JudikaturJustizBsw41135/98

Bsw41135/98 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
23. Februar 2010

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Ahmet Arslan u.a. gegen die Türkei, Urteil vom 23.2.2010, Bsw. 41135/98.

Spruch

Art. 9 EMRK - Verurteilung wegen Tragens einer religiösen Tracht.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 9 EMRK (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung der Konventionsverletzung stellt für sich einen ausreichenden Ersatz für immateriellen Schaden dar, € 10,- an jeden der Bf. für materiellen Schaden, € 2.000,- für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei den Bf. handelt es sich um 127 Personen türkischer Staatsangehörigkeit. Sie gehören einer religiösen Gruppierung mit dem Namen Aczimendi tarikati an. Am 20.10.1996 begaben sich die Bf. nach Ankara, um an einer religiösen Zeremonie in einer Moschee teilzunehmen. Sie machten einen Rundgang durch die Stadt, bei dem sie die für ihre Gruppierung charakteristische Kleidung, bestehend aus Turban, »Salvar« (einer knielangen Hose aus Baumwolle) und Tunika, trugen. In der Folge kam es zu mehreren Zwischenfällen, woraufhin die Bf. verhaftet und in Polizeigewahrsam genommen wurden.

Am 2.12.1996 erhob die zuständige Staatsanwaltschaft Anklage gegen die Bf. wegen Verstoßes gegen Art. 7 des Gesetzes Nr. 3713 zur Bekämpfung des Terrorismus. In der Verhandlung am 8.1.1997 vor dem Staatssicherheitsgericht erschienen die Bf. in ihrer traditionellen Kleidung. Drei von ihnen leisteten der Aufforderung des Gerichtspräsidenten Folge, ihren Turban als Zeichen des Respekts gegenüber dem Gericht abzulegen, während sich die anderen mit dem Hinweis weigerten, ihr Glaube würde ihnen dies verbieten.

In der Folge erhob das Strafgericht Ankara Anklage gegen die Bf. wegen Missachtung von Gesetz Nr. 671 betreffend das Führen von Hüten und von Gesetz Nr. 2596 über das Tragen gewisser Kleidungsstücke und verurteilte sie zu zweimonatigen Freiheitsstrafen, die später in geringfügige Geldstrafen umgewandelt wurden. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel blieben alle erfolglos.

Im September 1998 wurden die Bf. auf freien Fuß entlassen. Das Verfahren vor dem Staatssicherheitsgericht wurde 2006 rückwirkend eingestellt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten, ihre Verurteilung wegen Bekundung ihrer Religion im Wege des Tragens bestimmter Kleidungsstücke stelle eine Verletzung ihres Rechts auf Religionsfreiheit gemäß Art. 9 EMRK dar.

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK

1. Zur Zulässigkeit

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

2. In der Sache selbst

Der GH wird zuerst auf die These der Regierung eingehen, wonach die Bf., indem sie sich geweigert hätten, die Kopfbedeckung zu entfernen, einen Mangel an Respekt gegenüber dem Staatssicherheitsgericht gezeigt hätten.

Festzuhalten ist, dass die Rechtsmittelgerichte, welche die ursprünglich verhängten Freiheitsstrafen in Geldstrafen umwandelten, ihre Entscheidung nicht auf einen Mangel an Respekt gegenüber dem Gericht, sondern auf die einschlägigen Bestimmungen der Gesetze Nr. 671 bzw. 2596 gründeten, die das Tragen bestimmter Kleidungsstücke auf öffentlichen Plätzen unter Strafe stellen. Im Übrigen beschränkten sie sich, was Zeitpunkt und Ort der den Bf. vorgeworfenen Handlungen betraf, nicht auf die Vorfälle vom 8.1.1997, sondern bezogen sich grundsätzlich auf die Zeit davor, nämlich auf die Ereignisse des 20.10.1996. So wurde etwa vom Strafgericht zweiter Instanz die Tatsache, dass drei von den Bf. ihren Turban auf Ersuchen der Gerichtsdiener abgelegt hatten, als strafrechtlich unerheblich gewertet, weil sie die ihnen vorgeworfenen Delikte bereits vor ihrem Erscheinen vor Gericht begangen hätten.

Im Lichte dieser Ausführungen sieht es der GH als erwiesen an, dass die Bf. dafür, wie sie auf öffentlichen Plätzen ihre Kleidung zur Schau stellten, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurden – und nicht wegen mangelndem Respekt dem Staatssicherheitsgericht gegenüber. Was den von ihnen behaupteten Eingriff in ihre Glaubens- bzw. Gewissensfreiheit anlangt, genügt die Feststellung, dass sie Mitglieder einer religiösen Gruppierung sind, die davon ausgeht, dass ihre Religion ihnen das Tragen von religiöser Tracht vorschreibt. Dazu kommt, dass sie an einer religiösen Zeremonie nach muslimischem Ritus teilnehmen wollten. Ihre Verurteilung unter Heranziehung der Gesetze Nr. 671 bzw. 2596 stellt somit einen Eingriff in Art. 9 EMRK dar.

a. War der Eingriff gesetzlich vorgesehen?

Der Eingriff beruhte auf einer innerstaatlichen Rechtsgrundlage, nämlich den Gesetzen Nr. 671 bzw. 2596. Die Bf. bezweifeln jedoch die Vorhersehbarkeit der beiden Gesetze, da sie vor siebzig Jahren in der Gründungszeit der Republik verfasst und lange Zeit nicht angewendet worden wären, außerdem würde es im vorliegenden Fall um andere Kopfbedeckungen als um Hüte gehen.

Der GH hält es angesichts seiner Ausführungen zur Notwendigkeit des Eingriffs nicht für notwendig, auf diese Frage einzugehen.

b. Verfolgte der Eingriff ein legitimes Ziel?

Mit Rücksicht auf das im demokratischen System der Türkei verankerte Prinzip des Laizismus akzeptiert der GH, dass der Eingriff mehrere der in Art. 9 Abs. 2 EMRK aufgezählten Ziele verfolgte, nämlich die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, die Verteidigung der Ordnung sowie den Schutz der Rechte anderer.

c. War der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig?

Im Zuge der Verurteilung der Bf. wegen Zuwiderhandlung gegen Bekleidungsvorschriften begnügten sich die Gerichte erster Instanz mit der Zitierung von Bestimmungen, die ihrer Auffassung nach eine derartige Kleidung bzw. Kopfbedeckung, wie sie die Bf. trugen, verbieten würden. Die Rechtsmittelgerichte wiederum beschränkten sich auf die Feststellung, die Verurteilung der Bf. wäre rechtskonform erfolgt.

Laut der Regierung habe die Anwendung der besagten Rechtsvorschriften das Ziel verfolgt, laizistischen und demokratischen Prinzipien der Republik Respekt zu verschaffen und Akte der Provokation, des Proselytismus und der Propaganda seitens der Bf. hintanzuhalten.

Bei den Bf. handelt es sich jedoch um »einfache« Leute: Sie sind weder Repräsentanten des Staats in Ausübung einer öffentlichen Funktion noch besitzen sie irgendeinen Status als Inhaber staatlicher Befugnisse. Sie sind daher nicht zur Diskretion verpflichtet, was die öffentliche Kundgabe ihrer religiösen Überzeugungen anlangt. Die zu Art. 9 EMRK ergangene Rechtsprechung des GH zu öffentlichen Amtsträgern und insbesondere zu Lehrenden findet daher keine Anwendung.

Im vorliegenden Fall wurden die Bf. wegen des Tragens ihrer Kleidung an der Öffentlichkeit zugänglichen Orten verurteilt. Es ging also nicht um Regelungen betreffend das Tragen religiöser Symbole in öffentlichen Einrichtungen, wie etwa im Fall Leyla Sahin/TR. In derartigen Fällen hat der GH dem Aspekt der Neutralität in Glaubensfragen Vorrang gegenüber der freien Ausübung des Rechts auf Religionsfreiheit eingeräumt.

Aus den Akten geht nicht hervor, dass die Art und Weise, wie die Bf. ihren Glauben im Wege des Tragens einer speziellen Kleidung bekundeten, eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder eine Ausübung von Druck gegenüber anderen dargestellt hätte. Zu Beginn der beschwerdegegenständlichen Ereignisse versammelten sich die Bf. bekanntlich vor einer Moschee, um an einer religiösen Zeremonie teilzunehmen.

Zur These der Regierung, die Bf. hätten sich dem Proselytismus hingegeben, ist zu sagen, dass nichts in den Akten darauf hindeutet, dass sie versucht hätten, unangemessenen Druck auf Passanten auszuüben, um sie für ihre religiösen Überzeugungen zu gewinnen. Wie aus einer Stellungnahme der staatlichen Abteilung für Glaubensfragen hervorgeht, ist die Bewegung der Bf. von der Zahl her begrenzt und handelt es sich dabei um eine »Kuriosität«, während ihre Kleidung keinerlei vom Staat anerkannte religiöse Autorität besitzt.

Der GH kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Regierung für die Notwendigkeit des strittigen Eingriffs keine zwingenden Gründe vorbringen konnte und der Eingriff in das Recht der Bf., frei ihre religiösen Überzeugungen äußern zu können, nicht auf ausreichenden Gründen beruhte. Verletzung von Art. 9 EMRK (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Sajó).

II. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die festgestellte Verletzung von Art. 9 EMRK stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für immateriellen Schaden dar. Zuspruch von € 10,– an jeden der Bf. für materiellen Schaden, insgesamt € 2.000,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Vom GH zitierte Judikatur:

Leyla Sahin/TR v. 10.11.2005 (GK)

= NL 2005, 285 = EuGRZ 2006, 28 = ÖJZ 2006, 424.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 23.2.2010, Bsw. 41135/98, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 52) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_01/Arslan.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
4
  • RS0124163OGH, AUSL EGMR Rechtssatz

    01. Juli 2014·3 Entscheidungen

    Da es zu den unbestrittenen Grundregeln in Österreich üblicher menschlicher Kommunikation zählt, das Gesicht unverhüllt zu lassen (selbst durchsichtige Gesichtsschleier sind auf seltene Anlassfälle außerhalb des Gerichtssaals beschränkt), wäre es Sache der Beschwerdeführerin gewesen, überzeugend zu begründen, warum die vollständige Verschleierung ihres Gesichts gegenüber Schwurgerichtshof und Geschworenen trotz ohnehin eingeräumter Möglichkeit, „bei Betreten und Verlassen des Gerichtssaals ihr Gesicht zu verschleiern und während der Verhandlung auch das Kopftuch (Bedeckung der Haare) zu tragen" und im Gerichtssaal geltendem Verbot von Fernseh-, Film- und Fotoaufnahmen, nicht bloß als politisch-weltanschaulich motivierte Demonstration, für welche ein Gerichtssaal nicht der rechte Ort ist, aufgefasst werden sollte. Denn dass der Schwurgerichtshof darin in sachverhaltsmäßiger Hinsicht eine Missachtung des Geschworenengerichts erblickt hatte, war der Angeklagten und ihrem Verteidiger eindeutig klar gemacht worden. Die Bedenken auszuräumen und so den Respekt vor der Würde des Gerichts trotz durch den Gesichtsschleier indizierter Missachtung auch für Dritte unmissverständlich klarzustellen, hat die Angeklagte nicht unternommen, weswegen die verweigerte Wiederzulassung im Ergebnis zu Recht erfolgt ist. Bleibt anzumerken, dass die Verweigerung der Erfüllung allgemeiner Bürgerpflichten nicht von Art 9 MRK erfasst wird, mit der Ausübungsform „Beachtung religiöser Bräuche" zwar neben Gebräuchen, die in Zusammenhang mit kultischen Handlungen stehen, auch solche Handlungen geschützt werden, welche in den Bereich des Alltagslebens gehören, die Ausübung eines religiösen Brauchs allerdings nicht vorliegt, wenn eine Verhaltensweise keine in der betroffenen Religionsgemeinschaft übliche Praxis darstellt, und überdies § 234 StPO als gesetzliche Eingriffsermächtigung im Sinn des Art 9 Abs 2 MRK anzusehen ist, dessen Rechtfertigungsvoraussetzungen weitestgehend denjenigen der Abs 2 der Art 8, 10 und 11 MRK entsprechen. Auch unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit der sitzungspolizeilichen Maßnahme sind vorliegend grundrechtliche Schranken nicht überschritten worden.