12Rs60/25t – OLG Linz Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Linz hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Barbara Jäger als Vorsitzende, Mag. Nikolaus Steininger, LL.M. und Dr. Dieter Weiß als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Helmut Mitter, BSc (Kreis der Arbeitgeber) und Gerhard Knoll (Kreis der Arbeitnehmer) in den verbundenen Sozialrechtssachen der klagenden Partei A* , geboren am **, **, **straße **, vertreten durch Mag. Peter Breiteneder, Rechtsanwalt in Linz, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt , 1100 Wien, Vienna Twin Towers, Wienerbergstraße 11, vertreten durch deren Angestellten Mag. B*, Landesstelle **, sowie die Nebenintervenientin auf Seiten der beklagten Partei C* D* GmbH , FN **, **, **-Straße **, vertreten durch Mag. Wolfgang Kempf, Rechtsanwalt in Linz, wegen Versehrtenrente (Cgs1*) und Integritätsabgeltung (Cgs2*), über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 31. Jänner 2025, Cgs1*-37, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird nicht Folge gegeben. Das angefochtene Urteil wird mit der Maßgabe bestätigt, dass es insgesamt zu lauten hat:
„ Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei ab 1. Mai 2023 eine 45 % der Vollrente übersteigende Versehrtenrente zu bezahlen, wird abgewiesen.
Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei eine Integritätsabgeltung im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, wird abgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei ab 1. Mai 2023 eine Dauerrente von 45 % der Vollrente in Höhe von monatlich EUR 1.081,56 unter Anrechnung des bisher Geleisteten zu bezahlen.
Die klagende Partei hat die Kosten des Verfahrens selbst zu tragen. “
Die klagende Partei hat die Kosten des Berufungsverfahrens selbst zu tragen.
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 21. Mai 2021 zog sich der Kläger bei einem Arbeitsunfall, als er von einem Hebearm eingequetscht wurde, schwere Verletzungen zu. Unter anderem erlitt er mehrere Knochenbrüche, einen Hämatopneumothorax rechts, eine Bauchprellung, eine sensorineurale Innenohrschwerhörigkeit beidseits sowie eine schwere posttraumatische Belastungsstörung.
Der Kläger bezog zunächst eine vorläufige Versehrtenrente im Umfang von 100 % und daran anschließend von 80 % der Vollrente.
Mit Bescheid vom 22. März 2023 stellte die Beklagte ab 1. Mai 2023 eine Dauerrente von 45 % der Vollrente fest und sprach aus, dass mangels Schwerversehrtheit kein Anspruch mehr auf eine Zusatzrente und einen Kinderzuschuss bestehe.
Mit Bescheid vom 31. März 2023 lehnte die Beklagte die Zuerkennung einer Integritätsabgeltung wegen der Folgen des Arbeitsunfalls ab.
Gegen diese beiden Bescheide richten sich die jeweils rechtzeitigen Klagen mit den Begehren auf Gewährung einer (höheren) Versehrtenrente ab 1. Mai 2022 sowie einer Integritätsabgeltung jeweils im gesetzlichen Ausmaß. Der Kläger sei arbeitsunfähig und die Minderung der Erwerbsfähigkeit übersteige jedenfalls 45 %. Der Unfall beruhe auf bedingt vorsätzlicher bzw grob fahrlässiger Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften durch den Arbeitgeber bzw einem dem Arbeitgeber zuzurechnenden Aufseher und daher stehe dem Kläger eine Integritätsabgeltung zu.
Die Beklagte bestritt, beantragte Klagsabweisung und brachte vor, dass beim Kläger von einer Minderung der Erwerbsfähigkeit iHv 45 % auszugehen sei. Für die Zuerkennung einer Integritätsabgeltung mangle es bereits an der notwendigen Höhe des Integritätsschadens und es liege auch keine grob fahrlässige Außerachtlassung von Arbeitnehmerschutzvorschriften vor. Der Kläger habe den Unfall selbst verschuldet.
Die Nebenintervenientin schloss sich im Wesentlichen dem Vorbringen der Beklagten an.
Mit dem angefochtenen Urteil erkannte das Erstgericht die Beklagte für schuldig, dem Kläger ab 1. Mai 2023 eine Versehrtenrente im Ausmaß von 45 % der Vollrente im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren und wies das darüber hinausgehende Mehrbegehren sowie das Begehren auf Gewährung einer Integritätsabgeltung ab. Seiner Entscheidung legte es folgenden (zusammengefassten) Sachverhalt zugrunde, wobei die bekämpften Feststellungen kursiv dargestellt werden:
Beim Kläger ergibt sich aus unfallchirurgischer Sicht eine MdE von 5 %, aus lungenfachärztlicher Sicht von 15 %, wobei sich 5 % der MdE der beiden Fachgebiete überschneiden, sowie aus neurologischer Sicht von 10 %. Durch eine Sexualfunktionsstörung liegt beim Kläger eine MdE iHv 10 % vor.
In psychiatrischer Hinsicht besteht beim Kläger eine MdE von 10 % aufgrund einer depressiven Anpassungsstörung. Die beim Kläger diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung ist großteils remittiert bzw in eine Anpassungsstörung übergegangen.
Der Kläger stellte nach dem Unfall Anträge auf Pflegegeld und Pensionierung. Diese Anträge wurden abgelehnt. Durch die Kürzung der Unfallrente sowie der Ablehnung seiner Ansuchen fühlte sich der Kläger gekränkt. Der Kläger war der Ansicht, dass ihm die beanspruchten Leistungen zustehen. Er fühlte sich daher ungerecht behandelt. Aufgrund dieser Kränkung stellte sich beim Kläger eine Somatisierungsstörung ein, die mit Klagsamkeit, Körperbezogenheit, rascher Erschöpfbarkeit und mangelnder Innovationsbereitschaft einhergeht.
Diese Somatisierungsstörung entwickelte sich erst aufgrund des weiteren Verfahrens über die dem Kläger zustehenden Sozialleistungen. Diese Somatisierungsstörung steht bei den seelischen Leiden des Klägers im Vordergrund.
Insgesamt beträgt die unfallkausale Minderung der Erwerbsfähigkeit sowie der unfallkausale Integritätsschaden 45 %.
Durch die Einrechnung der Somatisierungsstörung würde sich die Minderung der Erwerbsfähigkeit sowie der Integritätsschaden um 10 % (sohin auf insgesamt 55 %) erhöhen.
In rechtlicher Hinsicht kam das Erstgericht zum Ergebnis, dass mittelbare Folgen eines Arbeitsunfalls dann vom Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung umfasst seien, wenn der Arbeitsunfall dafür wesentliche Bedingung gewesen sei. Die Somatisierungsstörung des Klägers sei Folge einer Kränkung; der Kläger sei in seiner eigenen und nicht gerechtfertigten Erwartungshaltung hinsichtlich ihm zustehender Sozialleistungen enttäuscht worden. Wesentliche Umstände für den Eintritt der Somatisierungsstörung seien daher einzig auf der Seite des Klägers einzuordnen. Dieser Kränkung könne nicht der erforderliche Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall unterstellt werden. Die Somatisierungsstörung sei daher weder bei der Ermittlung der Minderung der Erwerbsfähigkeit noch bei der Ermittlung des Integritätsschadens zu berücksichtigen. Sowohl die Minderung der Erwerbsfähigkeit als auch der Integritätsschaden seien mit 45 % zu bewerten, sodass auf die Frage einer grob fahrlässigen Verletzung von Arbeitnehmerschutzvorschriften nicht mehr einzugehen sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers aus den Berufungsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens, der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung sowie der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Klagsstattgabe; hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.
Die Beklagte und die Nebenintervenientin auf Beklagtenseite beantragen in ihren Berufungsbeantwortungen, der Berufung nicht Folge zu geben.
Die gemäß § 480 Abs 1 ZPO in nichtöffentlicher Sitzung zu behandelnde Berufung ist nicht berechtigt .
Rechtliche Beurteilung
1 Als Mangelhaftigkeit des Verfahrens rügt der Kläger die unterlassene Gutachtenserörterung mit dem neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen. Der Verfahrensfehler sei wesentlich, weil sich bei einer mündlichen Erörterung des Gutachtens ergeben hätte, dass der psychische Schaden insgesamt 20 % betrage.
Davon ist aber das Erstgericht auf Basis des eingeholten neurologisch psychiatrischen Sachverständigengutachtens (ON 10.2) samt schriftlicher Gutachtensergänzung (ON 33.2) ohnehin ausgegangen. Die erstgerichtlichen Feststellungen, dass in psychiatrischer Hinsicht aufgrund einer depressiven Anpassungsstörung eine MdE von 10 % bestehe und sich durch die Einrechnung der Somatisierungsstörung die Minderung der Erwerbsfähigkeit um 10 % (sohin auf insgesamt 55 %) erhöhen würde, können nur dahingehend verstanden werden, dass beiden Krankheitsbildern jeweils eine MdE von 10 % (also gesamt 20 %) zuzuschreiben ist, sodass aus gesamtheitlicher medizinischer Sicht die Minderung der Erwerbsfähigkeit 55 % beträgt.
2.1 Darauf zielt auch die Beweisrüge ab, wenn sie die unter Punkt 1 angeführten Feststellungen bekämpft und ersatzweise davon ausgeht, dass in psychiatrischer Hinsicht beim Kläger eine MdE von 20% aufgrund einer depressiven Anpassungsstörung bzw einer Somatisierungsstörung bestehe, weshalb sowohl die Minderung der Erwerbsfähigkeit als auch der Integritätsschaden 55 % betrage.
2.2 Der Kläger bekämpft zwar formal die Feststellung, dass sich die Somatisierungsstörung aufgrund des Verfahrens über die dem Kläger zustehenden Sozialleistungen wegen des Arbeitsunfalls entwickelte, strebt in Wahrheit aber lediglich die ergänzende Feststellung an, dass der Arbeitsunfall wesentliche Bedingung für die diagnostizierte Somatisierungsstörung ist, was aber eine Rechts- und keine Tatfrage darstellt (vgl Müller in SV-Komm Vor §§ 174-177 ASVG [315. Lfg] Rz 40); ebenso die Höhe des Integritätsschadens.
3 Die Leistungen der Unfallversicherung beziehen sich auf Personenschäden, die durch das versicherte Ereignis verursacht werden ( Tarmann-Prentner in Sonntag , ASVG 16 § 175 Rz 5), wobei auch psychisch bedingte Gesundheitsstörungen, die im Anschluss an einen Unfall auftreten, Unfallfolgen im Rechtssinn sein können (RIS-Justiz RS0083979).
3.1 Die Berufung geht davon aus, dass der Kläger an einer Somatisierungsstörung nicht erkrankt wäre, wenn er keinen Arbeitsunfall erlitten hätte, und daher sei die „natürliche“ Kausalität gegeben; die Somatisierungsstörung sei eine adäquate Folge des Arbeitsunfalls.
3.2 In Anlehnung an die Adäquanztheorie werden aber in der Unfallversicherung insoweit weitergehendere Anforderungen an den ursächlichen Zusammenhang gestellt, als eine wesentliche Mitwirkung gefordert wird. Nicht jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele, ist ursächlich, sondern nur diejenige, die im Verhältnis zu anderen nach der Auffassung des praktischen Lebens wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (Theorie der "wesentlichen Bedingung"; RIS-Justiz RS0084290).
3.3 Bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs psychogener Beschwerden mit einem Arbeitsunfall ist ein strenger Maßstab anzulegen. Ein rechtlich relevanter Zusammenhang ist dann zu verneinen, wenn die Störung als psychische Reaktion wesentlich die Folge wunschbedingter Vorstellungen ist, die mit der Tatsache des Versichertseins oder mit persönlichen Lebenskonflikten in Zusammenhang stehen (OGH 10 ObS 78/11k [Pkt 4.1]).
3.4 Genau dies ist aber beim Kläger der Fall. Nach den erstgerichtlichen Feststellungen wurden die vom Kläger nach dem Unfall gestellten Anträge auf Pflegegeld und Pensionierung abgelehnt. Durch die Kürzung der Unfallrente sowie der Ablehnung seiner Ansuchen fühlte sich der Kläger gekränkt. Er war der Ansicht, dass ihm die beanspruchten Leistungen zustehen und fühlte sich daher ungerecht behandelt. Aufgrund dieser Kränkung stellte sich beim Kläger die gegenständliche Somatisierungsstörung ein. Diese Somatisierungsstörung ist damit aber nicht auf den Arbeitsunfall zurückzuführen, sondern ausschließlich auf die Kränkung des Klägers, sodass diese als rechtlich allein wesentliche Ursache anzusehen ist.
3.5 Da die Somatisierungsstörung somit nicht als Folge des Arbeitsunfalls aufgetreten ist, ist sie weder bei der Ermittlung der Minderung der Erwerbsfähigkeit noch bei der Ermittlung des Integritätsschadens zu berücksichtigen. Die in der Beweisrüge aufgeworfene Frage der Gleichwertigkeit der psychischen Erkrankungen des Klägers ist damit nicht von Relevanz. Darauf, ob die Somatisierungsstörung tatsächlich eine schwere seelische Störung iSd § 2 Abs 1 Z 4 IntegrRL AUVA darstellt, und damit die Minderung der Erwerbsfähigkeit bei der Ermittlung des Integritätsschadens um 10 vH zu erhöhen ist, braucht ebenfalls nicht eingegangen zu werden.
4 Der Berufung war daher keine Folge zu geben.
5 Durch die Klageerhebung tritt der Bescheid hinsichtlich des von der Klage betroffenen Anspruchs zur Gänze außer Kraft. Wurde durch den Bescheid eine Leistung zuerkannt, so ist diese im Urteil zuzusprechen (RIS-Justiz RS0085721). Betreffend den Dauerrentenanspruch des Klägers traf das Erstgericht zwar ein Grundurteil, doch sprach die Beklagte im bekämpften Bescheid auch über die Höhe der Rente ab. Diese war im Verfahren nicht strittig, sodass auch in diesem Punkt der Bescheid zu wiederholen ist, was in Form einer Maßgabebestätigung zu erfolgen hat.
6 Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Umstände für einen Kostenersatz nach Billigkeit trotz vollständigen Unterliegens wurden vom Kläger weder dargelegt noch ergeben sich diese aus der Aktenlage; insbesondere haben im Verfahren weder tatsächliche noch rechtliche Schwierigkeiten bestanden. Die Nebenintervenientin auf Beklagtenseite hat keine Kosten verzeichnet.
7 Die ordentliche Revision gemäß § 502 Abs 1 ZPO ist nicht zulässig, da zur Lösung der Rechtsfragen auf oberstgerichtliche Rechtsprechung zurückgegriffen werden konnte.