JudikaturJustizRS0112111

RS0112111 – OGH Rechtssatz

Rechtssatz
27. Februar 2012

a) Der Arzt, der die mögliche Aufklärung über den Zustand der Leibesfrucht unterlässt, verstößt gegen seine Vertragspflicht, die auch den Schutz vor Vermögensnachteilen infolge der unerwünschten, bei ordnungsgemäßer Aufklärung unterbliebenen Geburt eines schwerstbehinderten Kindes umfasst. Unterläuft dem Arzt bei derartigen Untersuchungen ein Fehler, der zur sonst unterbliebenen Geburt eines behinderten Kindes führt, so erstreckt sich seine Haftung auf die Freistellung des Vertragspartners von wirtschaftlichen Belastungen, die - unter anderem - durch den Behandlungsvertrag, der wesentliche Elemente des Beratungsvertrags umfasst, vermieden werden sollten. Auch insoweit kann die Übernahme der medizinischen Aufgaben durch den Arzt, die der Erreichung eines erlaubten Vertragszwecks dient, nicht ohne rechtliche Verantwortung für den Arzt bleiben.

b) Auch der BGH vertritt die Ansicht, die Zubilligung von Schadenersatz in Fällen, in welchen die Geburt eines schwerstbehinderten Kindes infolge mangelnder Aufklärung durch den betreuenden Arzt nicht unterblieben ist, bleibe nicht nur ohne negative Auswirkung für das Kind, sondern könne diesem sogar dienlich sein, weil dadurch die wirtschaftliche Lage seiner Eltern verbessert werde. Dieser Rechtsansicht schließt sich der Oberste Gerichtshof für den Fall an, dass es aufgrund eines Beratungsfehlers des behandelnden Arztes zu der bei richtiger Aufklärung unterbliebenen Geburt eines behinderten Kindes kommt.

c) Bei Beurteilung des Problemkreises des Schadenersatzes für die unerwünschte eigene Existenz ("wrongful life") ist vorweg zu beachten, dass der Arzt dann, wenn ihm keine Methode zur Abwehr der schweren Schädigung des Kindes zur Verfügung stand, den Zustand des Kindes nicht verursacht hat. Die Pflicht, die Geburt deshalb zu verhindern, weil das Kind mit einer schweren Behinderung zur Welt kommen wird, lässt sich der Rechtsordnung nicht entnehmen. Das Urteil über den Wert des menschlichen Lebens als höchstrangigen Rechtsguts steht dem Arzt nicht zu. Auch die Pflicht, das Leben schwer Behinderter zu erhalten, darf nicht vom Urteil über den Wert des erhaltbaren Lebenszustands abhängig gemacht werden. Weder die Ermöglichung noch die Nichtverhinderung von Leben verletzt ein geschütztes Rechtsgut. Es entzieht sich den Möglichkeiten einer allgemein verbindlichen Beurteilung, ob das Leben mit schweren Behinderungen gegenüber der Alternative, nicht zu leben, überhaupt einen Schaden im Rechtssinn oder aber eine immer noch günstigere Lage darstellt.

d) Eigene Ansprüche des Kindes sind nur tragbar, soweit schuldhaft durch menschliches Handeln dessen Integritätsinteresse beeinträchtigt worden ist. Der Mensch hat grundsätzlich sein Leben so hinzunehmen, wie es von der Natur gestaltet ist, und er hat keinen Anspruch auf dessen Verhütung oder Vernichtung durch andere. Soweit der Mutter gleichwohl die Möglichkeit der Entscheidung zur Abtreibung eingeräumt wird, kann daraus dem Kind ihr gegenüber kein Anspruch auf dessen Nichtexistenz erwachsen.

e) Der Schutzbereich des ärztlichen Behandlungsvertrags ist auch auf den Vater zu erstrecken, hat dieser doch gleich der Mutter ein eigenes, dem Arzt bekanntes Interesse, über das Wohlergehen beziehungsweise über Beeinträchtigungen der Leibesfrucht unterrichtet zu werden.

f) Auch wenn der mit einer Schwangeren geschlossene Behandlungsvertrag in erster Linie die gynäkologische Betreuung der werdenden Mutter und die Überwachung der Leibesfrucht umfasst, besteht doch insbesondere bei einer Ultraschalluntersuchung auch die Vertragspflicht, die Mutter über erkennbare Schäden des werdenden Kindes aufzuklären.

Entscheidungen
9