Wirkung von Beschwerden der Oö Umweltanwaltschaft sowie von berechtigten Umweltorganisationen:

Berechtigte Umweltorganisationen sind gemäß §39a Abs1 Oö NSchG 2001 Vereine oder Stiftungen, die gemäß §19 Abs7 UVP-G 2000 idF BGBl I 80/2018 zur Ausübung von Parteienrechten in Oberösterreich befugt sind. Sie sind – vor dem Hintergrund des Art9 Abs2 und 3 der Aarhus-Konvention – gemäß §39b Abs4 Oö NSchG 2001 als private (Verfahrens-)Beteiligte und sohin nicht als Amtsparteien zur Beschwerde gegen Bescheide in den in dieser Bestimmung genannten Angelegenheiten berechtigt, und zwar wegen Verletzung von Vorschriften des Oö NSchG 2001, soweit diese Bestimmungen die FFH-Richtlinie und die Vogelschutz-Richtlinie umsetzen. Berechtigte Umweltorganisationen sind demnach gegen solche Bescheide zur Beschwerde legitimiert, die insbesondere Vorhaben mit Auswirkungen auf Europaschutzgebiete bzw Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung oder auf geschützte Pflanzen- und Tierarten zum Gegenstand haben. Dem antragstellenden Gericht ist zuzustimmen, dass potentielle Beeinträchtigungen der damit betroffenen Schutzgüter auf Grund der Umsetzung von mit solchen Bescheiden bewilligten Vorhaben typischerweise nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr zur Gänze reversibel sein können.

Der VfGH kann vor diesem Hintergrund nicht erkennen, dass die allgemeine Bestimmung des §13 Abs2 VwGVG betreffend den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Beschwerden gemäß Abs1 leg cit zu eng gefasst ist. Gemäß §13 Abs2 VwGVG kann die Behörde "die aufschiebende Wirkung mit Bescheid ausschließen, wenn nach Abwägung der berührten öffentlichen Interessen und Interessen anderer Parteien der vorzeitige Vollzug des angefochtenen Bescheides oder die Ausübung der durch den angefochtenen Bescheid eingeräumten Berechtigung wegen Gefahr im Verzug dringend geboten ist."

Der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung ist damit keine bloß theoretische Möglichkeit. Bei der Entscheidung über die Zuerkennung oder Aberkennung der aufschiebenden Wirkung darf (nämlich) nicht allein auf die Position des Rechtsschutzsuchenden abgestellt werden. Vielmehr müssen – unter Wahrung des Grundsatzes der Effektivität des Rechtsschutzes – auch die Interessen anderer Verfahrensparteien sowie öffentliche Interessen berücksichtigt werden.

In Übereinstimmung mit diesen Anforderungen ist das Tatbestandsmerkmal "Gefahr in Verzug" in §13 Abs2 VwGVG so zu verstehen, dass mit dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung (zwar nicht jeglicher Nachteil, wohl aber) "das Eintreten erheblicher Nachteile für eine Partei bzw gravierender Nachteile für das öffentliche Wohl" verhindert werden soll. In die nach dieser Bestimmung von der Behörde "im Einzelfall vorzunehmende Interessenabwägung" sind deshalb, neben den vom Rechtsschutzsuchenden geltend gemachten Interessen, (auch) die mit dem verwaltungsbehördlich bewilligten Vorhaben verfolgten privaten und öffentlichen Interessen – entsprechend gewichtet (vgl etwa §34a Abs2 Oö NSchG 2001, wonach Erneuerbare-Energie-Anlagen in einem "überragenden öffentlichen Interesse liegen") – einzustellen.