JudikaturJustiz10ObS110/20d

10ObS110/20d – OGH Entscheidung

Entscheidung
26. Februar 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ. Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*****, vertreten durch Dr. Christian Klotz, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, wegen Ausgleichszulage, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 2. Juli 2020, GZ 23 Rs 17/20a 23, mit dem über Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom 17. September 2019, GZ 75 Cgs 83/19v 17, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben. Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts einschließlich der Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei hat ihre Kosten des Verfahrens zweiter und dritter Instanz selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

[1] Der Kläger ist 1939 geboren, er ist deutscher Staatsbürger. Gegenstand des Verfahrens ist das Vorliegen eines rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalts des Klägers im Inland im Sinn des § 292 Abs 1 ASVG zur Beurteilung seines Anspruchs auf Ausgleichszulage ab dem 1. 8. 2018.

[2] Der Kläger wurde im Jahr 2000 von seiner damaligen Ehegattin geschieden. Zu diesem Zeitpunkt lebte er in R***** in Deutschland und betrieb dort ein Unternehmen, das er auch nach der Scheidung weiterführte. Seit dem Jahr 1999 verbrachte er die Wochenenden bei seiner Lebensgefährtin in Innsbruck. Unter der Woche hielt er sich in Deutschland oder auf Geschäftsreisen in anderen Staaten Europas auf. Er war stets und ist nach wie vor bei einem deutschen Versicherer krankenversichert.

[3] Im Jahr 2007 gründeten der Kläger und seine Lebensgefährtin eine GmbH mit Sitz in B***** in Deutschland. Mit dieser Gesellschaft setzte der Kläger die bereits seit Jahren von ihm betriebene Entwicklung eines Bauwerkstoffs fort. Für diesen wurde im Jahr 2009 zugunsten der GmbH eine Wortmarke beim Deutschen Patent- und Markenamt eingetragen. Ab dem Jahr 2010 wurde das Produkt in Baumärkten vertrieben.

[4] Im Jahr 2013 meldete der Kläger an der Adresse seiner Lebensgefährtin in Innsbruck einen Nebenwohnsitz an. Seinen Hauptwohnsitz hatte er zu diesem Zeitpunkt weiterhin in R***** in Deutschland, wo er zunächst bis 1. 1. 2014 gemeldet war. 2014 wollte der Kläger sein Unternehmen nach Innsbruck verlegen, führte dieses Vorhaben aber wegen der damit verbundenen Schwierigkeiten nicht durch und „verlegte“ seinen Wohnsitz wieder nach R*****. Bis 2014 lukrierte er aus seiner selbständigen Tätigkeit ein Einkommen, das es ihm erlaubte, die Hälfte der Kosten des gemeinsamen Haushalts mit seiner Lebensgefährtin zu tragen.

[5] Im Jahr 2015 war der Kläger bereit, sein Produkt und die Rezeptur zu verkaufen. Er wollte seine Tätigkeit in Deutschland beenden und das weitere Geschäft von Österreich aus abwickeln, es gab jedoch keine konkreten Verkaufsverhandlungen.

[6] Im Jahr 2015 zog er dauerhaft zu seiner Lebensgefährtin nach Innsbruck. Bis zu diesem Zeitpunkt lag der Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in Deutschland. Am 3. 2. 2015 änderte er die Meldung seines Nebenwohnsitzes in Innsbruck in einen Hauptwohnsitz. Am selben Tag wurde ihm vom Stadtmagistrat Innsbruck eine „Anmeldebescheinigung für EWR Bürger/-innen und Schweizer Bürger/-innen“ ausgestellt, in der der Grund des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts mit „sonstige Angelegenheit (§ 51 Abs 1 Z 2 NAG)“ angegeben ist.

[7] Im März 2017 erlitt die Lebensgefährtin des Klägers einen Schlaganfall und zog in ein Pflegeheim. Der Kläger erlitt wenige Wochen später einen Nervenzusammenbruch und gab aus gesundheitlichen Gründen das Autofahren auf. Damit war er nicht mehr in der Lage, sein Unternehmen zu betreiben. Am 24. 8. 2017 meldete er bei der Gemeinde B***** in Deutschland sein Gewerbe ab; als Datum der Betriebsaufgabe führte er den 31. 12. 2016 an.

[8] Der Kläger lebt nach wie vor in der Eigentumswohnung seiner Lebensgefährtin. Diese hat ihm gegen eine Einmalzahlung ein lebenslanges Wohnrecht eingeräumt. Der Kläger trägt die laufenden Betriebs- und Heizkosten von 195 EUR monatlich sowie die Stromkosten von rund 63 EUR monatlich. Seit Juli 2018 werden diese Ausgaben – sowie weitere im Einzelnen festgestellte Kosten – von seiner Tochter getragen. Der Kläger bezahlt für das auswärts eingenommene Mittagessen täglich 8 EUR.

[9] Seit 1. 1. 2017 lebt er ausschließlich von seiner Rente der Deutschen Rentenversicherung. Die Höhe der Rente betrug (im Jahr 2018) 641,13 EUR monatlich. Weiters bezieht er ein deutsches Pflegegeld von rund 300 EUR monatlich. Seit dem Jahr 2019 unterstützt ihn sein Sohn monatlich mit 300 EUR. Der Kläger verfügt weder über Ersparnisse noch über sonstige Vermögenswerte.

[10] Mit Bescheid vom 3. 10. 2018 lehnte die Beklagte die Gewährung der Ausgleichszulage ab.

[11] Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Zahlung der Ausleichszulage ab dem 1. 8. 2018. Er bringt vor, er erfülle die Voraussetzungen des § 51 Abs 1 Z 2 NAG iVm § 292 Abs 1 ASVG. In seinem Fall liege keine unangemessene Inanspruchnahme des österreichischen Sozialsystems vor, weil sein Pensionseinkommen die Höhe der bedarfsorientierten Mindestsicherung von 647,28 EUR (Stand 2018) übersteige. In der mündlichen Streitverhandlung am 17. 9. 2019 brachte er ergänzend vor, sein Lebensmittelpunkt liege bereits seit dem Jahr 1999 in Österreich.

[12] Die Beklagte bringt vor, das Pensionseinkommen des Klägers – das Pflegegeld sei nicht zu berücksichtigen – liege deutlich unter dem Ausgleichszulagenrichtsatz. Der Kläger habe ohne die Zuwendungen seiner Lebensgefährtin, die diese seit ihrer Übersiedlung ins Pflegeheim nicht mehr erbringen könne, niemals über ausreichende Existenzmittel verfügt.

[13] Das Erstgericht wies die Klage ab.

[14] Rechtlich behandelte es den Kläger als wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürger und prüfte sein Aufenthaltsrecht nach § 51 Abs 1 Z 2 NAG (Art 7 Abs 1 lit b Unionsbürger-RL). Es kam zum Ergebnis, dass die Voraussetzungen dieses Aufenthaltsrechts – ausreichende Existenzmittel und das Bestehen von Krankenversicherungsschutz – zum Zeitpunkt der Ausstellung der Anmeldebescheinigung des Klägers für EWR-Bürger/-innen am 3. 2. 2015 vorgelegen seien. Für den Zeitraum danach sei die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts mangels ausreichender Existenzmittel in Frage zu stellen. Da ein vom Nachweis ausreichender finanzieller Mittel unabhängiges Aufenthaltsrecht erst nach einem fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalt bestehe, habe der Kläger, dessen Aufenthalt in Österreich vor 2015 nicht habe festgestellt werden können, keinen Anspruch auf Ausgleichszulage.

[15] Das Berufungsgericht änderte das Urteil im klagestattgebenden Sinn ab und verpflichtete die Beklagte, dem Kläger eine monatliche Ausgleichszulage von 265,29 EUR ab 1. 8. 2018 bis zum 31. 12. 2018 und von 291,93 EUR ab 1. 1. 2019 zu zahlen. Es ließ die Revision nicht zu, weil es sich auf die einheitliche Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs sowie des Europäischen Gerichtshofs stützen habe können.

[16] Rechtlich erörterte es, der Kläger sei bis 31. 12. 2016 selbständig tätig gewesen, sodass Art 17 Abs 1 lit b in Verbindung mit „Art 17 Abs 1 vorletzter Unterabsatz“ der Unionsbürger-RL anzuwenden sei. Daraus ergebe sich ein Recht auf Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat vor Ablauf eines ununterbrochenen Aufenthalts von fünf Jahren für – auch – Selbständige, die sich seit mindestens zwei Jahren ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten und ihre Erwerbstätigkeit infolge einer dauernden Arbeitsunfähigkeit aufgegeben hätten. Dabei gälten die Zeiten einer in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübten Erwerbstätigkeit als im Aufnahmemitgliedstaat geleistet. Der Kläger habe ein Daueraufenthaltsrecht nach dieser Bestimmung erworben.

[17] Der Erwerb des Daueraufenthaltsrechts beruhe auf territorialen, zeitlichen und qualitativen Elementen. Der Kläger habe die zeitlichen Voraussetzungen des Art 17 Abs 1 lit b Unionsbürger RL durch seinen Aufenthalt in Österreich von 1. 1. 2014, als er seinen Hauptwohnsitz in Deutschland abgemeldet habe, bis 1. 1. 2017, als er nur noch von seinem Pensionseinkommen gelebt habe und daher davon ausgegangen werden müsse, dass sein Unternehmen keinen ausreichenden Gewinn mehr abgeworfen habe, erfüllt. In territorialer Hinsicht spiele es keine Rolle, dass er seine wirtschaftliche Tätigkeit in Deutschland ausgeübt habe, weil diese Zeiten nach „Art 17 Abs 1 vorletzter Unterabsatz“ Unionsbürger-RL als im Aufnahmemitgliedstaat zurückgelegt fingiert würden. Die Feststellungen, der Kläger habe nach der gescheiterten Verlegung seines Unternehmens nach Österreich im Jahr 2014 „seinen Wohnsitz wieder nach R***** verlegt“ und habe bis zur Übersiedlung zu seiner Lebensgefährtin 2015 den „Mittelpunkt seiner Lebensinteressen“ in Deutschland gehabt, seien zu unkonkret, um Zweifel an seiner territorialen und qualitativen Integration in Österreich zu begründen. Die Registrierung seiner Fahrzeuge und der Wortmarke in Deutschland stehe dem Grad der qualitativen Integration in Österreich wegen der Situierung des Unternehmens in Deutschland und der Fiktion des „Art 17 Abs 1 vorletzter Unterabsatz“ Unionsbürger-RL nicht entgegen. Im Ergebnis habe der Kläger daher spätestens mit 31. 12. 2016 ein Daueraufenthaltsrecht nach Art 17 Abs 1 lit b Unionsbürger-RL erworben. Ein Verlust dieses Rechts nach Art 16 Abs 4 Unionsbürger-RL oder aus anderen Gründen sei nicht eingetreten.

[18] Darüber hinaus treffe die Entscheidung des Erstgerichts auch unter dem Aspekt eines „fehlenden fünfjährigen Daueraufenthalts“ nicht zu, weil nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Dano eine individuelle Prüfung der wirtschaftlichen Situation des Unionsbürgers jedenfalls zulässig sei. Hier liege keine Armutszuwanderung vor, weil der Kläger bis 31. 12. 2016 über ein Einkommen aus seinem Unternehmen in Deutschland verfügt habe, ein lebenslanges Wohnrecht an der Wohnung seiner Lebensgefährtin habe, bis zu ihrer Übersiedlung in ein Heim nur die Hälfte der laufenden Wohnkosten tragen habe müssen und seit dem Jahr 2019 von seinem Sohn finanziell unterstützt werde. Selbst ohne sein deutsches Pflegegeld habe der Kläger ein ausreichendes Einkommen.

[19] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten mit den Anträgen, das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt. Die Revision sei zulässig, weil es der höchstgerichtlichen Klarstellung bedürfe, ob aus Art 17 Abs 1 lit b Unionsbürger-RL ein Recht auf Daueraufenthalt für ehemals wirtschaftlich aktive Unionsbürger abgeleitet werden könne, die ihre Erwerbstätigkeit zu keinem Zeitpunkt im Aufnahmemitgliedstaat ausgeübt hätten. Die Auslegung durch das Berufungsgericht treffe nicht zu. Der Kläger verfüge auch nicht über ausreichende Existenzmittel im Sinn des Art 7 Abs 1 lit b Unionsbürger-RL.

[20] Der Kläger beantragt in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung, die außerordentliche Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

[21] Die Revision ist aus dem von der Revisionswerberin angeführten Grund zulässig , sie ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[22] 1. Gemäß § 292 Abs 1 ASVG hat der Pensionsberechtigte Anspruch auf Ausgleichszulage, solange er seinen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich hat.

[23] 2. Nach Art 16 Abs 1 der Unionsbürger-RL (umgesetzt in § 53a Abs 1 NAG) hat jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten (siehe auch Erwägungsgrund 17).

[24] Die Voraussetzungen eines Rechts auf Daueraufenthalt nach dieser Bestimmung sind – wie der Kläger in der Revisionsbeantwortung zugesteht – hier nicht erfüllt, weil zum Stichtag 1. 8. 2018 noch kein fünf Jahre andauernder Aufenthalt des Klägers in Österreich bestand. Dies folgt aus der Feststellung, dass der Mittelpunkt der Lebensinteressen des Klägers bis zum Jahr 2015 in Deutschland lag.

[25] Da der Kläger erst zu einem nicht präzise festgestellten Zeitpunkt im Jahr 2015 dauerhaft zu seiner Lebensgefährtin nach Innsbruck zog, konnte er die von Art 16 Abs 1 Unionsbürger-RL geforderte fünfjährige Aufenthaltsdauer für den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt auch nicht vor dem Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz am 17. 9. 2019 erreichen.

[26] 3. Das Berufungsgericht bejahte die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts des Klägers einerseits unter der Annahme, er sei zum Zeitpunkt seines Zuzugs noch wirtschaftlich aktiv gewesen (gemäß Art 17 Abs 1 Unionsbürger-RL), andererseits auch unter der Annahme, er sei als wirtschaftlich inaktiver Unionsbürger zu betrachten (nach Art 7 Abs 1 lit b Unionsbürger-RL). Die Revisionswerberin wendet sich gegen beide Begründungen.

[27] 4. Zu Art 7 Abs 1 lit b Unionsbürger RL

[28] 4.1. Nach Art 7 Abs 1 lit b der Richtlinie 2004/38/EG Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 (Unionsbürger-RL oder Freizügigkeits RL) steht das Recht auf Aufenthalt wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgern zu, die sich länger als drei Monate (aber nicht mehr als fünf Jahre) im Aufenthaltsmitgliedstaat aufhalten, wenn sie für sich und ihre Angehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, sodass sie während ihres Aufenthalts für sich und ihre Angehörigen keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen (vgl RS0130764).

[29] 4.2. Beginnend mit der Entscheidung in der Rs Dano (C-333/13, ECLI:EU:C:2014:2358) räumte der EuGH dem Aufnahmemitgliedstaat die Möglichkeit ein, im Rahmen der Prüfung des Sozialleistungsanspruchs die Erfüllung der Voraussetzungen der Unionsbürger-RL zu prüfen und auf ihrer Grundlage den Sozialleistungsanspruch zu versagen, ohne dass es einer vorherigen Beendigung des Aufenthalts bedürfte (RS0129251 [T2]; insofern anders noch 10 ObS 152/13w). Unter Bezugnahme auf Erwägungsgrund 10 der Unionsbürger RL fordert der EuGH vom wandernden Unionsbürger, die Sozialsysteme des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen zu belasten, wobei die wirtschaftliche Situation des einzelnen Betroffenen konkret zu prüfen ist (EuGH C 333/13, Dano , Rz 71, 80).

[30] In der darauffolgenden Entscheidung in der Rs C 67/14, Alimanovic , ging der EuGH noch einen Schritt weiter und sah eine individuelle Prüfung gar nicht als erforderlich an, weil das in der Unionsbürger-RL vorgesehene abgestufte System selbst verschiedene Faktoren berücksichtigt, die ihrerseits die persönlichen Umstände der antragstellenden Person widerspiegeln (EuGH C-67/14, Alimanovic , ECLI:EU:C:2015:597, Rz 59 ff).

[31] Diese Linie wird im Urteil in der Rs C 299/14, García-Nieto ua (ECLI:EU:C:2016:114, Rz 47), explizit bestätigt. Die noch in der Entscheidung in der Rs Brey (EuGH C 140/12, ECLI:EU:C:2013:565, Rz 64 ff) geforderte Rücksichtnahme auf die Belastung der Sozialsysteme insgesamt wird ausdrücklich abgelehnt ( vgl 10 ObS 53/16s; 10 ObS 31/16f SSV NF 30/45; 10 ObS 15/16b SSV-NF 30/34 = EvBl 2016/133, 931 [ Rebhahn ] = ZAS 2017/58, 305 [ Niksova ] ).

[32] 4.3 . Im Ergebnis bedeutet das, dass Unionsb ürger, die nicht erwerbstätig sind und nur zum Zweck eines Sozialleistungsbezugs mobil sind, auf der Grundlage von Unionsrecht keine Ansprüche auf Sozialleistungen wie die Ausgleichszulage geltend machen können (10 ObS 73/19m; 10 ObS 107/18k SSV-NF 33/9; 10 ObS 106/18p SSV NF 32/64; 10 ObS 160/17b SSV NF 32/12; 10 ObS 53/16s ua).

[33] 4.4. Da sich eine Anmeldebescheinigung für EWR-Bürger (§ 53 NAG) nur auf das Aufenthaltsrecht bezieht, hat diese Bescheinigung keinen Einfluss auf den Sozialleistungsanspruch (10 ObS 15/16b SSV NF 30/34). Das Gericht muss im Rahmen der Beurteilung eines Anspruchs eines EWR-Bürgers auf Ausgleichszulage daher selbständig prüfen, ob die für die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts in Österreich notwendigen Voraussetzungen vorliegen (10 ObS 73/19m; 10 ObS 107/18k; 10 ObS 106/18p; 10 ObS 160/17b).

[34] 4.5. Im vorliegenden Fall erweist sich die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Kläger habe einen Anspruch auf Ausgleichszulage, weil sein Aufenthaltsrecht als nicht aktiver Unionsbürger für mehr als drei Monate nach Art 7 Abs 1 lit b Unionsbürger RL (§ 51 Abs 1 Z 2 NAG) zu bejahen sei, weil er über ausreichende Existenzmittel verfüge, als nicht zutreffend.

[35] Der Kläger verfügte ab 1. 8. 2018 über seine gesetzliche Rente von 641,13 EUR; dazu kommen die Unterstützungsleistungen seiner Tochter und – ab dem Jahr 2019 – auch seines Sohns, sowie ein Pflegegeld aus der deutschen Pflegeversicherung.

[36] Der Oberste Gerichtshof hat bereits klargestellt, dass das Pflegegeld nach dem BPGG im Hinblick auf Art 7 Abs 1 lit b Unionsbürger-RL nicht zur Erhöhung des Einkommens dient, sondern ausschließlich dazu beitragen soll, Pflegeleistungen „einkaufen“ zu können. Es stellt daher kein Einkommen zur Abdeckung allgemeiner Lebenserhaltungskosten dar (10 ObS 106/18p SSV NF 32/64 mwN). Für das vom Kläger aus der deutschen Pflegeversicherung bezogene Pflegegeld gilt aufgrund der gleichen Zweckrichtung nichts anderes. § 28 Abs 1 Z 2 des (deutschen) SGB XI nennt das „Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen“ als eine der in der Pflegeversicherung gewährten Leistungen. Nach § 37 SGB XI setzt der Anspruch auf Pflegegeld voraus, dass der Pflegebedürftige mit dem Pflegegeld dessen Umfang entsprechend die erforderlichen körperbezogenen Pflegemaßnahmen und pflegerischen Betreuungsmaßnahmen sowie Hilfen bei der Haushaltsführung in geeigneter Weise selbst sicherstellt. Dies entspricht dem Zweck des (österreichischen) Pflegegeldes nach dem BPGG.

[37] Der Zufluss von Pflegegeld aus der deutschen Pflegeversicherung ist daher nicht geeignet, auf unionsrechtlicher Grundlage den Anspruch des Klägers auf Ausgleichszulage zu tragen (vgl 10 ObS 106/18p).

[38] 4.6. Das gleiche gilt für die von den Kindern des Klägers erbrachten Unterstützungsleistungen. Auch wenn von einem Dritten stammende Mittel zum Lebensunterhalt für die aufenthaltsrechtliche Beurteilung anzuerkennen sind (vgl dazu Abermann in Abermann/Czech/Kind/Peyerl , NAG² [2019] § 51 Rz 13 mwN), sind sie hier nicht geeignet, einen Anspruch auf Ausgleichszulage zu begründen.

[39] Dies hat der Oberste Gerichtshof im Hinblick auf die Bestimmung des § 52 Abs 1 Z 3 NAG, die das Aufenthaltsrecht des Angehörigen eines EWR-Bürgers davon abhängig macht, dass diesem familienintern Unterhalt gewährt wird, klargestellt:

[40] Würde eine von den Unterhaltszuwendungen abgeleitete Rechtmäßigkeit des Aufenthalts in Österreich zu einem Ausgleichszulagenanspruch führen, käme es zu einem „Unionsbürgerschaft als Münchhausen“-Effekt ( Rebhahn , Der Einfluss der Unionsbürgerschaft auf den Zugang zu Sozialleistungen – insb zur Ausgleichszulage [EuGH-Urteil Brey ], wbl 2013, 605 [611]): Die innerfamiliären Zuwendungen, die staatliche Unterstützung entbehrlich machen, machen den Aufenthalt rechtmäßig, woraus sich dann der Anspruch auf eben diese staatlichen Unterstützungsleistungen ergäbe (10 ObS 31/16f SSV NF 30/45).

[41] Um ein solches Ergebnis zu vermeiden, gleichzeitig aber die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nicht zu tangieren, ist § 292 Abs 1 ASVG im Lichte des § 52 Abs 1 Z 3 NAG dahin auszulegen, dass der durch § 52 Abs 1 Z 3 NAG rechtmäßige Aufenthalt nicht zu einem Anspruch auf Ausgleichszulage führt, weil die Kosten des Aufenthalts in Österreich in den ersten fünf Jahren nicht von staatlicher Seite, sondern über den familieninternen Unterhalt finanziert werden sollen (10 ObS 31/16f).

[42] Die selben Wertungen kommen auch in einem Fall wie dem vorliegenden zum Tragen, in dem durch das Abstellen auf ausreichende Existenzmittel gemäß § 51 Abs 1 Z 2 NAG – sei es aus dem eigenen Einkommen oder Vermögen des Betroffenen, sei es aus Zuwendungen Dritter – ebenfalls die Unabhängigkeit des Betroffenen von staatlichen Zuwendungen während der ersten fünf Jahre seines Aufenthalts sichergestellt werden soll.

[43] Das bedeutet im Ergebnis, dass § 292 Abs 1 ASVG dahin auszulegen ist, dass auch der nach § 51 Abs 1 Z 2 NAG (Art 7 Abs 1 lit b Unionsbürger-RL) rechtmäßige Aufenthalt dann nicht zu einem Anspruch auf Ausgleichszulage führt, wenn die ausreichenden Existenzmittel – wie im vorliegenden Fall – aus familieninternen Zuwendungen stammen.

[44] 4.7. Lässt man das vom Kläger bezogene Pflegegeld und die Zuwendungen seiner Kinder außer Betracht, liegen ausreichende Existenzmittel weder zum 1. 8. 2018 noch danach vor.

[45] Auch wenn dafür kein fester Betrag angesetzt werden kann (vgl Art 8 Abs 4 Unionsbürger-RL), gibt es objektive Anhaltspunkte für das Vorliegen ausreichender Existenzmittel: So wird in der Literatur vertreten, solche Mittel seien jedenfalls dann ausreichend, wenn sie über der im Aufnahmemitgliedstaat geltenden Sozialhilfegrenze – in Österreich: der Höhe der bedarfsorientierten Mindestsicherung – liegen ( Abermann in Abermann/Czech/Kind/Peyerl , NAG² § 51 Rz 13).

[46] Die Tiroler Mindestsicherung umfasst nach § 4 Abs 2 lit a Tiroler MindestsicherungsG (TMSG) die Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts, die gemäß § 5 Abs 1 TMSG in der Gewährung pauschalierter monatlicher Geldleistungen (Mindestsätze) besteht, sowie nach § 4 Abs 2 lit b TMSG die Hilfe zur Sicherung des Wohnbedarfs. Diese beinhaltet Mietkosten, Betriebskosten, Heizkosten und Abgaben (§ 6 Abs 1 TMSG).

[47] Der Mindestsatz zur Sicherung des Lebensunterhalts, dessen Höhe nach § 5 Abs 2 iVm der nach § 9 Abs 2 TMSG zu erlassenden Verordnung der Tiroler Landesregierung zu ermitteln ist, betrug für das Jahr 2018 für alleinstehende Personen 647,28 EUR ( Patscher , Mindestsicherung der Bundesländer im Jahr 2018, Statistische Nachrichten 2019, 846 [848]). Dieser Mindestsatz beinhaltet allerdings noch nicht den Wohnbedarf.

[48] Die Nettopension des Klägers liegt zwar nur wenig unter der Höhe des Mindestsatzes zur Sicherung des Lebensbedarfs (ohne Wohnbedarf), der Kläger muss davon aber auch seine Wohnkosten bestreiten.

[49] Der Kläger verfügt über ein Wohnrecht im Haus seiner Lebensgefährtin; er hat nach den Feststellungen lediglich die Betriebskosten und die Kosten für die Reparatur-Rücklage von insgesamt 195,10 EUR monatlich sowie die Stromkosten von 63 EUR monatlich zu tragen (insgesamt 258,10 EUR). Dazu kommen die Kosten für das Rasenmähen und den Baumschnitt.

[50] Auch unter Berücksichtigung dieser (sehr günstigen) Wohnversorgung des Klägers erwachsen ihm daraus monatliche Kosten von rund 260 EUR. Von seiner Rente von 641,13 EUR im Jahr 2018 verbleiben ihm daher zur Deckung seines sonstigen Lebensunterhalts nur rund 380 EUR, somit deutlich weniger als der nach dem TMSG anzusetzende Mindestsatz für Lebensunterhalt. Das in der Klage erstattete Vorbringen, das den Mindestsatz für den Lebensunterhalt (von 647,28 EUR) dem Pensionseinkommen des Klägers gegenüberstellt, lässt außer Acht, dass dieser Mindestsatz die Wohnversorgung nicht beinhaltet.

[51] Das Pensionseinkommen des Klägers liegt auch unter dem Ausgleichszulagenrichtsatz für Einzelpersonen von 909,42 EUR für das Jahr 2018.

[52] 4.8. Schließlich ergibt sich auch bei konkreter Betrachtung des Einzelfalls aus den Feststellungen, dass dem Kläger neben den Kosten seiner Wohnversorgung von rund 260 EUR im Monat rund 240 EUR monatlich für das – gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin im Pflegeheim eingenommene – Mittagessen erwachsen. Damit verbleiben ihm von seinem Pensionseinkommen nur rund 140 EUR monatlich, die auf die Deckung der übrigen Mahlzeiten, Kleidung, Transport, Versicherungen und Telefonkosten entfallen. Auch die Betrachtung des konkreten Einzelfalls ergibt daher, dass das Pensionseinkommen des Klägers ohne staatliche Sozialhilfeleistungen zur Deckung seiner Lebenshaltungskosten nicht ausreicht.

[53] 4.9. Der Beurteilung des Berufungsgerichts, dass der Kläger als nicht aktiver Unionsbürger einen Anspruch auf Ausgleichszulage nach § 292 Abs 1 ASVG habe, weil er aufgrund familieninterner Zuwendungen über ausreichende Existenzmittel im Sinn des Art 7 Abs 1 lit b Unionsbürger-RL (§ 51 Abs 1 Z 2 NAG) verfüge, trifft daher nicht zu.

[54] 5. Zu Art 17 Abs 1 Unionsbürger RL

[55] 5.1. Art 17 Abs 1 der Unionsbürger-RL gewährt wirtschaftlich aktiven Unionsbürgern abweichend von Art 16 der Richtlinie vor Ablauf eines ununterbrochenen Aufenthalts von fünf Jahren das Recht auf Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat. Die erfassten Personengruppen sind wie folgt definiert:

„a) Arbeitnehmer oder Selbstständige, die zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben das in dem betreffenden Mitgliedstaat für die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlich vorgesehene Alter erreicht haben, oder Arbeitnehmer, die ihre abhängige Erwerbstätigkeit im Rahmen einer Vorruhestandsregelung beenden, sofern sie diese Erwerbstätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat mindestens während der letzten 12 Monate ausgeübt und sich dort seit mindestens drei Jahren ununterbrochen aufgehalten haben. […]

b) Arbeitnehmer oder Selbstständige, die sich seit mindestens zwei Jahren ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben und ihre Erwerbstätigkeit infolge einer dauernden Arbeitsunfähigkeit aufgeben. [...]

c) Arbeitnehmer oder Selbstständige, die nach drei Jahren ununterbrochener Erwerbstätigkeit und ununterbrochenen Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat eine abhängige oder selbstständige Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausüben, ihren Wohnsitz jedoch im Aufnahmemitgliedstaat beibehalten und in der Regel jeden Tag oder mindestens einmal in der Woche dorthin zurückkehren.

Für den Erwerb der in den Buchstaben a und b genannten Rechte gelten die Zeiten der Erwerbs tätigkeit in dem Mitgliedstaat, in dem der Betroffene seine Erwerbstätigkeit ausübt, als im Aufnahmemitgliedstaat abgeleistet.“

[56] 5.2. Den folgenden Ausführungen zu Art 17 Abs 1 Unionsbürger-RL ist voranzustellen, dass der vom Berufungsgericht als „Art 17 Abs 1 vorletzter Unterabsatz“ bezeichnete Absatz – nach dem für den Erwerb der in lit a und b genannten Rechte die Ausübung der Erwerbstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat fingiert wird – in Wahrheit dem Art 17 Abs 1 lit c Unionsbürger-RL zuzuordnen ist. Dies ist schon aus der Formatierung der Absätze dieses Artikels im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl vom 30. 4. 2004 L 158) eindeutig ersichtlich (so auch Abermann in Abermann/Czech/Kind/Peyerl , NAG² § 53a Rz 11). Aus dieser Systematik erschließt sich auch der von Abermann als unklar bezeichnete Inhalt der Regelung.

[57] 5.3. Das Berufungsgericht stützte seine Beurteilung, der Kläger habe ein Recht auf Daueraufenthalt nach Art 17 Abs 1 lit b Unionsbürger-RL erworben, auf die zentrale Erwägung, seine in Deutschland ausgeübte Erwerbstätigkeit gelte nach „Art 17 Abs 1 vorletzter Unterabsatz“ als im Aufnahmemitgliedstaat – also in Österreich – ausgeübt.

[58] Diese Rechtsansicht trifft – wie im Folgenden aufgezeigt wird – nicht zu.

[59] 5.4. Art 17 Abs 1 Unionsbürger-RL dient der Durchführung des nicht direkt anwendbaren Art 45 Abs 3 lit d AEUV, der das Verbleiberecht der Arbeitnehmer nach Beendigung einer Beschäftigung primärrechtlich verankert ( Kreuschitz in Groeben/Schwarze/Hatje , Europäisches Unionsrecht 7 [2015] Art 45 AEUV Rz 56; Dienelt in Renner , Ausländerrecht 12 [2018] § 4a FreizügG/EU Rz 35).

[60] Die Fallgruppen des Art 17 Abs 1 Unionsbürger RL privilegieren wirtschaftlich aktive Unionsbürger, die aus bestimmten Gründen aus dem Erwerbsleben ausscheiden (lit a und b) oder ihre Erwerbstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat beenden (lit c), im Hinblick auf den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat.

[61] 5.5. Die Bestimmungen des Art 17 Abs 1 lit a bis c Unionsbürger-RL verlangen jeweils eine bestimmte Dauer des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat sowie die Ausübung einer (selbständigen oder unselbständigen) Erwerbstätigkeit. Im vorliegenden Fall ist entscheidend, ob diese Erwerbstätigkeit auch im Fall des Art 17 Abs 1 lit b Unionsbürger-RL im Aufnahmemitgliedstaat ausgeübt werden muss.

[62] Die Ausübung im Aufnahmemitgliedstaat ist für den Tatbestand der lit a bereits nach dessen Wortlaut eindeutig zu verlangen: Erforderlich ist eine Ausübung der Erwerbstätigkeit „in dem betreffenden Mitgliedstaat“, also im Aufnahmemitgliedstaat.

[63] Auch der Tatbestand der lit c verlangt für Grenzgänger zunächst eine drei Jahre andauernde Erwerbstätigkeit „im Aufnahmemitgliedstaat“, auf die eine Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat – unter Beibehaltung des Wohnsitzes im Aufnahmemitgliedstaat – folgt. Nur für jene erwerbstätigen Unionsbürger, die die Voraussetzung des dreijährigen Aufenthalts und der dreijährigen Erwerbstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat erfüllten, bevor sie als Grenzgänger eine Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat aufnahmen, kommt die Regelung des Art 17 Abs 1 lit c zweiter Unterabsatz Unionsbürger RL zur Anwendung: Ihre in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübte Tätigkeit wird für den Erwerb der Rechte gemäß lit a und b – also im Hinblick auf die bevorzugt behandelten Beendigungsarten – wie eine Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat behandelt.

[64] Das heißt: Scheidet ein Unionsbürger, der die Voraussetzungen der lit c erster Unterabsatz erfüllt (Aufenthalt und Erwerbstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat für drei Jahre, danach Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat als Grenzgänger), aufgrund des Erreichens des gesetzlichen Pensionsalters oder aufgrund einer Vorruhestandsregelung aus dem Erwerbsleben aus, so erwirbt er ein Recht auf Daueraufenthalt nach Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger-RL – also vor Ablauf eines ununterbrochenen Zeitraums von fünf Jahren –, obwohl er seine Erwerbstätigkeit zuletzt in einem anderen Mitgliedstaat als dem Aufnahmemitgliedstaat und nicht, wie dies der Tatbestand der lit a vorsieht, „in dem betreffenden Mitgliedstaat“ [ie dem Aufnahmemitgliedstaat] ausgeübt hat.

[65] Hinsichtlich des Tatbestands des Art 17 Abs 1 lit b Unionsbürger-RL ergibt sich das Erfordernis, dass der Unionsbürger auch seine Erwerbstätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat ausgeübt haben muss, nicht aus dem Wortlaut allein, sondern erst aus der systematischen Auslegung. Der Wortlaut der deutschsprachigen Fassung der Bestimmung enthält nämlich keine ausdrückliche Einschränkung der Ausübung der Erwerbstätigkeit des Unionsbürgers auf den Aufnahmemitgliedstaat. Dies gilt etwa auch für die italienische Sprachfassung ( „il lavoratore subordinato o autonomo che a soggiornato in modo continuativo nello Stato membre ospitante per oltre due anni e cessa di esercitare l‘attivitá professionale a causa die una sopravvenuta incapacitá lavorativa permanente“ ).

[66] Hingegen ergibt sich etwa aus der englischen ( „workers or self-employed persons who have resided continuously in the host Member State for more than two years and stop working there as a result of permanent incapacity to work“ ) und der französischen Sprachfassung ( „le travailleur salarié ou non salarié qui, séjournant d‘une façon continue dans l‘État membre d‘accueil depuis plus de deux ans, cesse d‘y exercer son activité à la suite d‘une incapacité permanente de travail“ ) des Art 17 Abs 1 lit b Unionsbürger-RL das Erfordernis der Aufgabe einer im Aufnahmemitgliedstaat ausgeübten Erwerbstätigkeit (Hervorhebungen jeweils durch den Senat).

[67] Aus der Systematik des Art 17 Abs 1 Unionsbürger-RL folgt allerdings eindeutig, dass der Tatbestand der lit b unabhängig von seiner Formulierung in den unterschiedlichen Sprachfassungen jedenfalls voraussetzt, dass die Erwerbstätigkeit, die auf die gesetzlich bevorzugte Weise beendet wird, im Aufnahmemitgliedstaat ausgeübt wurde.

[68] Nach Art 17 Abs 1 lit c iVm lit b Unionsbürger RL erwirbt ein Unionsbürger, der in einem anderen Mitgliedstaat als dem Aufnahmemitgliedstaat erwerbstätig ist und seine Tätigkeit aufgrund dauernder Arbeitsunfähigkeit aufgibt, nur dann ein Recht auf Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat vor Ablauf eines fünfjährigen rechtmäßigen Aufenthalts, wenn er zuvor drei Jahre lang im Aufnahmemitgliedstaat aufhältig und erwerbstätig war. Diese Regelung des Art 17 Abs 1 lit c Unionsbürger-RL stünde in einem unauflöslichen Wertungswiderspruch zum Tatbestand der lit b dieser Bestimmung, wenn letzterer (entsprechend dem Wortlaut etwa der deutschen und der italienischen Sprachfassung) nur einen zweijährigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat und die Beendigung einer irgendwo in der Union ausgeübten Erwerbstätigkeit aus dem Grund der dauernden Arbeitsunfähigkeit erforderte.

[69] Diese Erwägungen stehen auch im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu dem in Art 2 Abs 1 lit a bis c VO (EWG) 1251/70 (VO der Kommission vom 29. 6. 1970 über das Recht der Arbeitnehmer, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben), einer Vorgängerbestimmung der Unionsbürger-RL, im Wesentlichen wortgleich wie in Art 17 Abs 1 lit a bis c Unionsbürger-RL verankerten Verbleiberecht des Arbeitnehmers (zum Verbleiberecht des Selbständigen vgl Art 2 der RL 75/34/EWG des Rates über das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, nach Beendigung der Ausübung einer selbständigen Tätigkeit im Hoheitsgebeit eines anderen Mitgliedstaats zu verbleiben). Dort wird hinsichtlich aller drei Fallgruppen ausdrücklich klargestellt, es gehe um die Regelung des Rechts des Arbeitnehmers, der im Aufnahmemitgliedstaat eine Beschäftigung ausgeübt habe, dort zu verbleiben (EuGH C-158/07, Förster , ECLI:EU:C:2008:630, Rz 28).

[70] Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, dass auch der Tatbestand des Art 17 Abs 1 lit b Unionsbürger-RL (ebenso wie dessen lit a) die Aufgabe einer im Aufnahmemitgliedstaat – und nicht in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union – ausgeübten Erwerbstätigkeit erfordert. Die Fiktion, wonach die Zeiten einer in einem anderen Mitgliedstaat ausgeübten Erwerbstätigkeit als im Aufnahmemitgliedstaat abgeleistet gelten (Art 17 Abs 1 lit c zweiter Unterabsatz Unionsbürger RL), ist nur auf jene Unionsbürger anzuwenden, die die Voraussetzungen des Art 17 Abs 1 lit c erster Unterabsatz Unionsbürger-RL erfüllen.

[71] Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, der Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt nach Art 17 Abs 1 lit b Unionsbürger-RL bedürfe keiner Ausübung der selbständigen Erwerbstätigkeit in Österreich , trifft daher nicht zu.

[72] 5.6. Hinweise auf die tatsächliche Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit durch den Kläger von Österreich aus ergaben sich nicht aus dem festgestellten Sachverhalt. Demnach gab der Kläger seinen Plan, „die Firma“ im Jahr 2014 nach Österreich zu verlegen, wegen der damit verbundenen Schwierigkeiten wieder auf. Für das Jahr 2015 steht lediglich seine Absicht fest, sein Produkt zu verkaufen, das Unternehmen in Deutschland „einschlafen zu lassen“ und das Geschäft von Österreich aus abzuwickeln. Tatsächlich kam es aber nicht zum Verkauf. Der Kläger hatte bereits im Jahr 2015 mit massiven Gesundheitseinschränkungen zu kämpfen und generierte kein Einkommen mehr.

[73] Diese Feststellungen, in Zusammenschau mit dem Umstand, dass der Kläger die Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit in Österreich weder im vorliegenden Verfahren behauptete noch gegenüber dem Magistrat der Stadt Innsbruck für die Ausstellung der Anmeldebescheinigung für EWR-Bürger/-innen im Februar 2015 bescheinigte, lassen die Annahme, der Kläger habe nach der Übersiedlung nach Österreich im Jahr 2015 noch tatsächlich eine selbständige Tätigkeit in Österreich entfaltet, nicht zu.

[74] Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass der Kläger in seiner Gewerbeabmeldung vom 24. 8. 2017 eine Betriebsaufgabe (erst) mit 31. 12. 2016 angab. Auch in diesem – von beiden Parteien vorgelegten – Formular ist ausschließlich eine Betriebsstätte in Deutschland angeführt.

[75] 5.7. Im Ergebnis erfüllt der Kläger daher ab 1. 8. 2018 nicht die Voraussetzungen eines Rechts auf Daueraufenthalt nach Art 17 Abs 1 lit b Unionsbürger-RL.

[76] 6. Da die Voraussetzungen des § 292 Abs 1 ASVG nicht vorliegen, erweist sich die außerordentliche Revision der Beklagten als berechtigt. Die Entscheidung des Berufungsgerichts ist im klageabweisenden Sinn abzuändern.

[77] 7. Die Kostenentscheidung hinsichtlich des Verfahrens zweiter und dritter Instanz beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch aus Billigkeit ergeben sich nicht aus der Aktenlage.