JudikaturVfGH

G238/2023 (G238/2023-10) – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
Öffentliches Recht
03. Oktober 2023
Leitsatz

Unsachlichkeit von Teilen von Bestimmungen des Nö SozialhilfeG betreffend die Voraussetzung des Bestehens eines Hauptwohnsitzes in Niederösterreich vor der Aufnahme in eine Pflegeeinrichtung; Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz durch den kategorischen Ausschluss von Sozialhilfeleistungen, wenn der Hauptwohnsitz in Niederösterreich erst mit der Aufnahme in die Pflegeeinrichtung begründet wird; keine Möglichkeit der Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens im Einzelfall sowie mangelnde Eignung und Erforderlichkeit der pauschalen Regelung für die ortsnahe Pflegeversorgung der im Bundesland bereits wohnhaften Bevölkerung

Aufhebung der Wortfolge "vor Aufnahme in eine stationäre Einrichtung" in §12 Abs2 des NÖ Sozialhilfegesetzes 2000 (NÖ SHG) idF LGBl 1/2022, sowie §12 Abs3 NÖ SHG idF LGBl 40/2018. Fristsetzung: Inkrafttreten mit Ablauf des 31.10.2024.

Im System der niederösterreichischen Sozialhilfe setzt die Leistungsgewährung gemäß §4 Abs1 Z2 NÖ SHG in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise grundsätzlich den Hauptwohnsitz (und mangels eines solchen den Aufenthalt) im Bundesland voraus. In Abweichung vom allgemeinen Wohnsitzerfordernis des §4 Abs1 Z2 NÖ SHG verlangt §12 Abs2 NÖ SHG jedoch nicht bloß einen aktuellen Hauptwohnsitz im Bundesland, sondern darüber hinaus, dass ein solcher bereits vor Aufnahme in eine Pflegeeinrichtung des Landes bestanden haben muss. Das Erfordernis des örtlichen Naheverhältnisses wird somit bei der Hilfe bei stationäre Pflege – im Unterschied zu anderen Leistungen der Sozialhilfe gemäß NÖ SHG – um ein zeitliches Kriterium erweitert, sodass strengere Anspruchsvoraussetzungen als für sonstige Leistungen der Sozialhilfe gelten. Damit wird zum einen zwischen pflegebedürftigen Staatsbürgern differenziert, je nach dem, wann sie ihren Hauptwohnsitz in Niederösterreich begründet haben, und zum anderen zwischen hilfebedürftigen Personen mit Hauptwohnsitz in Niederösterreich, je nach dem, ob sie pflegebedürftig sind oder nicht.

§12 Abs2 und 3 NÖ SHG zielt zumindest mittelbar auf die Wanderbewegungen von Pflegebedürftigen zwischen den Bundesländern, weil andernfalls Personen aus anderen Bundesländern eine Pflegemaßahme in einer stationären Pflegeeinrichtung in Niederösterreich in Anspruch nehmen würden.

Der Gleichheitsgrundsatz verwehrt es dem Gesetzgeber zwar nicht, beim Zugang zur Hilfe bei stationärer Pflege nach sachlichen Kriterien zu differenzieren, etwa um zu gewährleisten, dass Personen im Fall ihrer Pflegebedürftigkeit ortsnah bzw in der Nähe ihrer Angehörigen untergebracht werden können. Die vom allgemeinen Wohnsitzerfordernis abweichende Regelung des §12 Abs2 und 3 NÖ SHG bewirkt jedoch einen kategorischen Ausschluss von pflegebedürftigen Menschen beim Zugang zur Hilfe bei stationärer Pflege, bloß weil diese ihren Hauptwohnsitz in Niederösterreich erst mit der Aufnahme in eine Pflegeeinrichtung begründet haben. Eine derart pauschale Regelung ermöglicht weder eine Berücksichtigung der Umstände im Einzelfall (etwa im Hinblick auf das Privat- und Familienleben), noch erscheint sie geeignet und erforderlich, um die ortsnahe Pflegeversorgung für die im Bundesland bereits wohnhafte Bevölkerung sicherzustellen.

(Anlassfall E2926/2022, E v 03.10.2023, Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses).

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