11Bs95/25w – OLG Innsbruck Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Innsbruck hat durch die Richterinnen Mag. a Hagen als Vorsitzende sowie Dr. in Offer und Mag. a Obwieser als weitere Mitglieder des Senats in der Strafsache gegen A* B*wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB idF BGBl I Nr 130/2001 und weiterer strafbarer Handlungen über die Beschwerde des Genannten gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch vom 9.4.2024, GZ **-112, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen:
Spruch
Der Beschwerde wird F o l g e gegeben, der angefochtene Beschluss aufgehobenund der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verhängung der Untersuchungshaft über A* B* aus dem Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 StPO abgewiesen .
Gegen diese Entscheidung steht ein weiterer Rechtszug nichtzu (§ 89 Abs 6 StPO).
Text
Begründung:
Mit - nicht rechtskräftigem - Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Schöffengericht vom 2.4.2025, AZ **, wurde A* B* zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt.
Dagegen meldete der Angeklagte sogleich nach Verkündung des Urteils am 2.4.2025 und „vorsorglich“ noch schriftlich am 3.4.2025 Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung wegen der Aussprüche über die Strafe und die privatrechtlichen Ansprüche an (ON 93); die öffentliche Anklägerin meldete am 3.4.2025 Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe zum Nachteil des Angeklagten an (ON 94). Am selben Tag beantragte sie mit gesonderter Eingabe die Erlassung einer Festnahmeanordnung wegen Fluchtgefahr nach § 170 Abs 1 Z 2 StPO sowie die Verhängung der Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 StPO, da in Anbetracht der empfindlichen Freiheitsstrafe, des Alters des Angeklagten von 76 Jahren und des Umstandes, dass eine Tochter eine Wohnung in ** habe, eine Flucht dorthin naheliegend sei (ON 95).
Am 4.4.2025 erließ die Vorsitzende des Schöffensenats die beantragte Festnahmeanordnung und verfügte die Fahndung im Inland (ON 95 und 96).
Am 5.4.2025 regte das Landeskriminalamt ** die Erweiterung des Fahndungsbereichs auf SIS und Interpol weltweit aus. Dortigen Recherchen zufolge seien bereits ab dem Zeitpunkt der Urteilsverkündung keine Feststellungen mehr zu Person und Fahrzeug des Angeklagten an dessen Wohnobjekt in ** gemacht worden. Es bestehe daher die Annahme, der Angeklagte habe sich in Begleitung seiner Ehefrau durch Flucht der Strafe entzogen bzw. möchte sich entziehen. Kontakte außerhalb von Österreich, beispielsweise zu einem Campingplatz auf ** sowie Bezugspunkte in **, seien gegeben (ON 98).
Daraufhin erließ der im Journaldienst zuständige Haft- und Rechtschutzrichter am 5.4.2025 über Antrag der Staatsanwaltschaft einen Europäischen Haftbefehl samt Ausweitung der Fahndung auf den SIS-Bereich, die EU-Staaten und alle Drittstaaten weltweit über Interpol (ON 99 und 101).
Die Vorsitzende des Schöffensenats ordnete zudem am 7.4.2025 eine Handypeilung betreffend die vom Angeklagten verwendeten Mobiltelefone sowie des von dessen Ehegattin verwendeten Handys für den Zeitraum 2.4.2025, 19:30 Uhr, bis 23.4.2025, 24:00 Uhr, an (ON 105 und ON 106).
Das Landeskriminalamt D** wurde am 8.4.2025 um 11:03 Uhr von der Festnahmeanordnung des A* B* und der damit in Zusammenhang stehenden Fahndung in Kenntnis gesetzt, worauf die Peilung auf das Handy des Angeklagten durchgeführt wurde. Dieses befand sich zunächst in ** und bewegte sich in Richtung ** und **, weshalb davon ausgegangen wurde, dass sich der Angeklagte auf einem Schiff auf der ** in der ** befinde, was sich bestätigte. Das Ausflugsschiff legte in ** an. Bei der Anlegestelle wurde bereits von mehreren Streifen des LKA ** gehalten. Beim Verlassen des Schiffes wurde der Angeklagte um 13.15 Uhr festgenommen (ON 108.1).
Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss verhängte die Vorsitzende des Schöffensenats die Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 173 Abs 2 Z 1 StPO und sprach zugleich aus, dass der Haftbeschluss gemäß § 175 Abs 5 StPO durch keine Haftfrist mehr begrenzt sei (ON 112). In der Begründung wurde – soweit relevant – Folgendes ausgeführt:
„Der am ** in ** geborene A* B* ist österreichischer Staatsangehöriger und lebt gemeinsam mit seiner Ehegattin C* B* in der Wohnung **. Als pensionierter ** bzw. ** bezieht er eine monatliche Pension in der Höhe von EUR 2.960,--. Zu seinem Vermögen zählt ein PKW der Marke ** (Baujahr 2019). A* B* hat Schulden in der Höhe von circa EUR 20.000,-- (Bankkredit), wobei sich die monatliche Rückzahlungsrate auf EUR 580,-- beläuft.
...
Mit Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Schöffengericht vom 02.04.2025 zu ** – das auch Freisprüche enthält – wurde A* B* [zu 1)] des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB idF BGBl I Nr 130/2001, der Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB, in einem Fall auch nach Abs 3 erster Fall StGB, [zu 2)] der Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB in der Fassung BGBl I Nr 153/1998, der Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB, [zu 3)] des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 1 StGB idF BGBl I Nr 15/2004, [zu 4)] des Verbrechens der geschlechtlichen Nötigung nach § 202 Abs 1 StGB sowie mehrerer Vergehen schuldig erkannt und – soweit hier von Relevanz – in Anwendung des § 28 Abs 1 StGB nach dem ersten Strafsatz des § 206 Abs 3 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von zehn Jahren verurteilt. Laut Urteilstenor hat A* B*
1) mit einer unmündigen Person, nämlich mit seiner am ** geborenen Enkelin D* E*, dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen unternommen, zu c) darüber hinaus eine geschlechtliche Handlung von einer unmündigen Person an sich vornehmen lassen, wobei die Taten eine schwere Körperverletzung, nämlich eine posttraumatische Belastungsstörung mit Depressivität, Angst, Nachhallerinnerungen, sexuellen Funktionsstörungen sowie Schlaf- und vegetativen Störungen (F.43.1) zur Folge hatten, indem er
a) in ** ab einem unbekannten Zeitpunkt im Jahr 2004, jedenfalls aber ab 01.05.2004, bis Sommer 2006 wiederholt den Analverkehr an ihr vollzog;
b) sie in ** im Sommer 2006 auf unbekannte Weise vaginal penetrierte, nachdem sie infolge einer ihr von ihm überreichten und freiwillig eingenommenen Tablette eingeschlafen war bzw. das Bewusstsein verloren hatte;
c) ihr in ** im Sommer 2006 EUR 50,-- für eine Eintrittskarte in einen Vergnügungspark versprach, wenn sie mit ihm in den Wohnwagen geht, sie im Wohnwagen dazu aufforderte, sich zu ihm zu legen, sodann zunächst an ihrer bereits leicht entwickelten Brust saugte, anschließend ihre Klitoris intensiv berührte, danach seinen Mittelfinger ableckte und ihr vaginal einführte und sie schließlich aufforderte seine Hoden zu berühren und zu küssen, was sie auch tat;
2) außer dem Fall des § 206 StGB geschlechtliche Handlungen an unmündigen Personen vorgenommen, zu a) darüber hinaus von einer unmündigen Person an sich vornehmen lassen, indem er
a) in ** im Zeitraum 2002 bis Sommer 2006 seine am ** geborene Enkelin D* E* regelmäßig und in einer Vielzahl von Angriffen im bekleideten und unbekleideten Intimbereich nicht bloß flüchtig streichelte, seinen nackten Penis intensiv zwischen ihren Beinen am nackten Intimbereich oder zwischen ihren Pobacken rieb und sie dazu aufforderte, seinen nackten erigierten Penis samt Hoden zu berühren bzw. seine Hoden zu halten und zu küssen, was sie auch tat;
b) in ** im Juli/August 2010 seine am ** geborene Enkelin F* über dem Bikinioberteil an den bereits entwickelten Brüsten sowie über der Bikinihose an der Vulva nicht bloß flüchtig streichelte;
c) in ** im Sommer 2010 seine am ** geborene Enkelin F* mit einem Seil fesselte und ihr mitteilte, sollte sie sich innerhalb von einer Minute nicht befreien können, dürfe er sie an den Brüsten berühren, sie sodann nach Ablauf der Zeit mit der linken Hand am Arm bzw. an der Hüfte packte und mit der rechten Hand ganz gezielt auf ihre nur mit einem Bikinioberteil bekleidete, bereits entwickelte Brust griff und zudrückte, woraufhin sie laut schrie und er von ihr abließ;
3) durch die zu Punkt 1) b) beschriebene Tathandlung die wehrlose D* E* unter Ausnutzung dieses Zustandes dadurch missbraucht, dass er mit ihr eine dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung vornahm;
4) durch die zu Punkt 2) c) beschriebene Tathandlung außer den Fällen des § 201 StGB F* mit Gewalt zur Duldung einer geschlechtlichen Handlung genötigt;
5) [modifiziert am 31.03.2025];
6) durch die zu Punkt 1) und 2) beschriebenen Tathandlungen im Zeitraum 2002 bis 30.04.2004 unter Ausnutzung seiner Stellung gegenüber einer seiner Aufsicht unterstehenden minderjährigen Person, nämlich seiner am ** geborenen Enkelin D* E*, diese zur Unzucht missbraucht, sowie im Zeitraum 01.05.2004 bis Sommer 2010 mit zwei mit ihm in absteigender Linie verwandten minderjährigen Personen, nämlich seinen am ** und ** geborenen Enkelinnen D* E* und F*, geschlechtliche Handlungen vorgenommen und/oder von ihnen an sich vornehmen lassen;
7) in ** im Sommer 2006 eine pornographische Darstellung einer unmündigen minderjährigen Person hergestellt, und zwar eine Abbildung der Genitalien und der Schamgegend seiner am ** geborenen Enkelin D* E*, welche reißerisch verzerrt, auf sich selbst reduziert und von anderen Lebensäußerungen losgelöst ist und der sexuellen Erregung des Betrachters dient, indem er sie fesselte, ihr die Hose herunterzog und mehrere Fotos von ihr mit Fokus auf den nackten Intimbereich anfertigte;
a) [Faktum 7)];
b) [Freispruch];
c) [Freispruch];
8) in nachgenannten Zeiträumen pornographische Darstellungen unmündiger minderjähriger Personen besessen, nämlich
a) ...
b) in ** und ** im Zeitraum 01.05.2004 bis zum 31.08.2023 zumindest vier Nacktbilder/Dias seiner am ** geborenen Schwägerin G* mit Fokus auf den nackten Intimbereich, welche er vor dem 04.10.1975 hergestellt hatte, vermutlich am 01.01.2008 digitalisierte und auf seinem Laptop ** unter (**) abspeicherte (UID **, Bilder Nummer 21, 24, 27 und 35);
c) in **, ** und ** im Zeitraum 23.08.2006 bis 31.08.2023, indem er ein Lichtbild seiner am ** geborenen bäuchlings auf einem Handtuch liegenden Enkelin F* mit Fokus auf den nackten Intimbereich auf seinen Laptop ** sowie eine Festplatte übertrug und abspeicherte (UID **, Bild Nummer 1; UID **, Bild Nummer 1; UID **, Bild Nummer 25);
d) [Freispruch];
e) [Freispruch];
9) in ** und ** ab einem unbekannten Zeitpunkt vor 2006 bis 30.11.2008 als ** sowie im Zeitraum 01.12.2008 bis 31.08.2023 als ehemaliger ** ihm ausschließlich kraft seines Amtes zugänglich gewordene Geheimnisse offenbart, deren Offenbarung oder Verwertung geeignet ist, ein öffentliches oder ein berechtigtes privates Interesse zu verletzen, indem er als ** sowie ehemaliger ** im Zuge seiner dienstlichen Tätigkeit erlangte, dem Datenschutz unterliegende Lichtbilder ohne Wissen der Angehörigen der ** unter Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art 8 Abs 1 EMRK nachstehenden Personen wiederholt zugänglich machte, indem er
a) die genannten Lichtbilder ab einem unbekannten Zeitpunkt vor 2006 bis 2018 auf seinem Mobiltelefon, seinem Stand-PC oder seinem Laptop seinen Enkeln D* E* (geboren am **), F* (geboren am **), H* B* (geboren am **), I* J* (geboren am **), K* J* (geboren am **), L* J* (geboren am **) sowie seiner Tochter M* J* vorzeigte;
b) zu einem unbekannten Zeitpunkt im Zeitraum Sommer 2006 bis 30.11.2008 seinen Enkeln D* E* (geboren am **) sowie K* J* (geboren am **) in einem Raum in der ** mit einem Beamer auf einer Leinwand eine Powerpoint-Präsentation mit diversen **-Fotos vorzeigte;
c) im Zeitraum 01.12.2008 bis zum 31.08.2023 Fotoabzüge der genannten Lichtbilder offen in der Wohnung in ** herumliegen ließ, sodass insbesondere seine Ehefrau C* B*, aber auch Besucher diese wahrnahmen bzw. wahrnehmen konnten;
10) in ** und ** im Zeitraum 1988 bis 31.08.2023 verbotene Waffen, nämlich zwei Schlagringe, unbefugt besessen;
11) in ** und ** im Zeitraum 2003 bis 31.08.2023 Kriegsmaterial, nämlich zwei MG-Patronengurtkisten mit Patronen Kaliber 7,62x51mm NATO (Vollmantelmunition mit Weichkern sowie jede 5. Patrone auf dem Gurtband mit Leuchtspursatz, sohin 78 Stück) des österreichischen Bundesheeres, unbefugt besessen;
12) in ** 1991/1992 N* E* gefährlich mit dem Tod bedroht, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen, indem er ihr einen Revolver an die Schläfe hielt und fragte „geladen oder nicht?“, sodann lachte und abdrückte.
...
Am 09.04.2025 wurde A* B* von der Vorsitzenden des zuständigen Schöffensenats zur Sache und zum Haftgrund förmlich einvernommen. A* B* machte zwar keine (weiteren) Angaben zur Sache, argumentierte jedoch im Hinblick auf den Haftgrund dahingehend, dass bei ihm keine Fluchtgefahr bestehe. Er habe zwar Bekannte in ** und in **. Seine Flucht habe er aber nicht geplant, zumal ihm diese auch nichts bringen würde, weil er dann nur der „Gejagte“ sei. Vielmehr wolle er die Zeit bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens im Kreise seiner Familie verbringen. Zu den Umständen seiner Festnahme führte A* B* ins Treffen, dass er gemeinsam mit seiner Ehegattin C* B* einen langjährigen Freund besucht habe. Er habe sich die „**-Card“ besorgt, mit der man gewisse Veranstaltungen besuchen könne. Im Zuge einer **-Kreuzfahrt sei er dann von zehn Polizeibeamten festgenommen worden. Mit der Abnahme seiner Reisedokumente erklärte sich A* B* ebenso ausdrücklich einverstanden wie mit der Weisung, sich regelmäßig bei der Polizei oder dem Gericht zu melden und jeden Wechsel des Aufenthalts mit Übernachtung außerhalb des ständigen Wohnsitzes im Vorhinein anzuzeigen. Auf eine Kontaktaufnahme zu D* E*, F*, N* E*, G* und O* lege er keinen Wert. Er habe auch keine Rachegefühle, er sei einfach nur traurig.
In rechtlicher Hinsicht folgt daraus:
1.Gemäß § 173 Abs 1 StPO ist die Verhängung der Untersuchungshaft nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft und nur dann zulässig, wenn der Beschuldigte einer bestimmten Straftat dringend verdächtig, vom Gericht zur Sache und zu den Voraussetzungen der Untersuchungshaft vernommen worden ist und einer der im Abs 2 angeführten Haftgründe vorliegt. Sie darf nicht angeordnet oder fortgesetzt werden, wenn sie zur Bedeutung der Sache oder zu der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis steht oder ihr Zweck durch Anwendung gelinderer Mittel erreicht werden kann.
Gemäß § 173 Abs 2 StPO liegt ein Haftgrund vor, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen die Gefahr besteht, der Beschuldigte werde auf freiem Fuß
(Z 1) wegen Art und Ausmaß der ihm voraussichtlich bevorstehenden Strafe oder aus anderen Gründen flüchten oder sich verborgen halten,
...
2. Der dringende Tatverdacht , der aufgrund des Urteils des Landesgerichts Feldkirch als Schöffengericht vom 02.04.2025 zu ** evident ist, bedingt die Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Fluchtgefahrnach § 173 Abs 1, Abs 2 Z 1 StPO. Obwohl A* B* in Österreich sozial integriert ist, sich dem Verfahren bislang nicht entzogen hat und zu seinen Einvernahmen vor der Polizei und zur Hauptverhandlung erschienen ist, erfordert die nunmehr geänderte Situation infolge des (nicht rechtskräftigen) Schuldspruchs und einer (nicht rechtskräftig) ausgesprochenen Freiheitsstrafe in der Dauer von zehn Jahren die Anordnung der Festnahme des Angeklagten aus dem Haftgrund der Fluchtgefahr, weil die ausgesprochene Freiheitsstrafe einen massiven Fluchtanreiz darstellt (vgl RIS-Justiz RS0108401 [T5]; 14 Os 108/03; 13 Os 130/01). Nicht unberücksichtigt bleiben darf in diesem Zusammenhang das fortgeschrittene Alter des Angeklagten, seine offensichtliche Erfahrung im Zusammenhang mit Strafverfahren und der Umstand, dass seine Tochter M* J* über eine Wohnung in ** verfügt. Diese Umstände sind konkrete Tatsachen, aus denen auf die Gefahr des Verborgenhaltens zu schließen ist.
3. Der genannte Haftgrund ist von einer solchen Intensität, dass ihm – bei realitätsbezogener Betrachtung der aktuellen Sachlage – durch gelindere Mittel(§ 173 Abs 5 StPO) wie der Abnahme der Identitäts- oder Reisedokumente oder der Weisung, sich einmal wöchentlich bei der Polizei bzw. bei Gericht zu melden und jeden Wechsel des Aufenthalts mit Übernachtung außerhalb des ständigen Wohnsitzes im Vorhinein anzuzeigen, nicht wirksam begegnet werden kann. Die Verhängung der Untersuchungshaft steht zudem weder zur Bedeutung der Sache, noch zu der im Fall verdachtskonformer Verurteilung zu erwartenden Strafe außer Verhältnis .“
Unmittelbar nach Verkündung meldete der Angeklagte dagegen durch seine Verteidigerin Beschwerde an, die diese sogleich ausführte. Vorgebracht wurde, der Angeklagte sei Österreicher und 76 Jahre alt, beziehe in Österreich eine **pension, sei seit 53 Jahren mit C* B* aufrecht verheiratet und familiär tief in ** verwurzelt. Das Ermittlungsverfahren habe Ende August 2023 begonnen und habe er sich seither wohlverhalten und kooperiert. Es sei zu keinem Zeitpunkt die Verhängung der Untersuchungshaft beantragt worden. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung habe er sich auf einem Ausflug mit seiner Gattin C* B* und Freunden aus ** auf einem Ausflugsschiff auf der ** befunden. Es sei nicht verboten gewesen, das Bundesland zu verlassen. Er habe zu keinem Zeitpunkt seine Flucht vorbereitet oder sich verborgen gehalten. Der Haftgrund der Fluchtgefahr liege nicht vor (ON 111 S 5).
Rechtliche Beurteilung
Der Beschwerde, zu der sich die Oberstaatsanwaltschaft einer Stellungnahme enthielt, kommt Berechtigung zu.
Gemäß § 173 Abs 1 StPO ist die Verhängung der Untersuchungshaft neben weiteren Voraussetzungen nur dann zulässig, wenn der Beschuldigte (hier: Angeklagte) einer bestimmten Straftat dringend verdächtig ist und einer der in Abs 2 angeführten Haftgründe vorliegt.
Der – wenn auch nicht rechtskräftige – Schuldspruch in erster Instanz in einem schöffen- oder geschworenengerichtlichen Urteil ist nicht weiter fraglich, da in Nichtigkeitsbeschwerdeverfahren keine Neuerungen vorgebracht werden dürfen ( Kirchbacher/Rami in Fuchs/RatzWK StPO § 173 Rz 4; RIS-Justiz RS0061112).
Somit liegt der für die Verhängung der Untersuchungshaft erforderliche dringende Tatverdacht im Sinn des § 173 Abs 1 StPO aufgrund des nicht rechtskräftigen Schuldspruchs vor und bedarf keiner weiteren Erörterung.
Fluchtgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 StPO ist anzunehmen, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen die Gefahr besteht, der Angeklagte werde auf freiem Fuß wegen Art und Ausmaß der ihm voraussichtlich bevorstehenden Strafe oder aus anderen Gründen flüchten oder sich verborgen halten. Der Haftgrund ist nur gegeben, wenn über die bloße Möglichkeit hinaus noch konkrete Tatsachen, z.B. in der Person des Angeklagten oder in der Tat vorliegen, aus denen auf diese Gefahr geschlossen werden kann. Fluchtgefahr darf nicht mit bloßer Fluchtbehauptung oder Fluchtmöglichkeit verwechselt werden, da eine solche bereits aus logischen Erwägungen bei nahezu jedem Angeklagten gegeben wäre (RIS-Justiz RS0097878). Liegt bereits ein Urteil erster Instanz vor, so ist bei der Beurteilung der Gewichtung des Haftgrundes der Fluchtgefahr die im Urteil verhängte Strafe mit heranzuziehen ( Kirchbacher/Rami, aaO Rz 33; 13 Os 130/01, 12 Os 57/15x). Die Strafe allein ist aber für die Annahme von Fluchtgefahr zu wenig und müssen konkrete Anhaltspunkte dafür gefordert werden, dass der Angeklagte auch tatsächliche Fluchtvorbereitungen trifft. So ist bei der Beurteilung des Vorliegens dieses Haftgrundes auch auf die Bindung des Angeklagten zum Inland, welche vor allem durch familiäre, generell soziale und berufliche Anknüpfungspunkte bestimmt wird, Bedacht zu nehmen. Die auf bestimmte Tatsachen gegründete Erwartung, der Angeklagte werde auf freiem Fuß wegen der Größe der mutmaßlich bevorstehenden Strafe oder aus anderen Gründen flüchten oder sich verborgen halten, ist nur dann rechtsfehlerfrei, wenn dabei sämtliche der in § 173 Abs 3 erster Satz StPO genannten Tatumstände in Rechnung gestellt werden (RIS-Justiz RS0119915; vgl. auch Nimmervoll , Haftrecht 3 , E 485).
Das Erstgericht bejahte das Vorliegen des Haftgrunds der Fluchtgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 StPO neben dem fortgeschrittenen Alter des Angeklagten, seiner offensichtlichen Erfahrung im Zusammenhang mit Strafverfahren und dem Umstand, dass seine Tochter M* J* über eine Wohnung in ** verfüge, mit der Dauer der über ihn – nicht rechtskräftig – verhängten Freiheitsstrafe von zehn Jahren.
Nach dem Akteninhalt ist der ** in ** geborene Beschwerdeführer österreichischer Staatsangehöriger und lebt gemeinsam mit seiner Ehegattin C* B* in **. Er bezieht eine monatliche Pension von ca. EUR 2.960,--. Er hat sich dem bisherigen Verfahren weder durch Flucht noch durch Verborgenhalten zu entziehen versucht, sondern sich vielmehr in das Verfahren eingelassen. Bereits aus dem in der Angeklageschrift vom 9.10.2024 angeführten Strafrahmen (§ 206 Abs 3 StGB) ergibt sich, dass im Fall einer Verurteilung eine mehrjährige Haftstrafe droht, was dem Beschwerdeführer somit auch bekannt war. In der zwischen der Urteilsverkündung und seiner Festnahme verstrichenen Zeitspanne von immerhin sechs Tagen hätte der Angeklagte für den Fall, dass er in Betracht gezogen hätte, zu flüchten oder sich verborgen zu halten, ausreichend Zeit für die Verwirklichung solcher Pläne gehabt. Weshalb sich angesichts des Alters des Angeklagten oder „seiner offensichtlichen Erfahrung im Zusammenhang mit Strafverfahren“ der Fluchtanreiz in einem Ausmaß erhöht, dass nunmehr Fluchtgefahr anzunehmen ist, lässt sich dem Akteninhalt nicht entnehmen. Auch der Umstand, dass in ** eine Wohnung im Eigentum einer der Töchter des Angeklagten steht, lässt nicht von vorne herein darauf schließen, dass er dorthin flüchten wird, zumal bislang keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass er Maßnahmen für eine Flucht getroffen hat.
Auch wenn bei objektiver und lebensnaher Betrachtung die – noch nicht rechtskräftige – Verurteilung zu einer zehnjährigen Freiheitsstrafe einen massiven Fluchtanreiz darstellt, ist mit Blick auf die soziale Integration des Beschwerdeführers im Inland samt seiner familiären Bindung und die Umstände, unter denen die Festnahme des Beschwerdeführers (Ausflug in Österreich) erfolgte, in Zusammenschau mit den oben angestellten Überlegungen nicht vom Vorliegen des Haftgrundes der Fluchtgefahr auszugehen.
Es war daher die verhängte Untersuchungshaft aufzuheben und der darauf abzielende Antrag der Staatsanwaltschaft abzuweisen.