JudikaturHandelsgericht Wien

50R115/24d – Handelsgericht Wien Entscheidung

Entscheidung
20. Januar 2025

Kopf

Das Handelsgericht Wien hat als Berufungsgericht durch die Richter Mag. a Michlmayr (Vorsitzende), Mag. a Tassul und KR Dipl-HTL-Ing. Mag. (FH) Mag. Dr. Sittler in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. A* , geb. am ** und 2. B* , beide **, **, beide vertreten durch Skribe Rechtsanwaelte GmbH in 1010 Wien, wider die beklagte Partei C* GmbH , **, **straße **, 11. St., IZD Tower, vertreten durch Dr. Armin Bammer, Rechtsanwalt in 1030 Wien, wegen EUR 500,-- samt Nebengebühren über die Berufung der klagenden Parteien gegen das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 27.5.2024, 19 C 562/23w-10, in nicht öffentlicher Sitzung den

Spruch

Beschluss

gefasst:

Der Berufung wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Kläger verfügen jeweils über eine bestätigte Buchung für Flug EJU 7622 mit dem planmäßigen Abflug am 25.06.2023 um 9:30 Uhr in ** (D*) und der planmäßigen Ankunft am 25.06.2023 um 11:15 Uhr in ** (**). Dieser Flug wurde annulliert. Die Bekanntgabe der Annullierung erfolgte weniger als zwei Wochen vor dem planmäßigen Abflugzeitpunkt.

Mit dem angefochtenen Urteil wies das Erstgericht das Klagebegehren ab und verhielt die Kläger zum Ersatz der mit EUR € 757,04 bestimmten Verfahrenskosten der Beklagten.

Die auf den Seiten 3 bis 4 getroffenen Feststellungen beurteilte das Erstgericht rechtlich, soweit für das Berufungsverfahren noch relevant,

dass das Flugzeug auf Grund der herrschenden Windverhältnisse aus Sicherheitsgründen nicht planmäßig in D* landen habe können, stelle damit einen außergewöhnlichen Umstand iSd Art 5 Abs 3 VO dar.

Ob und welche Maßnahmen das Luftfahrtunternehmen zu treffen habe, bestimme sich nach den Umständen des Einzelfalls. Es bestehe keine Verpflichtung, ohne konkreten Anlass Vorkehrungen, wie etwa das Vorhalten von Ersatzflugzeugen zu treffen. Selbst wenn außergewöhnliche Umstände vorlägen, sei das ausführende Luftfahrtunternehmen lediglich dann von der Haftung befreit, wenn es alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen habe, um die Umstände, die zur Annullierung geführt haben, zu vermeiden. Es gehe daher nicht um die Unvermeidbarkeit der Annullierung oder Verspätung, sondern der Umstände, die dazu geführt haben.

Die Darlegungs- und Beweislast für die fehlende Zumutbarkeit etwaig geforderter Maßnahmen trage nach allgemeinen Kriterien das beklagte Luftfahrtunternehmen. Es werde gefordert, dass Einzelheiten in zeitlicher, örtlicher und/oder technischer Hinsicht dargelegt werden.

Wenn die Ersatzbeförderung wesentlich später als drei Stunden nach der geplanten Ankunftszeit des annullierten Fluges erfolgt wäre, liege keine taugliche Maßnahme vor, die in der Lage sei, eine die Ausgleichsleistung auslösende Verspätung abzuwenden.

Wie sich aus den Feststellungen ergebe, habe keine zumutbare Möglichkeit einer zeitnahen Ersatzbeförderung bestanden. Aufgrund der festgestellten Wetterverhältnisse ergebe sich zudem, dass sich die Windgeschwindigkeiten und Böen im Laufe des Tages verstärkten, weshalb eine spätere Überführung des Flugzeugs mit noch größeren Schwierigkeiten verbunden gewesen wäre,im Vergleich zur ursprünglich geplanten Landung. Es sei der Beklagten nicht zumutbar bei noch schlechteren Verhältnissen den Versuch der Überstellung eines Flugzeugs zu unternehmen. Der Beklagten sei demnach der Entlastungsbeweis gelungen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Kläger wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung (einschließlich sekundärer Feststellungsmängel) mit dem Antrag, das Urteil (allenfalls nach Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens) im klagsstattgebenden Sinne abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt der Berufung keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Berufung ist im Sinne des Aufhebungsantrags berechtigt .

Unter Wiedergabe erstgerichtlicher Feststellungen machen die Kläger zunächst deutlich, das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstandes nicht zu bekämpfen.

Die Beklagte habe vorliegend jedoch – entgegen der Rechtsansicht des Erstgerichts - nicht sämtliche zumutbaren Maßnahmen ergriffen.

Die zumutbaren Maßnahmen seien in drei Ebenen prüfbar:

[1] Maßnahmen zur Vermeidung der außergewöhnlichen Umstände selbst;

[2] Maßnahmen zur Vermeidung einer daraus resultierenden Annullierung (bzw einer großen Verspätung); und

[3] Maßnahmen zur Vermeidung der unerwünschten Folgen der Annullierung (bzw einer großen Verspätung) für den einzelnen Fluggast.

Die Beklagte hätte den Flug verspätet durchführen können. Das Erstgericht bzw. die Beklagte würden die denkbar entferntesten Maßnahmen, wie den Einsatz einer Ersatzmaschine, der es hier ohnehin nicht bedurft hätte, ausschließen, nur um über die naheliegendste Maßnahme, der verspäteten Durchführung des Fluges (spätestens) am nächsten Tag mit der eingeplanten Maschine, hinwegzutäuschen.

Es komme überdies bei der Prüfung einer Umbuchung nicht darauf an eine Verspätung von unter 3 Stunden zu erreichen, sondern die Verspätung an sich zu reduzieren.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss das Luftfahrtunternehmen alles ihm Mögliche und Zumutbare tun, um zu vermeiden, dass es durch außergewöhnliche Umstände genötigt ist, einen Flug zu annullieren, oder, dass der Flug nur mit einer großen Verspätung durchgeführt werden kann, deren Folgen für den Fluggast einer Annullierung gleichkommen (EuGH 22.12.2008 C-549/07 Wallentin – Hermann/Al Italia; EuGH 4.5.2017 C-315/15, Pesková/Travel Service).

Die angemessenen Maßnahmen, die einem Luftverkehrsunternehmen zuzumuten sind, um zu vermeiden, dass außergewöhnliche Umstände zu einer erheblichen Verspätung eines Fluges führen oder Anlass zu seiner Annullierung geben, sind jedoch im Einzelfall zu beurteilen. Dabei geht der EuGH von „einem flexiblen und vom Einzelfall abhängigen Begriff der zumutbaren Maßnahme“ aus, und weist dabei darauf hin, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, zu beurteilen, ob im zu beurteilenden Fall angenommen werden kann, dass das Luftfahrtunternehmen die der Situation angemessenen Maßnahmen getroffen hat. Im Rahmen der Einzelfallprüfung muss der Tatrichter des nationalen Gerichts also situationsbedingt beurteilen, ob das betroffene Luftfahrtunternehmen auf technischer und administrativer Ebene in der Lage war, direkt oder indirekt Vorkehrungen zu treffen, die geeignet waren, die Folgen der Annullierung oder großen Verspätung zu verringern oder zu vermeiden (EuGH 4.5.2017 C-315/15, Schmid Beck-OK Fluggastrechte-VO (25. Edition), Art. 5, Rz 255 mwN).

Das Erstgericht gibt die bisherige ständige Rechtsprechung des Berufungsgerichts, wonach, dann, wenn die Ersatzbeförderung wesentlich später als drei Stunden nach der geplanten Ankunftszeit des annullierten Fluges erfolgt wäre, keine taugliche Maßnahme vorliegt, die in der Lage ist, eine die Ausgleichsleistung auslösende Verspätung abzuwenden (60 R 62/20b, 1 R 48/21m, 50 R 28/22x, 60 R 103/22k, 1 R 55/24w, 50 R 76/24v; 1 R 169/24 k; 1 R 55/24w uva), zutreffend wider.

Diese Judikatur war von dem Argument getragen, dass Maßnahmen, die dem Luftfahrtunternehmen eine Durchführung des Fluges mit einer mehr als dreistündigen Verspätung erlauben, keine zumutbaren Maßnahmen zur Vermeidung einer Annullierung darstellen. Das – soweit die bisherige Judikatur - ergibt sich bereits daraus, dass nach der Rechtsprechung des EuGH bei derartigen Verspätungen über den Wortlaut der EU-Fluggast-VO hinaus, dieselben Ausgleichsleistungen zu erbringen sind wie bei der Annullierung, da sich die Lage der Fluggäste solch verspäteter Flüge kaum von der bei annullierten Flügen unterscheidet. Da sich das Luftfahrtunternehmen in diesem Fall folglich denselben Ansprüchen wie bei Annullierung aussetzt sind derartige Maßnahmen auch nicht zumutbar.

Dieser ständigen Judikatur folgend hat das Erstgericht in Ansehung der der Beklagten zumutbaren Maßnahmen, trotz darüber hinausgehender Beweisergebnisse, lediglich jene Feststellungen getroffen, die in Anwendung dieser Judikatur erforderlich waren ( „Der Beklagten stand in D* kein Ersatzflugzeug zur Verfügung (./20). Eine Ersatzbeförderung der Kläger im Wege der Umbuchung, sodass die Kläger nicht wesentlich später als mit einer dreistündigen Verspätung an ihrem Endziel ankamen, war der Beklagten nicht möglich.“ ), wobei es auf Basis dieser (bisherigen) Rechtsprechung das Klagebegehren folgerichtig abgewiesen hat.

Das Berufungsgericht sieht sich jedoch nunmehr va. im Lichte der Judikatur des EuGH veranlasst von dieser Rechtsprechung abzugehen, zumal der Begriff der zumutbaren und angemessenen Maßnahmen, die das Luftfahrtunternehmen zu treffen hat in jüngerer Zeit immer strengeren Anforderungen unterworfen wurde.

Alle zumutbaren Maßnahmen müssen ergriffen werden, auch wenn dadurch die Drei-Stunden-Grenze nicht unterschritten wird. Zweck der Maßnahme ist es nach der Verordnung nämlich nicht, die Annullierung oder Verspätung zu vermeiden, sondern – wie oben (→ Rn. 259 ) dargelegt – deren Folgen.Dabei ist die den Fluggast belastende Folge, dass der Fluggast „Ärgernissen und Unannehmlichkeiten“ ausgesetzt ist (körperliche Belastung durch die Verlängerung der Reisezeit etc), die vermieden oder verringert werden sollen. Die Verordnung bestimmt aber nicht, dass dies nur für den Zeitraum vom max. drei Stunden gelten soll. Daher muss ein Luftfahrtunternehmen auch dann, wenn bei der Durchführung des ursprünglich geplanten Fluges die Drei-Stunden-Grenze überschritten werden sollte, alles Zumutbare tun, um diese Folgen a) zu vermeiden oder b) wenigstens zu verringern. Die schnellstmögliche Beförderung zum vereinbarten Endziel auch nach Überschreitung der 3-Stunden-Grenze kann die Unannehmlichkeit zumindest verringern (vgl. Schmid Beck-OK Fluggastrechte-VO (25. Edition), Art. 5, Rz 266mwN).

Das Berufungsgericht übernimmt demnach, ohne die bisherigen Einschränkungen, die Judikatur, wonach es zu den gebotenen Maßnahmen gehört, dem Fluggast eine mögliche anderweitige direkte oder indirekte Beförderung mit einem Flug anzubieten, den das betroffene oder ein anderes Luftfahrtunternehmen durchführt und der mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens ankommt, es sei denn, die Durchführung einer solchen anderweitigen Beförderung stellt für das betreffende Unternehmen angesichts seiner Kapazitäten zum maßgeblichen Zeitpunkt ein nicht tragbares Opfer dar.

Da - wie bereits erwähnt – das Erstgericht, trotz Vorliegen darüber hinausgehender Beweisergebnisse, im Vertrauen auf das Bestehen der bisherigen Judikatur des Berufungsgerichtes, keine weiteren Feststellungen getroffen hat, war die Aufhebung der erstgerichtlichen Entscheidung unumgänglich.

Um die Parteien mit der nunmehr geänderten Rechtsansicht des Berufungsgerichtes nicht zu überraschen, wird auch den Parteien die Gelegenheit zu geben sein, im zweiten Rechtsgang weiteres Vorbringen, unter Außerachtlassung der bisherigen Rechtsprechung, zu erstatten.

Das Erstgericht wird demnach, nach abschließendem ergänzenden Vortrag der Streitteile, zusätzliche Feststellungen über die der Beklagten zumutbaren Maßnahmen zu treffen und diese in Folge einer rechtlichen Beurteilung zu unterziehen haben.

Lediglich zur Komplettierung sei schon jetzt, bezugnehmend auf den Vortrag in der Berufung, angemerkt, dass das Berufungsgericht die Ansicht vertritt, dass es einem Luftfahrtunternehmen ganz generell ein untragbares wirtschaftliches Opfer abverlangen würde, bei unklaren außergewöhnlichen Windverhältnissen, deren Ende nicht abzusehen ist, ein Fluggerät am Abflughafen des Vorfluges zu belassen, um dort abzuwarten bis sich die schwierigen, einer Landung am Abflughafen des betreffenden Fluges entgegenstehenden, Wetterverhältnisse wieder normalisieren, zumal in diesem Zusammenhang (ex ante) völlig unabsehbar war, wann eine Besserung dieser Wetterverhältnisse einsetzen würde.

Der Umfang des Prozessstoffs und die nicht absehbaren Weiterungen des Verfahrens stehen einer Verfahrensergänzung durch das Berufungsgericht gemäß § 496 Abs 3 ZPO entgegen (RS0044905, RS0042125).

Der Kostenvorbehalt gründet auf § 52 ZPO.