JudikaturJustiz4R203/04s

4R203/04s – OLG Innsbruck Entscheidung

Entscheidung
27. September 2004

Kopf

Das Oberlandesgericht Innsbruck als Berufungsgericht hat durch den Senatspräsidenten des Oberlandesgerichtes Dr. Robert Braunias als Vorsitzenden sowie die Richter des Oberlandesgerichtes Dr. Heinz J. Moser und Dr. Wolfram Purtscheller als weitere Mitglieder des Senates in der Rechtssache der klagenden Partei T*****, vertreten durch DDr. Patrick Vergörer, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei W*****, vertreten durch Emberger Rechtsanwaltskanzlei GmbH, Plankengasse 2, 1010 Wien, wegen EUR 54.648,62 über die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichtes Innsbruck vom 15.7.2004, *****, in nicht öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird teilweise Folge gegeben. Das angefochtene Urteil wird dahingehend abgeändert, dass es unter Einbeziehung des in Rechtskraft erwachsenen und bestätigten Teiles lautet:

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei zu Handen des Klagsvertreters binnen 14 Tagen EUR 47.381,34 samt 5 % Zinsen aus EUR 37.934,-- vom 4.12.2003 bis 12.4.2004 und aus EUR 47.381,34 seit 13.4.2004 zu bezahlen und einen mit EUR 7.252,59, darin enthalten EUR 949,39 Umsatzsteuer, bestimmten Anteil der Verfahrenskosten erster Instanz zu ersetzen.

Das auf Zahlung von EUR 7.267,28 samt 5 % Zinsen seit 28.6.2004 gerichtete Mehrbegehren sowie das Zinsenmehrbegehren von 5 % aus EUR 35.428,-- vom 12.6.2003 bis 25.11.2003 und aus EUR 37.934,-- vom 26.11.2003 bis 3.12.2003 werden abgewiesen.

Die beklagte Partei ist weiter schuldig, der klagenden Partei zu Handen des Klagsvertreters binnen 14 Tagen einen mit EUR 1.582,22, darin enthalten EUR 300,85 Umsatzsteuer, bestimmten Anteil der Kosten des Berufungsverfahrens zu ersetzen.

Die ordentliche Revision ist zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger schloss bei der beklagten Partei eine Unfallversicherung ab, der die AUB 94 und die Besonderen Bedingungen zur Maklerpool-Gruppenunfallversicherung zugrunde liegen. Die Versicherungssumme für den Fall der Invalidität beträgt EUR 726.728,34 (S 10 Mio).

§ 7 AUB 94 sieht ua Folgendes vor:

...

I. Invaliditätsleistung:

1. Führt der Unfall zu einer dauernden Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit (Invalidität) des Versicherten, so entsteht Anspruch auf Kapitalleistung aus der für den Invaliditätsfall versicherten Summe.

...

2. Die Höhe der Leistung richtet sich nach dem Grad der Invalidität.

a) Als feste Invaliditätsgrade gelten - unter Ausschluss des

Nachweises einer höheren oder geringeren Invalidität - bei Verlust

oder Funktionsunfähigkeit

... eines Beines über der Mitte des Oberschenkels 70 %

eines Beines bis zur Mitte des Oberschenkels 60 %

eines Beines unterhalb des Kniees 50 %

eines Beines bis zur Mitte des Unterschenkels 45 %

...

b) Bei Teilverlust oder Funktionsbeeinträchtigung eines dieser Körperteile oder Sinnesorgane wird der entsprechende Teil des Prozenzsatzes nach a) angenommen.

c) Werden durch den Unfall Körperteile oder Sinnesorgane betroffen, deren Verlust oder Funktionsunfähigkeit nicht nach a) oder b) geregelt sind, so ist für diese maßgebend, inwieweit die normale körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit unter ausschließlicher Berücksichtigung medizinischer Gesichtspunkte beeinträchtigt ist.

...

Punkt 20 der Besonderen Bedingungen zur Maklerpool-Gruppenunfallversicherung sieht eine "verbesserte Gliedertaxe" wie folgt vor:

Der § 7 I (2) a) AUB 94 wird gestrichen und wie folgt ersetzt:

Als feste Invaliditätsgrade gelten - unter Ausschluss des Nachweises einer höheren oder geringeren Invalidität - bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit

...

eines Beines über der Mitte des Oberschenkels 75 %

eines Beines bis zur Mitte des Oberschenkels 65 %

eines Beines bis unterhalb des Knies 55 %

eines Beines bis zur Mitte des Unterschenkels 50 %

...

Während der Laufzeit dieser Unfallversicherung stürzte der Kläger beim Eislaufen und zog sich am rechten Knie Verletzungen zu. Mit der vorliegenden, im Laufe des Rechtsstreites ausgedehnten Klage begehrt der Kläger die Zahlung von EUR 54.648,62 samt Stufenzinsen mit der Behauptung, als Folge des Unfalles sei eine teilweise Funktionsunfähigkeit seines rechten Beines bis über der Mitte des Oberschenkels eingetreten. Dafür sei ein fester Invaliditätsgrad von 75 % vereinbart worden. Die Minderung des Beinwertes betrage 10 %, sodass der Kläger Anspruch auf Leistung eines Betrages von EUR 54.504,62 habe. Darüber hinaus stünden ihm Fahrtkosten zu einer von der beklagten Partei angeordneten ärztlichen Untersuchung von EUR 144,-- zu, sodass das gesamte Begehren EUR 54.648,62 betrage. Die beklagte Partei beantragte die Abweisung der Klage. Sie bestritt den Eintritt eines Dauerschadens des rechten Beines des Klägers und verwies im Übrigen darauf, dass bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit eines Beines bis zur Mitte des Oberschenkels 65 % als fester Invaliditätsgrad unter Ausschluss des Nachweises einer höheren oder geringeren Invalidität vereinbart worden sei.

Mit dem angefochtenen Urteil gab das Erstgericht dem Klagebegehren mit EUR 54.648,62 samt Stufenzinsen statt; ein Zinsenmehrbegehren wurde - unbekämpft - abgewiesen.

Die zum Verständnis des Berufungsverfahrens erforderlichen weiteren Feststellungen sind wie folgt zusammenzufassen:

Vor dem gegenständlichen Unfall hatte der Kläger keine Knieverletzungen erlitten. Durch den Unfall erlitt der Kläger einen Riss des Innenseitenbandes des Kniegelenkes rechts, wobei dieser mittlerweile abgeheilt ist und keinerlei Dauerfolgen mit sich bringt. Darüber hinaus erlitt der Kläger einen frischen Einriss des vorderen Kreuzbandes rechts, wobei dieser eine Minderung des Beines rechts im Ausmaß von 1/10 des gesamten Beinwertes mit sich bringt. Die Bewegungskette des Knies beginnt im Hüftgelenk. Fast alle Muskeln, die mit der Beweglichkeit des Knies zu tun haben, beginnen an bzw knapp unterhalb der Hüfte, jedenfalls über der Mitte des Oberschenkels. Auch die Bewegungsfunktion geht über die Mitte des Oberschenkels hinaus. Das Kniegelenk ist das größte Gelenk des menschlichen Körpers, wenn es beeinträchtigt ist, ist das gesamte Bein wesentlich beeinträchtigt. Nachdem wie dargestellt, die Muskeln des Knies bis zur Hüfte gehen, ist aus medizinischer Sicht das rechte Bein des Klägers über die Mitte des Oberschenkels beeinträchtigt, wobei aus medizinischer Sicht der in den AUB 94 gewählte Begriff des "Körperteils" das gesamte Bein darstellt.

Aus medizinischer Sicht ist die in den AUB 94 vereinbarte und dargestellte Gliedertaxe so zu verstehen, dass diese ein auf Amputationen abgestellter Katalog ist, der ua darauf abstellt, ob bei einer Beinamputation ein kurzer oder langer Stumpf bzw ein Stumpf unter dem Knie bzw im Knie verbleibt, wobei aus medizinischer Sicht dann, wenn eine solche Amputation nicht vorliegt, auf die sich aus medizinischer Sicht ergebenden Funktionsbeeinträchtigungen abzustellen ist. Bei der beim Kläger am rechten Knie vorbleibenden Dauerfolge handelt es sich um eine globale Funktionsbeeinträchtigung, die das gesamte Bein betrifft und die Funktion des gesamten Beines beeinträchtigt.

Aus rechtlicher Sicht führte das Erstgericht aus, aus medizinischer Sicht verstehe man unter dem Begriff des Körperteils im Sinne der vereinbarten Gliedertaxe das gesamte Bein. Nachdem die Verletzung des Klägers am Knie auch eine Beeinträchtigung des gesamten Beines bis über die Mitte des Oberschenkels darstelle, sei die Gliedertaxe für ein Bein bis über der Mitte des Oberschenkels heranzuziehen, somit 75 %, wobei der Kläger im Hinblick auf den verbleibenden Dauerschaden von 10 % Anspruch auf Bezahlung von 10 % des sich auf diese Weise ergebenden Betrages habe. Daraus errechne sich ein Anspruch des Klägers von EUR 54.504,62. Der Kläger habe auch Anspruch auf Zahlung der Fahrtkosten von EUR 144,--.

Dieses Urteil bekämpft die beklagte Partei im Umfang eines Zuspruches von EUR 54.504,62 samt Zinsen; der Zuspruch von Fahrtkosten von EUR 144,-- blieb somit unbekämpft. Sie macht die Berufungsgründe der unrichtigen Tatsachenfeststellungen und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung geltend und beantragt, das angefochtene Urteil im Umfang der Anfechtung abzuändern, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Kläger beantragte in der Berufungsbeantwortung, der Berufung

nicht Folge zu geben.

Die Berufung ist teilweise berechtigt.

Mit der Beweisrüge bekämpft die Beklagte die Feststellung, wonach der Kläger beim gegenständlichen Unfall auch einen Einriss des vorderen Kreuzbandes und damit eine Minderung des Beines rechts im Ausmaß von 1/10 des gesamten Beinwertes erlitten hat, und begehrt stattdessen Negativfeststellungen. Sie macht geltend, dass der vom Erstgericht beigezogene Sachverständige den Teileinriss des vorderen Kreuzbandes nur als "fraglich" frisch bezeichnet habe, sodass die Kausalität zwischen dem Unfall und der Beinwertminderung nicht sicher festgestellt werden könne. Die Aussage des Klägers als Partei biete insoweit ebenfalls keinen vollen Beweis, weil er einen Unfall, der sich vor dem gegenständlichen ereignet haben könnte, auch vergessen haben könnte.

Das Berufungsgericht übernimmt die bekämpfte Feststellung vor allem unter Hinweis auf die zutreffende Beweiswürdigung durch das Erstgericht (§ 500 a ZPO). Der vom Kläger geschilderte und von der Beklagten auch nicht in Zweifel gezogene Unfallshergang kann zwanglos zur behaupteten Verletzung auch des vorderen Kreuzbandes geführt haben, wobei im Nachhinein eine gutachterliche zeitliche Zuordnung dieser Verletzung nicht exakt möglich ist, sodass die Frage der Kausalität nur durch Berücksichtigung weiterer Beweisergebnisse geklärt werden kann. Nachdem ein Einriss des vorderen Kreuzbandes, der im vorliegenden Fall immerhin zu Dauerfolgen führte, mit Sicherheit nicht unbemerkt bleiben kann, ist die vom Erstgericht im Rahmen der Beweiswürdigung gezogene Schlussfolgerung, dass ein Irrtum des Klägers über den kausalen Zusammenhang zwischen seinem Sturz und dem Kreuzbandriss auszuschließen ist, nicht zu beanstanden.

Rechtliche Beurteilung

Damit steht fest, dass die beklagte Partei die vereinbarte Versicherungsleistung für eine Beinwertverminderung im Ausmaß von 10 % zu erbringen hat, wobei strittig ist, ob die festgestellte teilweise Funktionsunfähigkeit das Bein zur Mitte des Oberschenkels (65 %) oder auch über der Mitte des Oberschenkels (75 %) betrifft. Dabei handelt es sich um eine Rechtsfrage, nämlich die Auslegung der vereinbarten Gliedertaxe, sodass Änderungen der Tatsachengrundlage nicht erforderlich sind; soweit das Erstgericht in seine Tatsachenfeststellungen auch rechtliche Überlegungen einbettete, ist die von der Berufungswerberin beantragte ersatzlose Streichung derselben nicht erforderlich.

Das Erstgericht stützte seine Auffassung, es sei die für die

Funktionsunfähigkeit eines Beines über der Mitte des Oberschenkels

vereinbarte Gliedertaxe von 75 % anzuwenden, auf funktionale

Überlegungen, die zwar aus medizinischer Sicht durchaus

nachvollziehbar sind, den Zweck einer Gliedertaxe aber außer Acht

lassen. Eine Gliedertaxe sieht - unter Ausschluss des Nachweises

einer höheren oder geringeren Invalidität - feste Invaliditätsgrade

für den Verlust oder die Funktionsunfähigkeit genau umschriebener

(rumpfferner) Körperteile vor, und zwar auch für Körperteile, die

aneinander grenzen und sich aus medizinischer Sicht in ihrer

Funktionalität beeinflussen. Käme es ausschließlich auf diese

funktionellen Zusammenhänge an, wäre die Gliedertaxe in der vorliegenden Form teilweise sinnlos, weil etwa der Verlust (die Amputation) eines Beines unterhalb der Mitte des Oberschenkels ohne jeden Zweifel auch die Funktion des oberhalb verbleibenden Beinteiles beeinträchtigen wird, sodass die vereinbarte niedrigere Gliedertaxe für den Verlust eines Beines bis zur Mitte des Oberschenkels bei dieser Betrachtungsweise nie zum Tragen käme. Nichts anderes kann gelten, wenn es sich nicht um einen Verlust oder einen Eintritt der vollen Funktionsunfähigkeit des Beines handelt, sondern um eine teilweise Funktionsunfähigkeit, die von einem umgrenzten Teil des Beines, etwa, wie im vorliegenden Fall, vom Kniegelenk ausgeht. Diese einschränkende Betrachtungsweise in Bezug auf die Gliedertaxe in der Unfallversicherung wurde vom OGH in der Entscheidung 7 Ob 51/87 (RIS-Justiz RS0082244, VersRdSch 1988, 167) vertreten, wonach bei unfallsbedingter Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Hand durch Verlust oder teilweisen Verlust einzelner Finger für die Ermittlung des Invaliditätsgrades die Gliedertaxe für die einzelnen Finger, nicht auch für die verbleibende Hand zugrunde zu legen ist.

Auch die deutsche Rechtsprechung vertritt die Auffassung, bei den Prozentsätzen der Gliedertaxe sei bereits berücksichtigt, dass der Verlust eines rumpfferneren Gliedes auch die Gebrauchsfähigkeit des

verbleibenden Teiles beeinträchtigen mag (BGH VersR 90, 964; 91, 57, 413 = NJW-RR 604; RuS 91/355; RuS 93, 318).

Von der zu 7 Ob 51/87 gegebenen Fallgestaltung unterscheidet sich der vorliegende Fall allerdings dahingehend, dass an der maßgeblichen Grenze für die Ermittlung des Invaliditätsgrades (Mitte des Oberschenkels) anders als zwischen Finger und Hand kein Gelenk liegt, sondern dass sich darüber die Oberschenkelmuskulatur spannt, sodass aus rein medizinischer Sicht tatsächlich eine wesentlich engere funktionale Verbindung besteht. Das könnte aber nach Ansicht des Berufungsgerichtes nur dann zu einer Einbeziehung der oberen Hälfte des Oberschenkels führen, wenn diese funktionale Verbindung schädigende Auswirkungen auf diesen Bereich hätte, etwa in der Form einer Verschmächtigung der Muskulatur oder einer sekundären Schädigung des Hüftgelenkes, was beim Kläger aber nicht der Fall ist. Ist eine übergreifende Schädigung nicht eingetreten, kommt es bei der Ermittlung des Invaliditätsgrades nach der Gliedertaxe nur auf die Lage jener Verletzung an, die zur Teilinvalidität geführt hat. Maßgeblich ist im vorliegenden Fall somit die (verbesserte) Gliedertaxe für das Bein bis zur Mitte des Oberschenkels, somit 65 %. Auf dieses Teilglied entfällt somit ein Betrag von EUR 472.373,42. Die dem Kläger zustehende Versicherungsleistung (10 %) beträgt somit EUR 47.237,34. Unter Berücksichtigung der im Berufungsverfahren nicht mehr strittigen Fahrtkosten von EUR 144,-- war dem Klagebegehren somit mit EUR 47.381,34 Folge zu geben.

Die Entscheidung über die Verfahrenskosten erster Instanz gründet in den §§ 41, 43 Abs 1 ZPO. Bis zur letzten, offensichtlich in der zweiten Stunde der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung am 28.6.2004 vorgenommenen Klagsausdehnung ist der Kläger zur Gänze durchgedrungen, in der zweiten Stunde mit 86 % seines Begehrens, sodass er Anspruch auf Ersatz von 72 % der Kosten der zweiten Stunde hat. Auf diese Weise errechnet sich unter Berücksichtigung der vom Erstgericht richtig dargelegten Barauslagen ein Kostenersatzanspruch des Klägers für das Verfahren erster Instanz von EUR 7.252,59. Auch im Berufungsverfahren ist der Kläger mit 86 % durchgedrungen. Er hat Anspruch auf 72 % der richtig verzeichneten Kosten der Berufungsbeantwortung (EUR 1.805,10) und andererseits der beklagten Partei 14 % der für die Berufung entrichteten Pauschalgebühr (EUR 222,88) zu ersetzen.

Die ordentliche Revision war zuzulassen, weil der OGH, soweit ersichtlich, zur vorliegenden Fallgestaltung (Gliedertaxe bei teilweiser Funktionsunfähigkeit eines Beines aufgrund einer unterhalb der Mitte des Oberschenkels liegenden Verletzung) noch nicht Stellung genommen hat.

Rechtssätze
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