JudikaturJustiz4Ob174/22z

4Ob174/22z – OGH Entscheidung

Entscheidung
20. Dezember 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ. Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, MMag. Matzka und Dr. Annerl sowie die Hofrätin Mag. Fitz als weitere Richter in der Erwachsenenschutzsache der betroffenen Person R*, geboren am * 1953, *, vertreten durch das VertretungsNetz Patientenanwaltschaft als besonderer Rechtsbeistand, dieser vertreten durch Dr. Marco Nademleinsky, Rechtsanwalt in Wien, über den Revisionsrekurs des gerichtlichen Erwachsenenvertreters Dr. M*, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 21. Juli 2022, GZ 1 R 152/22p 110, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Weiz vom 12. Mai 2022, GZ 30 P 16/19f 106, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

[1] Die Betroffene leidet an schwerer paranoider Schizophrenie sowie an einer Temporallappenepilepsie. Sie wurde in den letzten Jahren häufig in der geschlossenen Abteilung des psychiatrischen Krankenhauses untergebracht. Zuletzt lehnte sie eine Entlassung aus diesem ab, mehrere Entlassungsversuche scheiterten. Daraufhin wurde eine Asylierung verfügt, weshalb sich die Betroffene nach wie vor im Krankenhaus aufhält.

[2] Der gerichtliche Erwachsenenvertreter der Betroffenen beantragte die pflegschaftsbehördliche Genehmigung der medizinischen Maßnahme der Verabreichung einer Covid-19 Schutzimpfung (samt deren notwendigen Auffrischungen). Ein gültiges Impfzertifikat werde voraussichtlich Voraussetzung für die Aufnahme in eine private Pflegeeinrichtung sein.

[3] Der vom Erstgericht gemäß § 131 Abs 1 Z 1 AußStrG bestellte besondere Rechtsbeistand der Betroffenen sprach sich (nach Rücksprache mit der Betroffenen, die die Impfung ablehnte) gegen den Antrag aus, weil die Betroffene bereits zweimal an Covid 19 erkrankt sei und daher die Behandlung nicht erforderlich sei.

[4] Das Erstgericht wies den Antrag ab. Nach derzeitiger Lage sei eine Unterbringung in eine geeignete Pflegeeinrichtung nicht möglich, da die Betroffene dazu nicht bereit sei und nicht dazu gezwungen werden könne. Die derzeit herrschende Omikron-Variante bringe fast durchwegs leichtere Krankheitsverläufe, sodass die medizinische Notwendigkeit einer Impfung im Vergleich zur früheren Lage in weit geringerem Ausmaß gegeben erscheine. In dieser Situation würde eine Genehmigung der Behandlung gegen den ausdrücklichen Willen der Betroffenen nicht ihrem Wohl entsprechen. Dazu komme noch, dass die Impfung durch Ausübung unmittelbaren Zwangs nicht durchgesetzt werden dürfte.

[5] Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil zur Interessenabwägung gemäß § 254 Abs 1 ABGB in Bezug auf Covid-19-Impfungen bislang keine höchstgerichtliche Rechtsprechung bestehe. Eine medizinische Behandlung sei nur zu genehmigen, wenn der damit verbundene medizinische Vorteil die zu erwartenden Belastungen deutlich überwiege. Dies sei hier nicht der Fall. Die Betroffene sei bereits zweimal an Covid-19 erkrankt, sodass von einer gewissen Immunabwehr auszugehen sei. Außerdem bringe die Omikron-Variante deutlich leichtere Krankheitsverläufe als frühere Varianten. Es sei auch nicht gesichert, dass sich der Gesundheitszustand der Betroffenen in einem Pflegeheim deutlich verbessern werde. Überdies könne die Impfung dazu führen, dass die Betroffene damit Assoziationen und vermehrt psychotische Ideen bilde.

[6] Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Erwachsenenvertreters mit dem Antrag, die Durchführung der Impfung zu genehmigen.

Rechtliche Beurteilung

[7] Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig ; er ist aber nicht berechtigt .

[8] 1.1. Gemäß § 254 Abs 1 ABGB bedarf die Zustimmung des Erwachsenenvertreters zur medizinischen Behandlung bei Ablehnung derselben durch die nicht entscheidungsfähige Person der Genehmigung durch das Gericht.

[9] 1.2. Gegenstand der Prüfung durch das Gericht ist, ob das Wohl der vertretenen Person durch das Unterbleiben der Behandlung erheblich gefährdet wäre; nur in diesem Fall dürfen sich Gericht und Vertreter über den Willen der vertretenen Person hinwegsetzen ( Weitzenböck in Schwimann/Kodek , ABGB 5 § 254 Rz 4). Das Gericht sollte sich nur dann über die Haltung des Betroffenen hinwegsetzen, wenn das Unterbleiben der Behandlung mit gewichtigen Nachteilen für dessen Gesundheit verbunden wäre (vgl Stefula in KBB, ABGB 6 § 254 Rz 1). Die „non-compliance“ des einwilligungsunfähigen Patienten sollte nur dann zuungunsten einer medizinisch indizierten Behandlung den Ausschlag geben, wenn der mit dieser Behandlung verbundene Nutzen (Aussicht auf Heilung oder zumindest auf Verminderung des Leidens des Patienten) die zu erwartenden (psychischen) Belastungen nicht deutlich überwiegt ( Bernat in Deixler-Hübner/Schauer , Erwachsenenschutzrecht [2018] Rz 8.39). Ausgeschlossen ist eine Behandlung gegen den körperlichen Widerstand der vertretenen Person; in diesem Fall ist nach dem Unterbringungsgesetz zu verfahren ( Pesendorfer in Klang, ABGB 3 § 254 Rz 9).

[10] 1.3. Wesentlich ist die Klärung der Frage der Erforderlichkeit der Behandlung. Das Gericht hat sich ausreichend (medizinische) Entscheidungsgrundlagen zu verschaffen, allenfalls durch Beiziehung eines Sachverständigen (vgl Zierl/Schweighofer/Wimberger , Erwachsenenschutzrecht 2 Rz 278, die die Beiziehung eines Sachverständigen in jedem Fall für erforderlich halten).

[11] 2.1. Im vorliegenden Fall hat der vom Erstgericht beigezogene psychiatrische Sachverständige ausgeführt, dass die Betroffene im Hinblick auf eine Covid-19 Impfung aus psychiatrischer Sicht nicht entscheidungsfähig sei, und dass es unter Berücksichtigung der medizinischen Erkenntnisse und der Gesichtspunkte, welche dem derzeitigen Wissensstand entsprechen, im vorliegenden Fall keine Alternativmethode (als die Corona-Impfung) gebe, welche einen geringeren Eingriff in die persönliche und körperliche Integrität der Betroffenen bedeuten würde, um eine Immunität ohne vorherige Erkrankung an Covid-19 zu erreichen.

[12] 2.2. Die Vorinstanzen haben aber festgestellt, dass die Betroffene bereits zweimal an Corona erkrankt ist, so dass davon auszugehen sei, dass sie selbst eine gewisse Immunabwehr gegen diese Krankheit entwickelt habe. Dies wird auch vom Revisionsrekurswerber anerkannt, der ausführt, dass es vermutlich medizinisch den Tatsachen entspreche, dass aufgrund der bereits erfolgten Covid-19 Erkrankungen die Betroffene eine entsprechende Immunabwehr besitzen werde und ihr die zu verabreichende Impfung für die derzeit grassierenden Varianten der Covid-19 Erkrankung keinen (wesentlichen) Gesundheitsvorteil mehr bringen werde. Es sei allerdings nicht ausgeschlossen, dass eine neuerliche Variantenänderung der Covid-19 Erkrankung wiederum zu einem veränderten Ansteckungsbild führen könne, wofür die Covid-19 Schutzimpfung den besten und weitreichendsten Schutz gegen einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf liefere, weshalb die Abwägung zugunsten einer Covid-19 Schutzimpfung ausfallen solle. Überdies biete die Impfung der Betroffenen zumindest die theoretische Möglichkeit, die geschlossene Abteilung des Krankenhauses zu verlassen.

[13] 2.3. Damit gingen die Vorinstanzen vertretbar davon aus, dass der Nutzen der angestrebten Behandlung (Covid-19 Impfung) im hier konkret zu beurteilenden Fall die zu erwartenden Belastungen der Betroffenen nicht deutlich überwiegt. Auch die – theoretische – Möglichkeit der Erlangung eines Betreuungsplatzes in einer privaten Pflegeeinrichtung wiegt nicht schwer genug, um den Ausschlag für die Genehmigung der beantragten Maßnahme zu geben, zumal es offen ist, ob eine derartige Verlegung die gesundheitliche Situation der Betroffenen verbessern würde.

[14] 2.4. Der Senat schließt sich daher der Beurteilung der Vorinstanzen an, die die gerichtliche Genehmigung der Zustimmung des gerichtlichen Erwachsenenvertreters zur Verabreichung einer Covid-19 Schutzimpfung samt der notwendigen Auffrischungen abgelehnt haben.