JudikaturJustiz12Os140/20k

12Os140/20k – OGH Entscheidung

Entscheidung
18. Februar 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 18. Februar 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Oshidari, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski und Dr. Brenner und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in der Strafsache gegen Leopold H***** und andere wegen des Verbrechens der Untreue nach § 153 Abs 1 und Abs 3 zweiter Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 4 St 7/14w der Zentralen Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption, über den Antrag des Beschuldigten Dr. Michal L***** auf Erneuerung des Strafverfahrens gemäß § 363a StPO nach Anhörung der Generalprokuratur nichtöffentlich gemäß § 62 Abs 1 zweiter Satz OGH Geo 2019 den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1] Die Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption (nachfolgend kurz WKStA) führt (unter anderem) gegen Dr. Michal L***** zu AZ 4 St 7/14w ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Untreue nach § 153 Abs 1 und Abs 3 zweiter Fall StGB.

[2] In diesem Verfahren bestellte die Einzelrichterin (§ 31 Abs 1 Z 1 iVm § 104 Abs 1 StPO) des Landesgerichts Korneuburg über Verlangen mehrerer Beschuldigter (§ 126 Abs 5 erster Satz StPO) mit Beschluss vom 10. November 2015, GZ 404 HR 256/14z 345, Mag. Heimo P***** zum Sachverständigen aus dem Fachgebiet des Speditionswesens.

[3] Ausgehend von einem Ersuchen des Sachverständigen vom 6. November 2018 um Zugang zu weiteren für die Erstattung des Gutachtens erforderlichen Unterlagen (ON 1105) trug ihm das Landesgericht Korneuburg mit Beschluss vom 19. Februar 2019, GZ 404 HR 256/14z 1219, auf, von der Privatbeteiligten R***** 300 Ordner mit Unterlagen entgegenzunehmen und sie nach Relevanz zu sichten, allenfalls das Fehlen weiterer bekannt zu geben und die erheblichen Unterlagen dem Gutachten als Beilage anzuschließen. Letztlich übernahm der Sachverständige 42 Ordner (ON 1259 und ON 1321), wobei bei der Herausgabe von 30 Ordnern an den Sachverständigen ein Kriminalbeamter anwesend war.

[4] Noch vor Fertigstellung des Gutachtens am 30. September 2020 (ON 1547) beantragte der Beschuldigte Dr. Michal L***** bei der WKStA mit Eingabe vom 4. November 2019 die Einsichtnahme in die 42 beim Sachverständigen befindlichen Ordner (ON 1372). Nach deren Mitteilung, dass es sich hier nicht um der Kriminalpolizei oder der Staatsanwaltschaft vorliegende Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens handle, erhob der Genannte am 10. Jänner 2020 Einspruch wegen Rechtsverletzung (ON 1404).

[5] Diesen wies die Einzelrichterin des Landesgerichts Korneuburg mit Beschluss vom 6. Februar 2020, GZ 404 HR 256/14z 1420, ab. Der dagegen erhobenen Beschwerde (ON 1427) gab das Oberlandesgericht Wien als Beschwerdegericht mit Beschluss vom 20. Mai 2020, AZ 20 Bs 77/20z, keine Folge (ON 1486). Begründend führte es aus, dass die 42 Ordner vor Erstattung des Gutachtens noch keine Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens darstellten. Allein jene Unterlagen, die nach Fertigstellung des Gutachtens diesem als Beilage angefügt seien, würden der Akteneinsicht unterliegen. Da sie vor diesem Zeitpunkt auch der Kriminalpolizei und der Staatsanwaltschaft nicht zur Verfügung stünden, sei eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör und der Waffengleichheit nicht auszumachen. Die Anwesenheit eines Kriminalbeamten bei der Übergabe eines Teils der in Rede stehenden Ordner sei für diese Beurteilung nicht von Bedeutung, weil es nicht zu einem kriminalpolizeilichen Handeln gekommen sei.

[6] Gegen diesen Beschluss des Oberlandesgerichts richtet sich der Antrag des Beschuldigten Dr. Michal L***** auf Erneuerung des Verfahrens nach § 363a StPO. Er behauptet darin, durch die Verweigerung der Einsichtnahme in die 42 Ordner in seinem Recht auf rechtliches Gehör (Art 6 Abs 1 MRK), auf ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung (Art 6 Abs 3 lit b MRK) sowie auf uneingeschränkte Verteidigung (Art 6 Abs 3 lit c MRK) verletzt worden zu sein, und reklamiert einen Verstoß gegen den Grundsatz der Waffengleichheit (Art 6 Abs 1 MRK), weil bei der Übergabe der Ordner ein Kriminalbeamter anwesend gewesen und der Kriminalpolizei während des Zeitraums bis zur Fertigstellung des Gutachtens vom Sachverständigen ein Zugriff auf eine von ihm erstellte elektronische Datenbank ermöglicht worden sei.

Rechtliche Beurteilung

[7] Der Antrag vermag aber nicht schlüssig darzulegen, wie der Antragsteller durch die kritisierte Entscheidung in seinem von Art 6 Abs 1 und Abs 3 lit b und c MRK garantierten Recht auf Akteneinsicht tangiert worden sein soll, stellten doch jene (nicht an die Kriminalpolizei oder die Staatsanwaltschaft herausgegebenen [BS 2 und 4]) Unterlagen, die der gerichtlich bestellte Sachverständige nach Relevanz für die Erstattung von Befund und Gutachten sichtete, keine Beweismittel dar, die (hier) der Staatsanwaltschaft (§ 101 Abs 1 StPO) bezogen auf den Zeitpunkt der behaupteten Rechtsverweigerung als Grundlage für die im Ermittlungsverfahren zu treffenden Entscheidungen dienten (vgl Wiederin , WK StPO § 6 Rz 27 [„in Händen staatlicher Behörden“] und 31 [„über die sie verfügen“] je mit Nachweisen aus der Judikatur des EGMR; Grabenwarter/Pabel , EMRK 6 § 24 Rz 72 f [„in ihrem Besitz befindlichen Beweismittel“]; zum auf die rechtliche Verfügbarkeit abstellenden Begriff des Vorliegens iSd § 51 Abs 1 StPO Ratz , Führung von Ermittlungsverfahren und Ermittlungsakt, ÖJZ 2020, 865 [872]). Inwiefern hier die Anwesenheit eines Kriminalbeamten bei der Übergabe der Unterlagen an den Sachverständigen von Bedeutung sein soll, wird nicht klar.

[8] Im Übrigen legt der Erneuerungsantrag nicht dar, dass das reklamierte Grundrechtsziel (eines zur Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage führenden fairen Verfahrens) durch die behauptete Verweigerung der Akteneinsicht, die sich der Sache nach auf eine vorgebrachte Verkürzung von Rechten des Beschuldigten anlässlich der Befundaufnahme (vgl RIS Justiz RS0096652; Hinterhofer , WK-StPO § 127 Rz 16 mwN) des im Ermittlungsverfahren gerichtlich bestellten Sachverständigen beschränkt, endgültig vereitelt worden wäre, der Antragsteller somit ungeachtet seiner Möglichkeiten, im weiteren (Ermittlungs- sowie allfälligen Haupt- und Rechtsmittel-)Verfahren die Einsichtnahme in das Gutachten samt Beilagen zu erwirken und dessen Ergänzung zu beantragen oder Anträge nach § 238 StPO zu stellen, das Gutachten aus dem Ermittlungsverfahren in der Hauptverhandlung nicht vorkommen zu lassen sowie ein neues Gutachten in Auftrag zu geben, Opfer im Sinn des Art 34 MRK sei (RIS Justiz RS0122737 [T17]; vgl zum gegenständlichen Ermittlungsverfahren bereits 17 Os 19/16x).

[9] Indem der Erneuerungswerber im Weiteren einen „Wissensvorsprung“ der Staatsanwaltschaft und der Kriminalpolizei behauptet und davon ausgehend eine Verletzung des Grundsatzes der Waffengleichheit reklamiert, argumentiert er nicht auf Basis der Sachverhaltsannahmen des Oberlandesgerichts, wonach diesen die 42 Ordner im Zeitpunkt der behaupteten Rechtsverweigerung nicht zur Verfügung standen (BS 2 und 4; vgl RIS Justiz RS0124359, RS0125393 [T1]). Es sei daher lediglich aus Gründen der Vollständigkeit festgehalten, dass Staatsanwaltschaft und Beschuldigter beim Sachverständigenbeweis im Rahmen gerichtlicher Beweisaufnahme Verfahrensparteien mit denselben Rechten sind (im gegenständlichen Ermittlungsverfahren bereits 17 Os 7/18k, 13/18t, 14/18i; Ratz , Initiative, Bestellung und Führung beim Sachverständigenbeweis der StPO, ÖJZ 2018, 951 [952]; vgl zur Verfügbarkeit von Unterlagen unter dem Aspekt der Waffengleichheit 11 Os 66/20w).

[10] Soweit der Antrag in diesem Zusammenhang – auf der spekulativen Annahme einer vollständigen Übertragung des Inhalts der 42 Ordner beruhend – erstmals behauptet, der Sachverständige habe der Kriminalpolizei den Zugriff auf eine von ihm erstellte elektronische Datenbank ermöglicht, lässt er das Erfordernis der horizontalen Rechtswegausschöpfung unberücksichtigt (RIS Justiz RS0122737 [T13]; siehe im Übrigen zum Umfang der Akteneinsicht im Fall erst auszuwertender Unterlagen Ratz , ÖJZ 2020, 865 [872]).

[11] Der Erneuerungsantrag war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – bei der nichtöffentlichen Beratung zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 StPO).