G299/2022 ua, V256/2022 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Die zu G299/2022, G319/2022 ua und G88/2023 ua gestellten Anträge auf Aufhebung bloß von (Teilen des) §45 Abs1 StPO bzw von §§43 bis 45 StPO sowie der zu G119/2023 ua gestellte (Haupt-)Antrag auf Aufhebung des Wortes "erkennende" in §45 Abs1 zweiter Satz StPO und der Eventualantrag auf Aufhebung von §45 Abs1 zweiter und dritter Satz StPO werden ua mangels Anfechtung sowohl des §45 Abs1 als auch des §238 Abs2 StPO bzw auf Grund zu engem bzw zu weitem Anfechtungsumfang zurückgewiesen. Abweisung der Anträge auf Aufhebung von Teilen des §45 Abs1 zweiter, dritter und vierter Satz und §45 Abs3 iVm §238 Abs2 und 3 StPO, §58 Abs3 Z2 und §58 Abs3a StGB sowie von Teilen des §9 Z3 1. COVID-19-Justiz-BegleitG idF BGBl I 16/2020, und §9 Z3 leg cit idF BGBl I 24/2020 sowie §3 COVID-19-V betreffend besondere Vorkehrungen in Strafsachen idF BGBl II 113/2020, und §3 leg cit idF BGBl II 138/2020.
Kein Verstoß des §45 und §238 StPO gegen den Gleichheitsgrundsatz und gegen Art6 EMRK:
Aus §45 und §238 StPO geht deutlich hervor, dass über Anträge auf Ausschließung bzw Ablehnung eines Richters oder eines sonstigen Mitgliedes des Schöffengerichtes im Rahmen der Hauptverhandlung stets das erkennende (Schöffen-)Gericht zu entscheiden hat. Dasselbe gilt für Anträge, die unmittelbar vor der Hauptverhandlung gestellt werden. Ansonsten hat der Richter nach Maßgabe des §45 Abs1 StPO über die Ausschließung zu entscheiden, dem sie nach §44 Abs2 StPO anzuzeigen ist, über die Ausschließung des Präsidenten, des Vizepräsidenten oder eines Mitglieds des OGH jedoch der OGH in einem Dreiersenat.
Durch die Pflicht des Gerichts, den Beschluss samt nachvollziehbaren Entscheidungsgründen zu verkünden sowie die Möglichkeit der Überprüfung des Beschlusses durch das ordentliche Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde gemäß §281 Abs1 Z4 StPO wird sichergestellt, dass ein unparteiisches Gericht iSd Art6 EMRK umfassend die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichtes über die Begründetheit des Ausschließungsantrages von Verfahrensbeteiligten in jeglicher Hinsicht überprüft.
Für die an den Antragszeitpunkt geknüpfte unterschiedliche Entscheidungskompetenz bestehen sachliche Gründe, die nicht bloß verfahrensökonomischen Erwägungen folgen, sondern auch dem Schutz der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte des Betroffenen dienen. Dabei ist insbesondere auch das in Art6 EMRK verankerte Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer zu berücksichtigen. Der Gesetzgeber hat einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen der Verfahrensbeteiligten an der Wahrnehmung ihrer Verfahrensrechte und dem Interesse an einer angemessenen Verfahrensdauer vorgenommen und den ihm von Verfassungs wegen zukommenden rechtspolitischen Spielraum nicht überschritten.
Zum Vorbringen, dass der Ausschluss eines selbständigen Rechtsmittels verfassungswidrig sei: Der Betroffene hat bei einer ablehnenden Entscheidung des erkennenden (Schöffen-)Gerichtes nach §45 Abs1 und §238 Abs2 StPO die Möglichkeit, mittels Nichtigkeitsbeschwerde nach §281 StPO die Ausgeschlossenheit eines an der Entscheidung beteiligten Richters geltend zu machen. Die zuvor abweisende Entscheidung über den Ablehnungsantrag hat für die Prüfung des Beschwerdeverbringens keine bindende Wirkung. Der Gesetzgeber hat mit diesen Bestimmungen seinen Gestaltungsspielraum nicht überschritten.
Kein Verstoß des §58 Abs3 Z2 und des Abs3a StGB betreffend die Verlängerung der Verjährungsfrist gegen Art6 EMRK und den Gleichheitsgrundsatz:
Gemäß Art6 Abs1 EMRK hat das Gericht "innerhalb einer angemessenen Frist" zu entscheiden. Diese Garantie ist einerseits Bestandteil des Gebotes effizienten gerichtlichen Rechtsschutzes, steht andererseits aber in einem Spannungsverhältnis zu den einzelnen (ebenfalls in Art6 Abs1 und 3 EMRK normierten) Gewährleistungen des fairen Verfahrens, weil ein Mehr an Verfahrensrechten regelmäßig das Verfahren verlängert.
Die Strafprozessordnung enthält mehrere Bestimmungen, welche im Ergebnis bewirken sollen, dass das strafrechtliche (Ermittlungs- und Gerichts-)Verfahren in angemessener Zeit iSd Art6 Abs1 EMRK erledigt wird:
Die angefochtenen gesetzlichen Verjährungsfristen dienen mehreren wichtigen Zwecken, nämlich der Gewährleistung von Rechtssicherheit und Endgültigkeit, dem Schutz potentieller Angeklagter vor veralteten Ansprüchen, denen möglicherweise entgegenzutreten ist, und der Verhinderung von unbilligen Ergebnissen, die entstehen können, wenn Gerichte über Ereignisse auf Grundlage von Beweisen, die auf Grund des Zeitablaufes unzuverlässig und unvollständig geworden sein könnten, entscheiden müssen. Gesetzliche Verjährungsfristen dienen somit in erster Linie anderen Zwecken als der Sicherstellung einer angemessenen Verfahrensdauer. Der Sicherstellung einer raschen und zügigen Durchführung des Verfahrens dienen in erster Linie Bestimmungen wie etwa §9 und §108a StPO (Beschleunigungsgebot: zügiger Abschluss eines Strafverfahrens in angemessener Zeit und ohne unnötige Verzögerung sowie Überprüfung der Höchstdauer des Ermittlungsverfahrens).
§57 und §58 StGB sehen ein nach Strafdrohungen abgestuftes, mitunter auch von prozessualen Erwägungen getragenes System der Verjährung der Strafbarkeit vor. Dass §58 StGB für bestimmte Fälle, insbesondere für ein laufendes Verfahren, die Hemmung der Verjährungsfrist vorsieht, kommt nicht dem gänzlichen Fehlen einer Verjährungsfrist gleich. Vereinzelte Fälle überlanger Verfahrensdauer, in denen die Verjährung als Folge der langen Verfahrensdauer gehemmt ist, bedeuten (noch) keinen Verstoß des Regelungssystems an sich gegen Art6 EMRK. Solche vereinzelten Fälle betreffen den Vollzug der Gesetze durch die Strafverfolgungsbehörden, führen jedoch nicht zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, zumal ein strukturelles Problem in der Strafprozessordnung nicht erkennbar und von den Antragstellern auch nicht dargetan worden ist.
Ob eine Verletzung des Gebotes, eine Entscheidung "innerhalb angemessener Frist" zu treffen, vorliegt oder nicht und damit möglicherweise auch eine Verletzung der Grundsätze eines fairen Verfahrens stattgefunden hat, ist sohin stets im Einzelfall zu beurteilen, aber keine Frage der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelungen.
Keine Gleichheitswidrigkeit der im Verwaltungsstrafrecht geltenden absoluten Verjährung im Gegensatz zum Kriminalstrafrecht: Das Verwaltungsstrafrecht und das Kriminalstrafrecht sind in Bezug auf die Durchführung und Ausgestaltung des Verfahrens und damit auch in Bezug auf Verjährungsfristen nicht vergleichbar. Es ist nicht zu erkennen, dass der Gesetzgeber mit der angefochtenen Bestimmung des §58 Abs3 Z2 (iVm §57) StGB seinen Gestaltungsspielraum überschritten hat.
Keine Verfassungswidrigkeit des §58 Abs3a StGB: Gemäß §58 Abs3a StGB bleibt eine nach §58 Abs1 bis Abs3 StGB eingetretene Hemmung der Verjährung auch dann wirksam, wenn durch eine spätere Änderung des Gesetzes die Tat im Zeitpunkt der Hemmung nach dem neuen Recht bereits verjährt gewesen wäre, da §58 Abs3a StGB nur eine Änderung der Regelungen des §58 Abs3 StGB durch den Gesetzgeber anspricht. Abgesehen davon, dass der VfGH §58 Abs3 Z2 nicht als verfassungswidrig aufhebt, spricht §58 Abs3a StGB nur eine Änderung der Regelungen des §58 Abs3 StGB durch den Gesetzgeber an. Die Aufhebung einer Bestimmung des §58 Abs3 StGB durch den VfGH wird durch §58 Abs3a StGB gar nicht erfasst. Die gegen diese Regelung geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken gehen somit schon aus diesem Grund ins Leere.
Keine Bedenken gegen §9 Z3 1. COVID-19-Justiz-BegleitG und §3 COVID-19-MaßnahmenV betreffend besondere Vorkehrungen in Strafsachen:
Zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie trafen der Gesetz-und der Verordnungsgeber zahlreiche Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19. Im Bereich der Justiz erließen sie spezielle, auf Strafverfahren zugeschnittene Regelungen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 und zur Aufrechterhaltung bzw Bewältigung der durch die COVID-19-Pandemie verursachten Behinderung der Strafverfahren. In diesem Sinne wurden unter anderem die nun angefochtenen Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen erlassen, welche eine Unterbrechung der in §276a StPO festgelegten Frist ab dem 24.03.2020 bis zum 30.04.2020 vorsahen. Die in §276a StPO vorgesehene Frist begann am 01.05.2020 neu zu laufen.
Bei dem von den Antragstellern aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens gemäß Art6 EMRK abgeleiteten Unmittelbarkeitsgrundsatz handelt es sich um den sogenannten zeitlichen Unmittelbarkeitsgrundsatz. In den Vorbringen der Antragsteller sind keine näheren Ausführungen zu finden, aus welchen Gründen die – zeitlich begrenzte – Unterbrechung der in §276a StGB geregelten Frist überhaupt geeignet war, die Antragsteller in ihren Rechten auf ein faires Verfahren im Sinne des Art6 EMRK zu verletzen. Eine solche Verletzung kann auch der VfGH – schon alleine auf Grund der kurzzeitigen Unterbrechung der in §276a StPO vorgesehenen Frist vom 24.03. bis zum 30.04.2020 – nicht erkennen. Ein etwaiges Abweichen von dem derart verstandenen zeitlichen Unmittelbarkeitsgrundsatz der Konzentrationsmaxime bedeutet nicht per se einen Verstoß gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens gemäß Art6 Abs1 EMRK. Ob eine Verletzung dieser Grundsätze erfolgt ist, ist im Einzelfall zu beurteilen.