7Rs17/25m – OLG Graz Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Graz hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Kraschowetz-Kandolf (Vorsitz), die Richter Mag. Russegger und Mag. Reautschnig sowie die fachkundigen Laienrichter:innen Färber (aus dem Kreis der Arbeitgeber:innen) und Allmannsdorfer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer:innen) als weitere Senatsmitglieder in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geboren am **, **, vertreten durch Mag. Manuel Novak, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt , Landesstelle **, **, vertreten durch ihren Angestellten Dr. B*, ebendort, wegen Berufsunfähigkeitspension, über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 11.Februar 2025, GZ: **-25, in nicht-öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung, deren Kosten der Berufungswerber selbst zu tragen hat, wird nicht Folge gegeben.
Die Revision ist nichtnach § 502 Abs 1 ZPO zulässig .
Entscheidungsgründe:
Text
Der am ** geborene Kläger absolvierte in Bosnien die Berufsausbildung zum Krankenpfleger mit Abschluss und in ** die Ausbildung zum Anästhesiepfleger ebenfalls mit Abschluss. In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. März 2024) erwarb er 169 Monate als Anästhesiepfleger. Seit April 2024 geht er keiner versicherungspflichtigen Beschäftigung mehr nach. Er besitzt einen Führerschein der Klasse B.
Aufgrund der auf Urteil Seite 2 und 3 festgestellten Leidenszustände (Diagnosen), darunter einer Schwerhörigkeit mit Hörgeräteversorgung beidseits, kann der Kläger leichte und halbtägig mittelschwere Arbeiten im Sitzen, Gehen und Stehen, im Freien, sowie in geschlossenen Räumen unter Einhaltung der üblichen Arbeitszeiten und Ruhebedingungen verrichten, wobei auch feinmotorische Arbeiten zumutbar sind. Arbeiten im Sitzen sind ganztägig möglich, Arbeiten im Gehen und Stehen bis zu drei Viertel eines Arbeitstages. Hebe- und Tragearbeiten leichter Lasten sind möglich. Bückarbeiten und Überkopfarbeiten sind nur sehr selten, Arbeiten im Knien und Hocken selten möglich. Alle Arbeiten dürfen kein gutes Hörvermögen verlangen, wobei der Kläger dennoch im Zusammenhang mit der Hörgeräteversorgung über ein durchschnittliches Hörvermögen verfügt. Arbeiten in ständiger Kälte und Nässe, Arbeiten mit stark atemtraktreizenden Substanzen, Arbeiten unter Zugluftbedingungen sowie Arbeiten an exponierten Stellen scheiden aus. Steighilfen können verwendet werden. Akkord- und Fließbandarbeiten sowie Nachtarbeiten sind nicht zumutbar. Ein forciertes Arbeitstempo ist bis zu einem Drittel eines Arbeitstages möglich. Der Kläger kann ein mäßig schwieriges, geistiges Anforderungsprofil erbringen. Die Kontakt- und Führungsfähigkeit sowie das Durchsetzungsvermögen sind durchschnittlich.
Im Übrigen ist der Kläger umschulbar, schulbar und anlernbar. Ortswechsel und Wochenpendeln sind zumutbar. Es ergibt sich ein zusätzlicher Krankenstand im Ausmaß von vier Wochen pro Jahr. Eine signifikante Verschlechterung des erstellten Leistungskalküls ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.
Das Erstgericht stellt Berufsbild und Anforderungsprofil diplomierter Gesundheits- und Krankenpflegekräfte (universelles Berufsbild) auf Urteil Seite 4 und 5 fest, darunter auch, dass ein durchschnittliches Hörvermögen Voraussetzung ist. Der Kläger ist nicht mehr in der Lage, allen Anforderungen, die an einen diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger im universellen Einsatz gestellt werden, gerecht zu werden, weil er den damit einhergehenden körperlichen und psychischen Belastungen (Nachtarbeiten) nicht mehr gewachsen ist und auch die Arbeitshaltungen im Stehen und Gehen im erforderlichen Ausmaß nicht mehr zu erbringen vermag.
Ebenso stellt das Erstgericht als dem Kläger mögliche Verweisungstätigkeiten innerhalb der Berufsgruppe der diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger:innen Berufsbild und Anforderungsprofil des diplomierten Krankenpflegepersonals in Ambulanzen von Krankenhäusern bzw. Untersuchungseinrichtungen von Sozialversicherungsträgern sowie in der Pflegeberatung von Kranken-, Rehabilitations- oder Sozialversicherungsanstalten (DGKS im Entlassungsmanagement, Case- and Care Management) auf Urteil Seite 6 bis 9 fest. Für sämtliche dieser Tätigkeiten ist ein durchschnittliches Hörvermögen ausreichend.
Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt würden unter Berücksichtigung der eingeschränkten Leistungsfähigkeit noch die Tätigkeiten eines Aufsehers, Eintritts-/Fahrkartenkassierers, Wächters im Standpostendienst, Portiers im Ein- und Zweischichtbetrieb uam in Betracht kommen, für welche in Österreich ein ausreichender Arbeitsmarkt (mehr als 100 im freien Wettbewerb zugängliche Stellen) existiert.
Mit Bescheid vom 23. April 2024 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 27. Februar 2024 auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension mangels Vorliegens dauerhafter Berufsunfähigkeit ab. Weiters sprach sie aus, dass auch vorübergehende Berufsunfähigkeit im Ausmaß von mindestens sechs Monaten nicht vorliege und kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung sowie auf medizinische und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation bestehe.
Der Kläger begehrt die Zahlung einer Berufsunfähigkeitspension im gesetzlichen Ausmaß ab 1. März 2024 in eventu die Feststellung des Anspruches auf Rehabilitationsgeld ab 1. März 2024 in eventu die Gewährung von Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation. Zur Begründung führt er im wesentlichen aus, er sei in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag überwiegend als Krankenpfleger tätig gewesen. Aufgrund der bei ihm bestehenden Beschwerden sei er nicht mehr in der Lage, seinen Beruf als Krankenpfleger weiterhin auszuüben.
Die Beklagtebestreitet unter Aufrechterhaltung ihres im Bescheid eingenommenen Standpunkts und führt aus, der Kläger sei im maßgeblichen Beobachtungszeitraum 169 Monate als Anästhesiepfleger tätig gewesen. Das bei ihr durchgeführte Verfahren habe ergeben, dass er nicht in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit als Angestellter oder nach § 255 Abs 1 ASVG ausgeübt habe.
Mit dem angefochtenen Urteil weist das Erstgericht nunmehr auch im zweiten Rechtsgang das Klagebegehren auf der Grundlage des eingangs dargestellten Sachverhalts ab. Ausgehend davon, dass beim Kläger Berufsschutz besteht, vertritt es die Auffassung, dass er zwar nicht mehr die Erwerbstätigkeit eines diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegers im universellen Einsatz ausüben könne; unter Berücksichtigung seines Leistungskalküls könne er innerhalb dieser Berufsgruppe jedoch die Tätigkeiten eines diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegers in Ambulanzen von Krankenhäusern bzw. Untersuchungseinrichtungen von Sozialversicherungsträgern und eines solchen in der Pflegeberatung bzw. im Entlassungsmanagement ausüben. Berufsunfähigkeit liege daher nicht vor.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Klägers aus den Berufungsgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung (einschließlich der Geltendmachung sekundärer Feststellungsmängel) mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Klagsstattgebung abzuändern; hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.
Die Beklagte erstattet keine Berufungsbeantwortung, beantragt jedoch, der Berufung nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Berufung, über die gemäß § 480 Abs 1 ZPO in Verbindung mit § 2 Abs 1 ASGG in nicht-öffentlicher Sitzung entschieden werden konnte, ist nicht berechtigt .
1. Zum Berufungsgrund der Mangelhaftigkeit des Verfahrens:
Der Berufungswerber rügt zunächst seine unterlassene Einvernahme als Partei, durch die er richtig stellen hätte können, dass er kein überdurchschnittliches Hörvermögen besitze, was als Voraussetzung für die Berufsträger und die Verweisungsberufe gelte.
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung in Sozialrechtssachen, dass die Parteienvernehmung kein geeignetes Beweismittel darstellt, um Feststellungen zum Bestand und Ausmaß eines Leidenszustandes zu gewinnen. Diese ist insbesondere dann entbehrlich, wenn der Kläger, wie im vorliegenden Fall, im Rahmen der Anamnese und Untersuchung bei den gerichtlichen Sachverständigen Gelegenheit hatte, seine Leidenszustände zu schildern (SVSlg 65.833, 63.534, 61.096, 52.442). Ganz abgesehen davon, führt der Berufungswerber nur aus, dass sich im Falle seiner Einvernahme ergeben hätte, dass er über kein überdurchschnittliches Hörvermögen verfüge. Dieser Umstand ist ohnedies unstrittig, zumal unbekämpft feststeht, dass er ein durchschnittliches Hörvermögen hat. Dass dieses für die festgestellten Verweisungstätigkeiten ausreicht, ergibt sich aus deren festgestelltem Anforderungsprofil. Insofern zeigt der Berufungswerber die Relevanz nicht auf.
Schließlich vertritt der Berufungswerber noch die Auffassung, ein gravierender Verfahrensmängel liege vor, weil die Beurteilung der Berufsunfähigkeit ohne fundierte medizinische Begutachtung seiner Schwerhörigkeit durch einen medizinischen Sachverständigen aus dem Fachgebiet Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde erfolgt sei. Ein solcher sei bereits in der Klage beantragt worden.
Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass der qualifiziert vertretene Kläger in der Tagsatzung vom 5. November 2024 den Beweisantrag auf Einholung eines HNO-Sachverständigengutachtens zurückgezogen hat.
Im Übrigen war das Hörvermögen des Klägers bereits Thema im Beschluss des Oberlandesgerichts Graz vom 17. Dezember 2024, GZ 7 Rs 76/24m. Aufgrund dessen führte das Erstgericht in der Tagsatzung vom 11. Februar 2025 die Erörterung des internistischen und des berufskundlichen Gutachtens durch. Der internistische Sachverständige führte zum Hörvermögen des Klägers aus:
„Der Kläger hat ein durchschnittliches Hörvermögen.
Ich habe in meinem Gutachten festgehalten, dass er in einer ruhigen Umgebung Umgangssprache problemlos versteht.
Im Rahmen meines Fachgebiets der inneren Medizin kann ich auch das Hörvermögen des Klägers im Anlassfall beurteilen. Die Beiziehung eines Sachverständigen aus dem Fachgebiet HNO ist nicht notwendig.
Ich bin auch Arzt für Allgemeinmedizin und habe im Rahmen meiner Ausbildung auch eine HNO-fachspezifische Ausbildung erfahren.
Ich habe mich damals bei der Untersuchung mit dem Kläger normal unterhalten und bin zu dem Entschluss gekommen, dass ein durchschnittliches Hörvermögen jedenfalls vorhanden ist.
Wenn irgendein Zweifel bestanden hätte, dann hätte ich dem Gericht auch empfohlen, dass ein HNO-SV beigezogen wird.
Der Kläger hat zu mir damals auch gesagt, dass er keine HNO-fachärztliche Untersuchung will, weil er die Worte eh normal verstehen kann.
Dies bezog sich auf die Hörgeräteversorgung.“
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung in Sozialrechtssachen, dass die Einholung weiterer Gutachten selbst aus anderen Fachgebieten nicht erforderlich ist, wenn der bestellte Gutachter deren Einholung nicht anregt oder deren Notwendigkeit nicht als gegeben ansieht (SVSlg 64.395, 57.209, 57.227). Das Gericht kann sich demgemäß auf die den gerichtlich zertifizierten und beeideten Sachverständigen treffende Wahrheits- und Vollständigkeitspflicht und insbesondere auch darauf verlassen, dass keine notwendige und zweckdienliche Erweiterung der Untersuchung unterbleibt, wenn sie vom Sachverständigen nicht angeregt oder vorgenommen wird (SVSlg 59.453, 59.707). Überdies trifft einen medizinischen Sachverständigen entsprechend dem von ihm abgelegten Eid die Verpflichtung, sein Gutachten nach dem letzten Stand der Wissenschaft abzugeben (SVSlg 33.891).
Unter diesem Gesichtspunkt traf daher das Erstgericht auch nicht die Verpflichtung, von Amts wegen einen weiteren Sachverständigen beizuziehen, hat der internistische Sachverständige die Notwendigkeit dazu doch mit schlüssigen Argumenten verneint.
Zusammenfassend liegt daher ein Verfahrensmangel nicht vor.
2. Zum Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung:
Vorauszuschicken ist, dass zur Beurteilung der Frage des Vorliegens von Berufsunfähigkeit zunächst ein medizinisches Leistungskalkül im Sinne des Restleistungsvermögens des Pensionsbewerbers zu erheben ist. Diesem sind sodann die psychischen und physischen Anforderungen der bisher ausgeübten maßgeblichen Tätigkeit und in weiterer Folge der in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten gegenüberzustellen (RS0043194).
Der Berufungswerber vertritt nun die Auffassung, dass sein Leistungskalkül mit den festgestellten Verweisungstätigkeiten innerhalb der Berufsgruppe der diplomierten Gesundheits- und KrankenpflegerInnen nicht in Einklang zu bringen sei, weil das Leistungskalkül ausdrücklich darlege, dass alle Arbeiten kein gutes Hörvermögen verlangen dürften. Für die Verweisungstätigkeiten sei jedoch ein durchschnittliches Hörvermögen Voraussetzung.
Die Frage, welches Hörvermögen der Kläger erbringen kann, war im zweiten Rechtsgang Thema der Verfahrensergänzung. Nach Erörterung der Gutachten stellte das Erstgericht nunmehr fest, dass alle Arbeiten zwar kein gutes Hörvermögen verlangen dürfen, der Kläger dennoch im Zusammenhang mit der Hörgeräteversorgung über ein durchschnittliches Hörvermögen verfügt. Damit steht jedoch fest, dass der Kläger die festgestellten Verweisungstätigkeiten (diplomiertes Krankenpflegepersonal in Ambulanzen von Krankenhäusern bzw. Untersuchungseinrichtungen von Sozialversicherungsträgern sowie in der Pflegeberatung von Kranken-, Rehabilitations- oder Sozialversicherungsanstalten) auch im Hinblick auf das Hörvermögen ausüben kann.
Daraus folgt, dass Berufsunfähigkeit nicht vorliegt, weshalb der Berufung ein Erfolg zu versagen war.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 77 ASGG. Gründe für einen ausnahmsweisen Kostenzuspruch nach Billigkeit gemäß § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG wurden weder dargetan, noch liegen sie vor.
Die Revision nach § 502 Abs 1 ZPO war nicht zuzulassen, weil die Entscheidung im vorliegenden Fall von einer Einzelfallbetrachtung abhängt und überdies Rechtsfragen nicht zu lösen waren.