7Rs43/25g – OLG Wien Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Glawischnig als Vorsitzende, die Richter Mag. Nigl und Mag. Zechmeister sowie die fachkundigen Laienrichter Florian Böhm und Norbert Walter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , **, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Landesstelle Niederösterreich , Kremser Landstraße 5, 3100 St. Pölten, vertreten durch Mag. B*, ebendort, wegen Invaliditätspension und Rehabilitationsgeld, über die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Arbeits und Sozialgericht vom 18.2.2025, **27, gemäß den §§ 2 Abs 1 ASGG, 480 Abs 1 ZPO in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wies das Erstgericht das Klagebegehren, die Beklagte sei schuldig, dem Kläger eine Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab Stichtag zu zahlen, ab (Spruchpunkt 1. des angefochtenen Urteils). Unter Spruchpunkt 2. des angefochtenen Urteils stellte es fest, dass vorübergehende Invalidität seit dem 1.2.2023 vorliegt, Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nicht zweckmäßig sind und der Kläger daher seit dem 1.2.2023 Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung hat.
Das Erstgericht stellte folgenden Sachverhalt fest:
„Der am ** geborene Kläger war zum Stichtag 01.02.2023 35 Jahre alt und erwarb bis dahin 183 Versicherungsmonate, davon 64 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aus Erwerbstätigkeit, 116 Beitragsmonate der Pflichtversicherung-Teilversicherung (APG) und 3 Beitragsmonate der freiwilligen Versicherung.
Der Kläger hat den Beruf des Produktionstechnikers erlernt. Er war u.a. von 01.12.2003 bis 11.10.2006 und von 02.06.2008 bis 30.11.2008 als Produktionstechnikerlehrling und von 01.12.2008 bis 23.07.2009 als Produktionstechniker bei der Fa. C* beschäftigt. Während seiner dortigen Lehr- und Beschäftigungszeit hatte der Kläger keine längeren Krankenstände.Der Kläger war vom 03.11.2006 bis 20.12.2006 im D* in stationärer Behandlung.
Aus neurologisch-psychiatrischer Sicht ist beim Kläger keine Arbeitsfähigkeit gegeben. Der Kläger leidet an einer Polytoxikomanie seit dem 13. Lebensjahr, gegenwärtig abstinent, aber in beschützender Umgebung (F19.21). Weiters besteht eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung (F60.3). Der Zustand besteht seit Antragstellung. Besserungsfähigkeit ist gegeben. Beim Kläger kam es zu heftiger Selbstverletzung im Jugendalter und ab dann zu einem bislang nicht beherrschbaren multiplen Gebrauch psychotroper Substanzen im Sinne schwerer Abhängigkeit. Aktuell ist er seit rund einem halben Jahr wieder in Langzeittherapie in der Zukunftsschmiede in **. Der Kläger begann sicher schon sehr früh im Leben mit diversen psychotropen Substanzen bis zur Abhängigkeit. Auch sind die Kriterien für eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung erfüllt.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Kläger bereits zum Zeitpunkt des Eintrittes ins Erwerbsleben im Dezember 2003 arbeitsunfähig oder sonst in seiner Arbeitsfähigkeit eingeschränkt war. Es ist seither eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes und ein Herabsinken der Arbeitsfähigkeit eingetreten.
Der Kläger hat von den von der Beklagten im Verwaltungsverfahren anberaumten Untersuchungsterminen am 22.08.2023 und 19.10.2023 keine Kenntnis erlangt. Er war zu dieser Zeit obdachlos. Das Versäumen der Untersuchungstermine ist dem Kläger nicht vorwerfbar.“
Rechtlich führte das Erstgericht - soweit für das Berufungsverfahren relevant - zusammengefasst aus, dass beim Kläger aktuell keine Arbeitsfähigkeit vorliege. Es sei aber Besserungsfähigkeit gegeben, sodass zwar vorübergehende, jedoch keine dauerhafte Berufsunfähigkeit vorliege. Da diese aus medizinischen Gründen vorliege, seien Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation nicht zweckmäßig. Ein Fall originärer Invalidität liege nicht vor, da es nach den Feststellungen zu einem Herabsinken der Arbeitsfähigkeit des Klägers gekommen sei. Der Kläger habe demzufolge ab dem Stichtag für die Dauer der vorübergehenden Invalidität Anspruch auf Rehabilitationsgeld.
Gegen den klagsstattgebenden Teil dieses Urteils, also soweit festgestellt wurde, dass beim Kläger vorübergehende Invalidität seit dem 1.2.2023 vorliegt, und ausgesprochen wurde, dass der Kläger Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung hat (siehe Spruchpunkt 2. des angefochtenen Urteils), richtet sich die Berufung der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem erkennbaren Antrag, das angefochtene Urteil im zur Gänze klagsabweisenden Sinn abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Der Kläger hat sich am Berufungsverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Die Berufung ist nicht berechtigt .
1. Die Beklagte führt im Wesentlichen aus, dass der Kläger für die rechtsbegründenden Tatsachen objektiv beweispflichtig sei; dazu gehöre allgemein für die Feststellung der vorübergehenden Invalidität, dass die Arbeitsfähigkeit herabgesunken sei. Laut den erstgerichtlichen Feststellungen liege hinsichtlich der Frage, ob im Zeitpunkt des Eintrittes des Klägers ins Erwerbsleben im Dezember 2003 Arbeitsfähigkeit bestanden habe, ein nonliquet vor. Aufgrund der Beweislast des Klägers sei somit zu fingieren, dass er beim Eintritt ins Erwerbsleben bereits arbeitsunfähig gewesen sei. Das Herabsinken müsse im Hinblick auf die Arbeitsfähigkeit wesentlich sein. Das bedeute, dass ein weiteres Herabsinken der Erwerbsfähigkeit nach Eintritt ins Erwerbsleben irrelevant sei, wenn beim Eintritt ins Erwerbsleben bereits Invalidität bestanden habe. So habe das Oberlandesgericht Innsbruck zu 25 Rs 51/02i entschieden, dass kein Herabsinken vorliege, wenn eine vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließende Krankenstandsprognose von 7 Wochen ins Erwerbsleben eingebracht worden sei und sich diese Krankenstandsprognose nochmals verdoppelt habe. Deshalb helfe es dem Kläger nicht, dass das Erstgericht festgestellt habe, dass eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes und ein Herabsinken der Arbeitsfähigkeit des Klägers eingetreten sei. Es sei somit davon auszugehen, dass keine Konstellation vorliege, wo der Versicherte im Sinn des § 255 Abs 3 ASVG nicht mehr imstande sei, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet werde, und die ihm zugemutet werden könne, wenigstens die Hälfte des Entgelts zu erwerben, das ein körperlich und geistig Gesunder regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflege. Vielmehr sei davon auszugehen, dass der Kläger schon immer dazu außerstande gewesen sei. Die Voraussetzung für die Ausnahme vom Herabsinken gemäß § 255 Abs 7 ASVG zugunsten des Klägers sei nicht erfüllt, weil dieser nur über 63 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit verfüge. Demzufolge liege weder vorübergehende noch dauernde Invalidität vor, sodass das Erstgericht auch das Klagebegehren auf Feststellung vorübergehender Invalidität bei Rehabilitationsgeld hätte abweisen müssen.
2. Diesem Rechtsstandpunkt der Beklagten wird nicht beigetreten.
2.1. Nach ständiger Rechtsprechung gehört zum Begriff der Versicherungsfälle der geminderten Arbeitsfähigkeit auch die Voraussetzung, dass sich der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten nach dem Beginn der Erwerbstätigkeit in einem für die Arbeitsfähigkeit wesentlichen Ausmaß verschlechtert hat (RS0085107; Sonntag in Sonntag, ASVG 15 § 255 Rz 184). Ein bereits vor Beginn der Erwerbstätigkeit eingetretener und damit in das Versicherungsverhältnis eingebrachter, im Wesentlichen unveränderter körperlicher oder geistiger Zustand kann daher nicht zum Eintritt des Versicherungsfalls der geminderten Arbeitsfähigkeit führen. Wer trotz bestehender Behinderung, die ihn vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließen würde, Versicherungszeiten erwirbt, kann sich nach Erreichung der allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen für eine Invaliditätspension oder Berufsunfähigkeitspension nicht darauf berufen, dass er ohne Änderung seines körperlichen oder geistigen Zustandes nunmehr berufsunfähig sei ( SonntagaaO). Der bloße Erwerb von Versicherungszeiten hat noch nicht zwingend das Vorliegen einer Arbeitsfähigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zur Voraussetzung, weil eine Tätigkeit von Anfang an auf Kosten der Gesundheit des Versicherten oder nur mit besonderem Entgegenkommen des Dienstgebers verrichtet werden kann (RS0084829; Sonntag aaO).
2.2. Zu den rechtsbegründenden Tatsachen, für die der Versicherte (objektiv) beweispflichtig ist, gehört ganz allgemein für die Versicherungsfälle der geminderten Arbeitsfähigkeit, dass die Arbeitsfähigkeit herabgesunken ist ( Sonntag aaO Rz 185; 10 ObS 168/02g ua).
2.3. Ausgehend von der dargestellten Rechtslage trifft den Kläger im gegenständlichen Verfahren somit die Beweislast dafür, dass seine Arbeitsfähigkeit seit Beginn seiner Erwerbstätigkeit herabgesunken ist. Im Hinblick auf die positive Feststellung des Erstgerichts, dass seither (gemeint seit dem Zeitpunkt des Eintritts des Klägers in das Erwerbsleben) eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes und ein Herabsinken der Arbeitsfähigkeit eingetreten ist, ist dem Kläger der Beweis für diese rechtsbegründende Tatsache gelungen.
2.4. Soweit die Berufungswerberin mit einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Innsbruck aus dem Jahr 2002 argumentiert, ist ihr zu entgegnen, dass dieser Entscheidung - ausgehend von dem von der Beklagten diesbezüglich referierten Sachverhalt - eine nicht vergleichbare Sachlage zugrunde gelegen ist.
So gab es laut den Ausführungen der Berufungswerberin in dem vom Oberlandesgericht Innsbruck zu beurteilenden Fall im Zeitpunkt des Eintritts in das Erwerbsleben der dort klagenden Partei die positive Feststellung, dass eine vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließende Krankenstandsprognose von 7 Wochen bereits vorlag, somit ins Erwerbsleben eingebracht worden war.
Im gegenständlichen Fall hingegen gibt es keine vergleichbare positive Feststellung. Vielmehr traf das Erstgericht die Negativfeststellung, dass nicht festgestellt werden kann, dass der Kläger bereits zum Zeitpunkt des Eintrittes ins Erwerbsleben im Dezember 2003 arbeitsunfähig oder sonst in seiner Arbeitsfähigkeit eingeschränkt war. Darüber hinaus traf das Erstgericht - im deutlichen Unterschied zu der vom Oberlandesgericht Innsbruck laut den Ausführungen der Berufungswerberin behandelten Fall - die positive Feststellung, dass der Kläger während seiner Lehr und Beschäftigungszeit bei der Fa. C* unter anderem vom 1.12.2003 bis 11.10.2006 und vom 2.6.2008 bis 30.11.2008 (als Produktionstechniker Lehrling) sowie vom 1.12.2008 bis 23.7.2009 (als Produktionstechniker) keine längeren Krankenstände hatte.
Der unberechtigten Berufung der Beklagten war daher spruchgemäß nicht Folge zu geben.
Eine Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens konnte entfallen, weil die Beklagte zu Recht keine Kosten verzeichnet und der Kläger sich am Berufungsverfahren nicht beteiligt hat.
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig, weil eine erhebliche Rechtsfrage im Sinn der §§ 2 Abs 1 ASGG, 502 Abs 1 ZPO nicht zu beantworten war.