8Bs68/25v – OLG Linz Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Linz hat durch die Richterinnen Mag. Reinberg als Vorsitzende und Mag. Haidvogl, BEd, sowie den Richter Mag. Grosser in der Übergabesache A* über die Beschwerde des A* gegen den Beschluss des Landesgerichtes Salzburg vom 3. April 2025, HR*-44, in nichtöffentlicher Sitzung entschieden:
Spruch
Der Beschwerde wird nicht Folge gegeben.
Die über A*, geboren am ** in **, Südafrika, verhängte Übergabehaft wird aus den Haftgründen der Flucht- und der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 1 und Abs 2 Z 1 und Z 3 lit a und b StPO iVm Art 596ff EU-UK Abkommen, §§ 17 und 18 EU-JZG, 1ff INÜG (analog) fortgesetzt.
Dieser Beschluss ist durch keine Haftfrist mehr begrenzt.
Text
Begründung:
Aufgrund des Haftbefehls des Guildford Magistrates Court vom 15. Jänner 2024 (dem wiederum ein Haftbefehl des Amtsgerichts South West Surrey Magistrates Court vom 6. September 2023 zugrundeliegt) behängt zu HSt* bei der Staatsanwaltschaft Salzburg seit 19. Februar 2025 ein Übergabeverfahren an das Vereinigte Königreich zur Strafverfolgung gegen den irischen Staatsangehörigen A*.
Im Rahmen der Übergabeverhandlung vom 3. April 2025 wurde die Übergabe des A* an das Vereinigte Königreich in Vollstreckung des aktualisierten Haftbefehls unter Vorbehalt der Spezialität angeordnet, wobei die Entscheidung noch nicht in Rechtskraft erwachsen ist.
Inhaltlich des Haftbefehls des Guildford Magistrates Court vom 15. Januar 2025 steht A* in Verdacht, im Zeitraum 2012 bis 2017 schwere Sexualstraftaten an zwei Kindern, „B*“ und „C*“, begangen zu haben. Konkret wird A* zur Last gelegt, er habe
1. zwischen dem 1. Jänner 2012 und dem 28. Oktober 2015 versucht, „B*“, ein Kind unter 13 Jahren, in der D* zu vergewaltigen;
2. zwischen dem 5. April 2017 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren“, vergewaltigt, indem er seinen Penis in ihren Anus einführte;
3. zwischen dem 1. Jänner 2012 und dem 28. Oktober 2015 „B*“, ein Kind unter 13 Jahren, sexuell durch Berühren ihrer Vagina genötigt (Vorfall mit rotem Rock in der D*);
4. zwischen dem 1. Jänner 2012 und dem 28. Oktober 2015 „B*“, ein Kind unter 13 Jahren, sexuell durch Eindringen in ihre Vagina mit seinen Fingern in der D* genötigt;
5. zwischen dem 1. Jänner 2012 und dem 28. Oktober 2015 in der D* die Vagina von „B*“, einem Kind unter 13 Jahren, vorsätzlich mit seiner Zunge penetriert;
6. zwischen dem 1. Jänner 2012 und dem 28. Oktober 2015 „B*“, ein Kind unter 13 Jahren, in der D* dazu angestiftet, seinen Penis zu berühren;
7. zwischen dem 1. Jänner 2012 und dem 28. Oktober 2015 „B*“, ein Kind unter 13 Jahren, veranlasst, ihn in der D* per Videoanruf bei der Masturbation seines erigierten Penis zu beobachten;
8. zwischen dem 29. Oktober 2015 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, in der E* vergewaltigt, während sie auf seinem Schoß saß;
9. zwischen dem 29. Oktober 2015 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, in der E* vergewaltigt, indem er ihr erstmalig seinen Penis in den Mund steckte;
10. zwischen dem 29. Oktober 2015 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, in der E* vergewaltigt, indem er – abgesehen des Pkt I) – seinen Penis bei mindestens zwei Gelegenheiten in ihren Mund steckte;
11. zwischen dem 29. Oktober 2015 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, in der E* veranlasst, pornographisches Material anzusehen und ihr seinen Penis gezeigt;
12. zwischen dem 29. Oktober 2015 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, in der E* zu sexuellen Handlungen veranlasst, indem er ihre Vagina leckte;
13. zwischen dem 5. April 2017 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, angegriffen, indem er mit seinen Fingern in ihre Vagina eindrang;
14. zwischen dem 29. Oktober 2015 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, in der E* vergewaltigt, indem er seinen Penis in ihren Anus einführte;
15. zwischen dem 31. Jänner 2017 und dem 13. Februar 2017 als Person über 18 Jahren versucht, „C*“, ein Kind im Alter von 15 Jahren, vorsätzlich zu sexuellen Handlungen anzustiften, nämlich unsittliche Bilder bereitzustellen;
16. zwischen dem 29. Oktober 2015 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, zu einer sexuellen Handlung veranlasst, indem er sie veranlasste, seinen Penis in der E* zu berühren;
17. zwischen dem 5. April 2017 und dem 10. April 2017 sexuelle Handlungen mit „B*“, einem 14-jährigen Kind, vorgenommen, indem er ihre Brüste berührte;
18. zwischen dem 5. April 2017 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, vergewaltigt, indem er seinen Penis in ihren Mund steckte;
19. zwischen dem 29. Jänner 2017 und dem 4. April 2017 vorsätzlich eine Handlung mit der 15-jährigen „C*“ organisiert, welche die Begehung einer Straftat nach einem der mit der Section 9 bis 13 des Sexual Offences Act 2003 (= britisches Sexualstraftatengesetz) zur Folge haben würde, nämlich die Vornahme sexueller Handlungen mit einem Kind;
20. zwischen dem 29. Jänner 2017 und dem 4. April 2017 acht unsittliche Bilder von Kindern der Kategorie C angefertigt sowie
21. zwischen dem 5. April 2017 und dem 10. April 2017 „B*“, ein Kind unter 14 Jahren, vergewaltigt, indem er seinen Penis in ihre Vagina einführte.
Aufgrund des genannten Sachverhalts wird in Großbritannien ein Ermittlungsverfahren gegen A* wegen
1. der Straftaten der Vergewaltigung nach Section 1 des Sexual Offences Act 2003 (britisches Sexualstraftatengesetz von 2003),
2. der Straftat der versuchten Vergewaltigung nach dem britischen Criminal Attempts Act 1981 (britisches Gesetz gegen versuchte Straftaten von 1981),
3. der Straftat des Übergriffes durch Penetration nach Section 2 des Sexual Offences Act 2003,
4. den Straftaten des Übergriffes auf ein Kind unter 13 Jahren durch Penetration nach Section 6 des Sexual Offences Act 2003,
5. der Straftat des sexuellen Übergriffes auf ein Kind unter 13 Jahren durch Berühren nach Section 7 des Sexual Offences Act 2003,
6. der Straftat der Anstiftung eines Kindes unter 13 Jahren zu sexuellen Handlungen nach Section 8 des Sexual Offences Act 2003,
7. der Straftaten der Vornahme sexueller Handlungen mit einem Kind nach Section 9 des Sexual Offences Act 2003,
8. der Straftaten der Anstiftung eines Kindes zu sexuellen Handlungen nach Section 10 des Sexual Offences Act 2003,
9. der Straftaten der Veranlassung eines Kindes zum Zusehen bei einer sexuellen Handlung nach Section 12 des Sexual Offences Act 2003,
10. der Straftat der Veranlassung einer sexuellen Handlung an einem Kind mit Penetration nach Section 14 des Sexual Offences Act 2003 sowie
11. der Straftat der Anfertigung von unsittlichen Fotos von Kindern der Kategorie C nach Section 1 (1) (a) und Section 6 des Protection of Children Act 1978 (britisches Kinderschutzgesetz von 1978)
geführt.
Die Höchststrafe beträgt zu 1. bis 5. lebenslängliche Freiheitsstrafe, die Obergrenzen der angedrohten (zeitlichen) Freiheitsstrafen betragen hinsichtlich 6. bis 8. sowie 10. vierzehn Jahre und bezüglich 9. und 11. zehn Jahre.
Mit dem angefochtenen Beschluss wurde die (erstmals mit Beschluss vom 20. Februar 2025) verhängte Übergabehaft (abermals) fortgesetzt, wogegen A* am 4. April 2025 Beschwerde mit den Argumenten erhebt, dass er die Tatvorwürfe bestreite. Zudem liege keine Tatbegehungsgefahr vor, weil sich der Beschwerdeführer in Österreich seit 2017 wohlverhalten habe, er nicht sexuell deviant sei und falsch beschuldigt werde. Zudem bestehe keine Fluchtgefahr, weil seit 2017 in Österreich beruflich und familiär integriert; so sei er weder aus England nach Österreich geflohen, noch vor einer beabsichtigten Anstellung in einer Kinderskischule in F* untergetaucht. Daher werde beantragt, die Übergabehaft aufzuheben; allenfalls gegen gelindere Mittel, wie Abgabe des Reisepasses oder eine Verpflichtung zur regelmäßigen Meldung bei der Kriminalpolizei.
Die Beschwerde ist nicht berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Auf den Auslieferungsverkehr mit dem Vereinigten Königreich ist, so das Erstgericht, zutreffend das Handels- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich, ABI L 444/14 vom 31. Dezember 2020, mit neuer Artikelzählung veröffentlicht in ABI L 149/10 vom 30. April 2021 (hier „EU-UK Abkommen“) unmittelbar anwendbar. Subsidiär sind – aufgrund analoger Anwendung des Island-Norwegen Übereinkommens (INÜG) – die Bestimmungen des EU-JZG und gegebenenfalls des ARHG anzuwenden.
Ebenso ist dem Erstgericht zuzustimmen, dass der hinreichende Tatverdacht (und seine rechtliche Einordnung in die dort angeführten „gelisteten“ Sexualdeliktskategorien) ungeachtet der vom Beschwerdeführer bestrittenen Tatvorwürfe, die in merito im Inlandsverfahren des ersuchenden Staates zu prüfen sein werden, unbedenklich auf die schlüssigen Angaben des Haftbefehls zu stützen sind; davon abgesehen ist (beiderseitige) Strafbarkeit nicht zu prüfen.
Der Haftgrund der Fluchtgefahr nach den §§ 17, 18 EU-JZG, 173 Abs 1 und Abs 2 Z 1 StPO ist schon angesichts der im Falle eines Schuldspruchs zu erwartenden Freiheitsstrafe im Sinne eines hohen Fluchtanreizes zu bejahen, zumal der Haftgrund im vorliegenden Kontext nicht bezogen auf den durchgehenden und mehrjährigen Aufenthalt in Österreich, sondern vielmehr sein Untertauchen und Sich-Verbergen vor der britischen Strafverfolgung zu verstehen ist, weil der Beschwerdeführer nach den ebenfalls unbedenklichen Angaben im angeführten Haftbefehl (ohne berechtigten Zweifel bewusst) nach Anzeigeerstattung, einer Beschuldigtenvernehmung, jedoch unmittelbar vor seiner intendierten Festnahme am 10. April 2017 aus England geflogen ist, und sich dann auch nicht mehr zu seiner damaligen Anstellung in einer Kinderskischule in F* eingefunden hat; welche Umstände in einer Gesamtschau keinen vernünftigen Zweifel offen lassen, dass er sich damit - immerhin über Jahre auch erfolgreich - dem anhängigen Strafverfahren wegen schwerwiegender Tatvorwürfe entzogen hat. Ob er wie angegeben (ON 8.1,4) einmal vorsichtshalber „wegen seines Reisepasses“ nachfragte, ob offene Fahndungen bestünden, vermag daran nichts zu ändern. Dieser Gefahr (auf freiem Fuß) lässt sich durch Abgabe eines Reisepasses denklogisch nicht ohne Weiteres begegnen.
Tatbegehungsgefahr gemäß § 173 Abs 1 und Abs 2 Z 3 lit a und b StPO liegt ebenfalls vor, weil dem Beschwerdeführer die Begehung äußerst gravierender Sexualstraftaten mit teilweiser Androhung bis zu lebenslanger Freiheitsstrafe; überdies zum Nachteil zweier verschiedener Opfer und über einen Tatzeitraum von mehr als fünf Jahren vorgeworfen werden, sodass aufgrund dieser außerordentlichen Tatschwere derart massive Persönlichkeitsdefizite anzunehmen ist, dass trotz des verstrichenen Zeitraums im Einklang mit den Ausführungen des Erstgerichts begründet zu befürchten ist, dass der Betroffene auf freiem Fuß und ungeachtet des anhängigen Übergabeverfahrens bzw des gegen ihn im Vereinigten Königreich geführten Strafverfahrens abermals Sexualstraftaten mit schweren bzw nicht bloß leichten Folgen begehen werde, zumal die Begehung solcher Taten gegen die sexuelle Integrität Unmündiger auch in Österreich besonders schwer wiegt und überdies bei langem Tatzeitraum eine äußerst ungünstige Prognose mit sich bringt. Gelindere Mittel bieten sich bei dieser negativen Kriminalprognose auch hiezu nicht an.
Insofern steht die Fortsetzung der Übergabehaft angesichts einer im Falle des Schuldspruchs im Vereinigten Königreich drohenden Sanktion nicht außer Verhältnis.
Einwände insbesondere im Sinne der nach Art 3 und 8 EMRK eingeräumten Garantien wurden ohnedies nicht im Rahmen der Haftbeschwerde releviert; diese sind gegebenfalls im Rahmen der Frage der Zulässigkeit der Übergabe zu behandeln.
Bleibt anzumerken, dass aufgrund der nicht rechtskräftigen Anordnung der Übergabe des Beschwerdeführers an das Vereinigte Königreich die Entscheidung der Übergabehaft durch keine Frist mehr begrenzt ist (§ 29 Abs 5 AHRG iVm § 18 Abs 2 EU-JZG, 1ff INÜG analog).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diese Entscheidung steht ein weiterer Rechtszug nicht zu.