JudikaturJustizBsw17862/91

Bsw17862/91 – AUSL EKMR Entscheidung

Entscheidung
12. April 1995

Kopf

Europäische Kommission für Menschenrechte, Plenum, Beschwerdesache M. C. gegen Frankreich, Bericht vom 12.4.1995, Bsw. 17862/91.

Spruch

Art. 7 EMRK - Unklarer Arzneimittelbegriff und Bestrafung

wegen illegaler Ausübung der Pharmazie.

Verletzung von Art. 7 EMRK (15:9 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. wurde - wie auch andere Geschäftsführer von Supermärkten - auf Betreiben einer Apothekervereinigung wegen "illegaler Ausübung der Pharmazie" gemäß dem frz. Gesetzbuch für die öffentliche Gesundheit strafrechtlich verurteilt, weil er verschiedene pharmazeutische Produkte verkauft habe, nämlich 70%igen Alkohol, Wasserstoffsuperoxyd, Vitamin C und Spurenelemente. Er berief sich erfolglos darauf, dass es sich nicht um "Arzneimittel" iSd. Gesetzes handelte, die dem Apothekenmonopol unterliegen. Das Erstgericht befand, es lägen nach Funktion und Bezeichnung sehr wohl Arzneimittel vor, während das Obergericht diesen Charakter lediglich aus der "Bezeichnung", insbes. aus Verpackung und Art der Produktbeschreibung, ableitete.

Der Begriff der Arzneimittel in den Rechtstexten (einschließlich einer EG-Richtlinie) ist relativ unbestimmt und die frz. Judikatur wie auch die Haltung, die die frz. Behörden zu den in Frage stehenden Produkten einnehmen, äußerst widersprüchlich. In der Strafrechtsliteratur wird das Konzept eines "Arzneimittels kraft Bezeichnung" stark kritisiert. Die Frage war auch schon mehrmals Gegenstand der Beurteilung durch den EuGH, der auf die pharmakologischen Eigenschaften im Einzelfall abstellte, Verkaufsmonopole im Interesse der öffentlichen Gesundheit grundsätzlich akzeptierte (aber nicht ausschloss, dass derartige Beschränkungen auf ihre Verhältnismäßigkeit zu hinterfragen wären) und die konkrete Beurteilung den nationalen Gerichten überließ.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt, seine Verurteilung stütze sich auf einen Gesetzestext, der so unklar und unbestimmt sei, dass er dem "Grundsatz der gesetzlichen Umschreibung von Straftatbeständen und der Strafe" nicht entspreche. Dadurch sei Art.7 EMRK (nulla poena sine lege) verletzt.

Die Kms. erinnert daran, dass es den Vertragsstaaten freisteht, Straftatbestände zu schaffen, soweit damit nicht in Konventionsrechte eingegriffen wird (vgl. Urteil Engel/NL, A/22 § 81). Doch sind sie bei der Anwendung des Strafrechts an die Allgemeinen Rechtsgrundsätze einschließlich jenes der "Vorherrschaft des Rechts" gebunden, der für das Strafrecht in Art. 7 EMRK zum Ausdruck kommt (EKMR, Salabiaku/F, Ber. v. 8.7.1987, § 62 - Annex zu EGMR, A/141). Art. 7 EMRK verbietet nicht nur die rückwirkende Anwendung von Strafbestimmungen, sondern verwirklicht ganz allgemein auch den genannten Grundsatz (vgl. EKMR, Bsw. 1852/63, Entsch. v. 22.4.1965, ECHR-Yearbook 8, 191; EKMR, Bsw. 8710/79, Entsch. v. 7.5.1982, DR 28, 77). Um als "Gesetz" iSd. Konvention zu gelten, muss eine Norm die Erfordernisse der Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit erfüllen. Sie muss so klar formuliert sein, dass jedermann - allenfalls nach sachkundiger Beratung - in der Lage ist, sein Verhalten darauf abzustellen. Wenn viele Gesetze sich vager Formulierungen bedienen, um allzu große Starrheit zu vermeiden und eine Anpassung an neue Entwicklungen zu gestatten, so obliegt es der Praxis, diese auszulegen (vgl. Urteile Sunday Times/GB, A/30 § 49; Mueller/CH, A/133 § 29; Kokkinakis/GR, A/260 § 40).

Der Bf. wurde aufgrund der in Art. L 511 des Gesetzbuches über die öffentliche Gesundheit enthaltenen Definition, die der EWG-Richtlinie 65/65 entnommen wurde, verurteilt. Danach sind Arzneimittel "alle Stoffe und Stoffzusammensetzungen, die als Mittel zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten bezeichnet werden...". Diese Definition ist wenig detailliert, was den Gerichten einen weiten Ermessensspielraum einräumt. Auch in der Judikatur des EuGH wurde der Begriff nicht präzisiert (s.o.). Entscheidend ist, ob es dem Bf. im ggst. Fall möglich war, sein Verhalten nach der Gesetzesbestimmung auszurichten.

Zwar kann es bei der Auslegung eines Gesetzes durch die Gerichte durchaus Variationen geben, zumal sich die Gegebenheiten aufgrund der Entwicklung des Marktes und der Konzeptionen ändern mögen (vgl. Urteile Barthold/D , A/90 § 47 und Müller, § 29), solange die Vorhersehbarkeit durch eine konstante, veröffentlichte und durch Untergerichte befolgte Praxis gewährleistet ist (Urteile Barthold und Kokkinakis aaO.) und die Grenzen einer vernünftigen Auslegung nicht überschritten werden (EKMR, Bsw. 1852/63, aaO., bis 13079/87, Entsch. v. 6.3.1989, DR 60, 256). Doch ist die Frage der Definition des Arzneimittels in Frankreich kontroversiell (s. Sachverhalt). Auch im vorliegenden Fall legten die Gerichte der Verurteilung des Bf. unterschiedliche Verständnisse zugrunde und gab die Reg. zu, dass es sich um "Grenzprodukte" handelte.

Art. 7 EMRK schützt die Rechtssicherheit, die aus dem allgemeinen Grundsatz der "Vorherrschaft des Rechts" (Praambel zur EMRK) fließt. Seine Bedeutung wird durch die Tatsache unterstrichen, dass Art. 7 EMRK zu den notstandsfesten Rechten zählt (Art. 15 (2) EMRK). Wenn man die von der Straßburger Judikatur zu anderen Konventionsrechten entwickelten Kriterien auf Art. 7 EMRK überträgt, erheischt der Legalitätsgrundsatz auch hier striktere Beachtung (EKMR, Bsw. 8710/79, S. 85). Schließlich geht es um das Recht auf Freiheit, die Grundlage jeder demokratischen Gesellschaft (vgl. Urteil Engel, § 82). Der Bf. konnte selbst als beruflicher Fachmann mit sachkundiger Beratung nicht mit vernünftiger Sicherheit erkennen, ob er sich mit dem Verkauf der besagten Produkte strafbar machen würde, was eine Freiheitsstrafe von 6 Tagen bis zu 6 Monaten bedeuten konnte - diese Rechtsunsicherheit grenzte an Willkür. Daher wurde der "Grundsatz der gesetzlichen Umschreibung von Straftatbeständen und der Strafe" und somit auch Art . 7 EMRK verletzt (15:9 Stimmen).

Abweichende Meinung der Kommissionsmitglieder Norgaard und anderer :

Es sei nicht untypisch für Straftatbestände, dass man zunächst (vor der Abgrenzung durch die Judikatur) nicht mit Sicherheit wisse, ob ein bestimmter Akt von ihnen erfasst sei; dies stelle noch keine Verletzung von Art. 7 EMRK dar. Für den durchschnittlichen Verbraucher habe es sich hier um Arzneimittel gehandelt. Der Bf. hatte die Möglichkeit, sich über die Risken zu informieren, denen er sich mit dem Verkauf seiner Produkte aussetzte, und er handelte wohl in Kenntnis der möglichen Konsequenzen. Sowohl im Hinblick auf die Auslegung des Gesetzes als auch dessen Anwendung war dem Erfordernis der Vorhersehbarkeit iSv. Art. 7 EMRK Genüge getan worden.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über den Bericht der EKMR vom 12.4.1995, Bsw. 17862/91, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1995,112) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Der Bericht im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/95_3/M.C. v F_f.pdf

Das Original des Berichts ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
4