WI5/2021 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Aufhebung des Verfahrens zur Wiederholungswahl des Gemeindevorstandes der Stadtgemeinde Groß Gerungs vom 12.01.2021, beginnend mit der Aufteilung der Anzahl der geschäftsführenden Stadträte auf die im Gemeinderat vertretenen Wahlparteien.
Bei der angefochtenen Wahl des Gemeindevorstandes der Stadtgemeinde Groß Gerungs vom 12.01.2021 handelt es sich um die Wiederholung der vom VfGH mit E v 08.10.2020, WI6/2020, teilweise aufgehobenen Wahl zum Gemeindevorstand vom 20.02.2020. Zur Beantwortung der Frage, welche Rechtslage bei einer (gänzlichen oder teilweisen) Wiederholungswahl des Gemeindevorstandes als Folge eines aufhebenden Erkenntnisses des VfGH anzuwenden ist, sind im Hinblick auf den vorliegenden Fall folgende Grundsätze maßgeblich:
Aus §70 Abs4 VfGG ergibt sich lediglich, dass die Wahlbehörden im Fall eines stattgebenden Erkenntnisses des VfGH im zu wiederholenden Wahlverfahren an die tatsächlichen Feststellungen und an die Rechtsanschauung des VfGH gebunden sind. Ob eine Änderung der Sach- und Rechtslage, hinsichtlich derer die genannte Bindung nicht bestehen kann, im zu wiederholenden Wahlverfahren zu berücksichtigen ist oder nicht, wird von §70 Abs4 VfGG nicht geklärt.
Gemäß §70 Abs1 VfGG kann der VfGH im Fall der Stattgabe einer Wahlanfechtung entweder das ganze Wahlverfahren oder von ihm genau zu bezeichnende Teile des Wahlverfahrens aufheben. Jedenfalls bei einer teilweisen Aufhebung - wie im vorliegenden Fall - stellt die Wiederholungswahl eine Fortsetzung desselben Wahlverfahrens dar. Die teilweise Aufhebung durch den VfGH hat also den Zweck, dieses Wahlverfahren so zu Ende zu führen, wie es ursprünglich rechtmäßig gewesen wäre. Das insofern fortgesetzte bzw teilweise zu wiederholende Wahlverfahren ist daher, sofern in der Wahlordnung nicht anderes vorgesehen ist (siehe zB betreffend den Kreis der Wahlberechtigten die verfassungsgesetzliche Sonderbestimmung des §26b Abs3 BPräsWG), nach der Sach- und Rechtslage durchzuführen, die bereits für die ursprüngliche Wahl maßgeblich war.
Eine von diesem Grundsatz abweichende Änderung der einfachgesetzlichen "Spielregeln" eines laufenden bzw teilweise zu wiederholenden Wahlverfahrens bedürfte jedenfalls einer besonderen sachlichen Rechtfertigung.
Vor diesem Hintergrund konnte bei der angefochtenen Wahl des Gemeindevorstandes der Stadtgemeinde Groß Gerungs vom 12.01.2021, die als Wiederholung der teilweise aufgehobenen Wahl vom 20.02.2020 abgehalten wurde, die Bestimmung des §101 Abs2 NÖ GO 1973 in der am 05.01.2021 in Kraft getretenen Fassung LGBl 3/2021 nicht zur Anwendung kommen. Dies ergibt sich schon daraus, dass die zitierte Novelle keine Übergangsregelung enthält, der zufolge die novellierte Fassung des §101 Abs2 leg cit auch in laufenden Wahlverfahren anzuwenden wäre - weshalb hier offenbleiben kann, ob dies verfassungsrechtlich überhaupt zulässig wäre. Auch die Gesetzesmaterialien zu LGBl 3/2021, die sich ausdrücklich auf das E v 08.10.2020, WI6/2020, beziehen, enthalten keine gegenteiligen Hinweise. Die geltende Fassung des §101 Abs2 NÖ GO 1973 kann daher nur für zukünftige Wahlverfahren maßgeblich sein. Die Verteilung der Mandate bei der angefochtenen Wiederholungswahl hätte daher nach jener Fassung des §101 Abs2 NÖ GO 1973 zu erfolgen gehabt, die bereits bei der ursprünglichen Wahl vom 20.02.2020 anzuwenden war - und zwar unter Bindung an die vom VfGH im zitierten Erkenntnis geäußerte Rechtsanschauung zu dieser Bestimmung.
Im Übrigen wäre eine Anwendung des §101 Abs2 NÖ GO 1973 idF LGBl 3/2021 im vorliegenden Fall auch verfassungswidrig gewesen. Die Anwendung dieser Bestimmung hat nämlich zur Folge, dass das Verfahren zur Verteilung der Mandate der geschäftsführenden Stadträte während des laufenden Wahlverfahrens geändert wird. Dies stellt eine Abweichung vom zuvor genannten Grundsatz dar, für die es keine besondere sachliche Rechtfertigung gibt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Eingriff in das laufende Wahlverfahren durch die Anwendung der genannten Novelle besonders schwerwiegend ist: Durch die novellierte Bestimmung kommt nämlich bei der Verteilung der Mandate ein anderes Verfahren zur Anwendung, mit der Folge, dass jene Partei, die nach der zuvor geltenden Bestimmung drei Mandate erhalten hat, nunmehr alle fünf Mandate erhält, während die beiden Parteien, die zuvor jeweils ein Mandat erhalten haben, nunmehr keine Mandate erhalten.
Die angefochtene Wahl erweist sich daher schon deshalb als rechtswidrig, weil bei der Verteilung der Mandate die Bestimmung des §101 Abs2 NÖ GO 1973 idF LGBl 3/2021 angewendet wurde. Vor diesem Hintergrund muss auf das übrige Vorbringen und dabei insbesondere auf die Fragen, ob die Wiederholungswahl rechtzeitig abgehalten wurde und ob dabei - im Hinblick darauf, dass in §115 Abs3 NÖ GO 1973 nur von einer "Ergänzungswahl" die Rede ist, die abzuhalten ist, wenn "das Amt eines Mitgliedes des Gemeindevorstandes [...] dauernd freigeworden ist" - im vorliegenden Fall überhaupt die Frist nach §115 Abs3 iVm §120 Abs3 NÖ GO 1973 maßgeblich war, nicht weiter eingegangen werden.
Die festgestellte Rechtswidrigkeit führte im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass alle der zu verteilenden fünf Mandate auf die ÖVP entfielen. Da die Anwendung des §101 Abs2 NÖ GO 1973 idF vor LGBl 3/2021 zu einer anderen Verteilung der Mandate geführt hätte, war diese Rechtswidrigkeit von Einfluss auf das Ergebnis der Wahl.
Für das neuerlich zu wiederholende Wahlverfahren bedeutet dies, dass die Verteilung der Mandate nach jener Rechtslage und Rechtsanschauung zu erfolgen hat, die dem E v 08.10.2020, WI6/2020, zugrunde lag.