2R115/25m – OLG Graz Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Graz hat als Berufungsgericht durch die Richterinnen Mag a . Gassner (Vorsitz) und Mag a . Schiller sowie den Richter Mag. Scheuerer in der Rechtssache der klagenden Partei A* , geboren am **, **, vertreten durch die Weinrauch Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagten Parteien 1. B* , geboren am **, **, H-**, 2. C* Gesellschaft m.b.H. , FN **, **, 3. D* AG , FN **, **, alle vertreten durch Mag. Heinz Kupferschmied, Mag. Gerhard Kuntner, Rechtsanwälte in Graz, wegen EUR 61.800,89 sA und Feststellung (Streitwert: EUR 5.100,00), über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 13. Mai 2025, **-17, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei ist schuldig, den beklagten Parteien binnen 14 Tagen die mit EUR 4.343,22 (darin EUR 723,87 USt) bestimmten Kosten der Berufungsbeantwortung zu ersetzen.
Die ordentliche Revision gemäß § 502 Abs 1 ZPO ist nicht zulässig .
Text
Entscheidungsgründe:
Am 20. März 2023 ereignete sich auf der Bundesstraße ** (Gemeindegebiet **) bei Straßenkilometer ** ein Verkehrsunfall, an dem die Klägerin als Lenkerin eines Elektrofahrrades ** und der Erstbeklagte als Lenker des von der Zweitbeklagten gehaltenen und bei der Drittbeklagten haftpflichtversicherten LKW ** mit dem Kennzeichen ** und dem Anhänger **, beteiligt waren.
Die im Freiland liegende ** verläuft im näheren Unfallbereich von Osten in Richtung Westen, wobei sie aus einer langgezogenen Rechtskurve in eine Gerade übergeht. Auf Höhe der westlichen Einfahrt nach ** ist der Linksabbiegestreifen mit einer Ordnungslinie abgesichert. Die Bezugslinie (BL) wird als Normale zum Fahrbahnrand auf Höhe dieser Ordnungslinie angenommen. Von Osten führt ein Fahrstreifen mit einer Breite von 3 m in Richtung Westen. Dieser Fahrstreifen beginnt sich rund 70 m östlich BL zu verbreitern. 64 m östlich BL befindet sich der erste Leitlinienstrich, der dann den Linksabbiegefahrstreifen zum Geradeausfahrstreifen abgrenzt. Die Sperrlinie verlagert sich bogenförmig in Richtung Süden. Der Linksabbiegefahrstreifen weist eine Breite von 3 m auf, der Geradeausfahrstreifen eine solche von 3,2 m. Auf dem von Westen kommenden Fahrstreifen beginnt ebenfalls 67 m östlich BL der Linksabbiegefahrstreifen, der in der Folge mit einer Ordnungslinie zu einem von Norden einmündenden Asphaltweg abgesichert ist. Der Linksabbiegefahrstreifen ist am Beginn 1,7 m breit und der Geradeausfahrstreifen 3 m. Die asphaltierte Fahrbahn steigt in Richtung Westen mit einem Quergefälle von 2 bis 3 % zum südlichen Fahrbahnrand geringfügig an. Südlich der Fahrbahn befindet sich ein abfallender Wiesengraben; das dort befindliche Anwesen ist mit einer Thujenhecke abgegrenzt, die bei 56 m östlich BL durch ein Holzgatter unterbrochen ist. Es besteht eine Geschwindigkeitsbeschränkung von 70 km/h. Die freie Sicht beträgt einige 100 m.
Die Klägerin befuhr die ** von östlicher in westliche Richtung. Zur gleichen Zeit lenkte der Erstbeklagte den LKW hinter der Klägerin mit einer Geschwindigkeit von 70 km/h in die gleiche Richtung. Als er auf die Klägerin aufholte, beabsichtigte er diese links zu überholen. Rund 3 Sekunden vor der Kollision lenkte die Klägerin ihr Fahrrad nach links und überfuhr die Sperrlinie. Der Tiefenabstand zwischen beiden Fahrzeug betrug zu diesem Zeitpunkt 33 m. Der Erstbeklagte reagierte ohne Reaktionsverzug 2,5 Sekunden vor der Kollision mit einer Vollbremsung und einem Auslenken nach links. Die Kollision ereignete sich ca. 69 bis 70 m östlich BL und damit 5 bis 6 m östlich des Beginns des Linksabbiegestreifens in Richtung **, wobei sich sowohl das Klagsfahrzeug als auch das Beklagtenfahrzeug zur Gänze über der Sperrlinie auf der Gegenfahrbahn befanden. Die Überschussgeschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs betrug im Kollisionszeitpunkt 20 bis 25 km/h.
Hätte sich die Klägerin 70 m östlich BL vom rechten Fahrbahnrand kommend (nur) in Richtung Sperrlinie eingeordnet, um in der Folge ihre Fahrlinie auf ihren Linksabbiegestreifen zum Abbiegen nach ** zu verlagern, hätte sich die Kollision nicht ereignet, weil das Beklagtenfahrzeug kontaktfrei überholen hätte können. Hätte die Klägerin 4 bis 5 Sekunden vor der Kollision über die Schulter – oder den montierten Fahrradspiegel – nach hinten gesehen, hätte sie erkennen können, dass sich das Beklagtenfahrzeug mit wesentlich höherer Geschwindigkeit und (zum Überholen) nach links verlagerter Fahrlinie annäherte. Durch das Unterlassen ihres Fahrmanövers nach links hätte sie den Unfall verhindern können.
Nicht feststellbar ist, ob die Klägerin vor ihrem Linksauslenkmanöver ein Handzeichen gab. Sie trug einen Fahrradhelm und benützte keine Kopfhörer.
Die Klägerin begehrte von den Beklagten als Schadenersatz EUR 61.800,89 samt Zinsen sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für sämtliche zukünftigen Schäden aus dem Verkehrsunfall. Den Erstbeklagten treffe das Alleinverschulden, weil er beim Überholmanöver ihr ordnungsgemäß, mittels Handzeichen angezeigtes Linksabbiegemanöver übersehen, die bestehende Sperrlinie überfahren, den erforderlichen Seitenabstand nicht eingehalten und sein Überholmanöver nicht angezeigt habe. Als sie sich in Richtung Fahrbahnmitte eingeordnet habe, um nach der Sperrlinie in den Linksabbiegestreifen einfahren zu können, habe sich das Beklagtenfahrzeug noch nicht in Überholposition befunden und es sei der linke Blinker nicht aktiviert gewesen.
Die Beklagten beantragten die Abweisung der Klage mit der Behauptung, die Klägerin habe in Annäherung an die Unfallstelle ohne Handzeichen und ohne den nachfolgenden Verkehr zu beobachten, ihre Fahrlinie nach links verlagert und die Sperrlinie überfahren. Zu diesem Zeitpunkt habe der Erstbeklagte bereits beabsichtigt, das Klagsfahrzeug zu überholen. Trotz sofortiger Reaktion habe er die Kollision nicht mehr verhindern können. Selbst wenn er vorschriftswidrig überholt hätte, treffe die überraschend nach links auslenkende Klägerin das überwiegende Verschulden am Verkehrsunfall.
Mit dem angefochtenen Urteil wies das Erstgericht sowohl das Leistungs- als auch das Feststellungsbegehen ab. Über den eingangs zusammengefassten Sachverhalt hinaus legte es dieser Entscheidung die auf den Seiten 3 bis 5 seines Urteils ersichtlichen Tatsachenfeststellungen zugrunde, auf die das Berufungsgericht verweist. In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht zum Grund des Anspruchs aus, der Erstbeklagte habe durch das Überfahren der Sperrlinie gegen die Bestimmung des § 9 Abs 1 StVO verstoßen. Dieser Verstoß stehe jedoch in keinem (erforderlichen) Rechtswidrigkeitszusammenhang zu den bei der Klägerin durch die Kollision verursachten Schäden. Die Klägerin hingegen habe gegen das Rechtsfahrgebot und gegen § 12 Abs 1 StVO verstoßen, weil sie sich vor dem nach links Lenken nicht (ausreichend) davon überzeugt habe, ob der Erstbeklagte bereits zum Überholen angesetzt habe.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Klägerin aus dem Anfechtungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, es in Klagsstattgebung abzuändern; hilfsweise stellt er einen Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag.
Die Beklagten beantragen, der Berufung nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Berufung ist nicht berechtigt.
1. Die Berufungswerberin geht davon aus, dass § 9 Abs 1 StVO nicht nur dem Schutz des Gegenverkehrs diene, sondern auch alle Verkehrsteilnehmer auf ihrer Seite vor riskanten Überholmanövern schütze. Ein Überholen durch Überfahren der Sperrlinie sei grundsätzlich unzulässig, es sei denn, es liege ein rechtfertigender Grund vor, was hier aber nicht der Fall wäre. Selbst unter der Annahme, die Klägerin habe ihr Fahrrad ohne ausreichende Rückschau über die Sperrlinie gelenkt, wäre ein Mitverschulden des Erstbeklagten anzunehmen, weil er trotz unklarer Verkehrslage im Nahebereich zweier Linksabbiegestreifen überholt habe, obwohl er damit rechnen habe müssen, dass die Klägerin links abbiege.
2.1. Der Schutzzweck einer Norm ergibt sich aus ihrem Inhalt. Das Gericht hat das anzuwendende Schutzgesetz teleologisch zu interpretieren, um herauszufinden, ob die jeweilige Vorschrift, die übertreten wurde, den im konkreten Fall eingetretenen Schaden verhüten wollte, wobei es genügt, dass die Verhinderung des Schadens bloß mitbezweckt ist (RIS-Justiz RS0008775; 6 Ob 142/16z).
2.2. Nach ständiger Rechtsprechung dient das Verbot, Sperrlinien zu überfahren, dem Schutz des Gegenverkehrs. Es ist vom Normzweck her vernünftigerweise grundsätzlich als der Sicherheit aller auf der Fahrbahn jenseits der Sperrlinie befindlichen Verkehrsteilnehmer dienend aufzufassen (RIS-Justiz RS0073404; 2 Ob 206/15f); der Schutz des nachfolgenden Verkehrs ist jedenfalls nicht beabsichtigt (RIS-Justiz RS0027607). Demnach dient die Norm auch dem Zweck, einer Gefährdung oder Behinderung anderer Straßenbenützer bzw. Beschädigung von Sachen im Sinne des § 7 Abs 1 StVO durch andere Fahrzeuge vorzubeugen (RIS-Justiz RS073408).
§ 9 Abs 1 StVO normiert zwar an sich kein Überholverbot; faktisch besteht ein solches aber dann, wenn dabei die Sperrlinie überfahren werden muss (vgl 2 Ob 47/94 mwN). Daraus kann nun aber abgeleitet werden, dass § 9 Abs 1 StVO - anders als die Fälle des § 16 StVO - nur den Schutz der jenseits der Sperrlinie befindlichen Verkehrsteilnehmer beabsichtigt, während ein überholter Verkehrsteilnehmer vom Schutzzweck dieser Bestimmung im Allgemeinen nicht erfasst wird, es sei denn, er biegt erlaubterweise(im Bereich einer Unterbrechung der Sperrlinie) nach links ab (OGH 2 Ob 17/14k). In seiner Entscheidung zu 2 Ob 237/18v hat der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, dass es an einer sachlichen Rechtfertigung fehle, einem überholten Radfahrer den Schutz seines Vertrauens, dass sich die Lenker nachfolgender Fahrzeuge vorschriftsmäßig verhalten und die Sperrlinie nicht überfahren würden, nur deshalb zu versagen, weil sich die Kollision nicht jenseits der Sperrlinie ereignet habe. Auch überholte Verkehrsteilnehmer seien daher vom Schutzzweck des § 9 Abs 1 StVO erfasst, wenn der Überholvorgang bei Einhaltung des gebotenen seitlichen Sicherheitsabstands nur durch Überfahren der Sperrlinie möglich ist [mit kritischer Glosse von Aigner in ZVR 2020/12].
2.3. Im vorliegenden Fall beabsichtigte der Erstbeklagte, die vor ihm fahrende Klägerin unter Überfahren der Sperrlinie zu überholen, als diese rund 3 Sekunden vor der Kollision – ohne den nachfolgenden Verkehr (ausreichend) zu beobachten – ihr Fahrrad nach links lenkte, die Sperrlinie überfuhr und auf die Gegenfahrbahn gelangte. Der Erstbeklagte reagierte auf dieses Fahrmanöver ohne Reaktionsverspätung mit einer Vollbremsung und einem Auslenken nach links. Zum Kollisionszeitpunkt befanden sich sowohl der Erstbeklagte als auch die Klägerin zur Gänze auf der Gegenfahrbahn. Hätte sich die Klägerin 70 m östlich BL vom rechten Fahrbahnrand kommend in Richtung der Sperrlinie eingeordnet, um dann in der Folge auf ihrem Linksabbiegestreifen zum Abbiegen nach ** zu fahren, hätte sich die Kollision nicht ereignet, weil das Beklagtenfahrzeug sie kontaktfrei überholt hätte. Hätte die Klägerin rund 4 bis 5 Sekunden vor der Kollision über die Schulter oder in den montieren Fahrradspiegel nach hinten gesehen, hätte sie erkennen können, dass sich das Beklagtenfahrzeug mit wesentlich höherer Geschwindigkeit annähert und seine Fahrlinie zum Überholen nach links verlagerte. Durch Unterlassen des Linksauslenkens und Überfahrens der Sperrlinie hätte sie die Kollision verhindern können. Mit einer derartigen Fahrlinienverlagerung der überholten Radfahrerin weit vor Beginn des Linksabbiegefahrstreifens musste der Erstbeklagte jedenfalls nicht rechnen. Für die Klägerin bestand keine Veranlassung für eine derart massive, § 7 StVO krass widersprechende (vorzeitige) Änderung der Fahrlinie, selbst wenn sie – wie sie selbst vorbringt – den 5 bis 6 m westlich des Kollisionspunkts beginnenden Linksabbiegefahrstreifen benützen wollte, um auf den links der Bundesstraße gelegenen Radweg zu wechseln.
Obwohl das Überholen durch das Beklagtenfahrzeug bei Einhalten eines ausreichenden Sicherheitsabstandes ohne Überfahren der Sperrlinie nicht möglich gewesen wäre, hat das Überholverbot des § 9 Abs 1 StVO auch nach Auffassung des Berufungsgerichtes wohl nicht den Zweck, eine mit ausreichendem Sicherheitsabstand überholte Radfahrerin zu schützen, die selbst gegen § 9 Abs 1 StVO verstößt, indem sie ihre Fahrlinie – ohne erkennbaren Grund und ohne auf den nachfolgenden Verkehr zu achten – während des Überholvorgangs nach links auf die Gegenfahrbahn (und damit jenseits der Sperrlinie) verlagert und nur deshalb mit dem überholenden Fahrzeug kollidiert. Das Überfahren der Sperrlinie durch den Erstbeklagten an sich war nicht kausal für den Schaden der Klägerin, der sich vielmehr erst durch ihr eigenes Fahrmanöver verwirklichte. Eine Reaktionsverspätung ist ihm nach den getroffenen Feststellungen jedenfalls nicht vorzuwerfen, hat er doch unverzüglich auf die Erkennbarkeit der Richtungsänderung der Klägerin mit einer Vollbremsung und einem Linksauslenken reagiert.
Dem Erstgericht ist aus diesen Gründen zuzustimmen, wenn es den Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen dem Verstoß des Erstbeklagten gegen § 9 Abs 1 StVO und dem während des Überholmanövers eingetretenen Schaden der Klägerin verneint.
3. Die von der Berufungswerberin gerügten sekundären Feststellungsmängel liegen nicht vor. Zum einen reicht der festgestellte Sachverhalt für die abschließende Beurteilung des Streitfalles aus; zum anderen führt die Berufungswerberin ihre Rechtsrüge insoweit teilweise nicht gesetzmäßig aus, als sie die Feststellung von Sachverhaltselementen anstrebt, die den vom Erstgericht getroffenen Feststellungen widersprächen.
Die angefochtene Entscheidung entspricht somit der Sach- und Rechtslage, weshalb der Berufung ein Erfolg zu versagen war.
Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf §§ 41, 50 ZPO.
Einer Bewertung des nicht ausschließlich in einem Geldbetrag bestehenden Entscheidungsgegenstands nach § 500 Abs 1 Z 1 ZPO bedarf es nicht, weil schon das Zahlungsbegehren EUR 30.000,00 übersteigt (RIS-Justiz RS0042277; OGH 1 Ob 242/07f).
Die Revision war nicht zuzulassen, weil das Berufungsgericht keine qualifizierte Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO zu beantworten hatte.