Spruch
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gottfried SCHLÖGLHOFER über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA: Syrien, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.05.2024, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.05.2025 zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG stattgegeben und XXXX der Status eines Asylberechtigten zuerkannt.
Es wird gemäß § 3 Abs. 5 AsylG festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, idF BF, ist syrischer Staatsangehöriger. Er stellte am XXXX 08.2023 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Die Erstbefragung fand am 03.08.2023 statt.
3. Im Rahmen seiner Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (idF BFA) am 07.05.2024 führte der BF zusammengefasst und soweit wesentlich aus, dass er der Volksgruppe der Kurden angehöre und in XXXX , Gouvernement Aleppo, geboren worden sei. Zuletzt in Syrien gelebt habe er in der Stadt XXXX , Viertel XXXX . Er habe in Syrien für neun Jahre die Schule besucht und als Landwirt und Schneider gearbeitet. 2023 habe er Syrien über die Grenze zur Türkei verlassen. Er sei ledig und habe keine Kinder. Befragt zu seinem Fluchtgrund gab er zusammengefasst an, dass ihm eine Zwangsrekrutierung drohe. Außerdem herrsche in Syrien totales Chaos und Krieg.
4. Mit Bescheid vom 21.05.2024 wies das BFA den Antrag des BF bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG für ein Jahr (Spruchpunkt III).
5. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheids erhob der BF durch seine Rechtsvertretung fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde.
6. Mit Schreiben vom 18.06.2024 legte die belangte Behörde die Beschwerde samt Bezug habenden Verwaltungsunterlagen dem Bundesverwaltungsgericht vor.
7. Am 06.05.2025 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit eines Dolmetschers für die kurdische Sprache und des BF sowie seiner Vertretung eine mündliche Verhandlung durch, bei der der BF Gelegenheit hatte, zu seinen Fluchtgründen und zur veränderten Lage in Syrien im Detail Stellung zu nehmen. Die belangte Behörde hatte sich für die Teilnahme an der Verhandlung entschuldigt.
Der BF gab in der mündlichen Verhandlung ergänzend und soweit wesentlich an, dass er aus XXXX stamme. Als die türkische Armee 2018 dort angegriffen habe, sei er nach XXXX geflohen. Der BF brachte zudem vor, dass er als Kurde in XXXX einer Gruppenverfolgung ausgesetzt sei. Er sei von Arabern und Türken bedroht worden. Er habe Angst vor der türkischen Besatzung in XXXX . Bei einer allfälligen Rückkehr nach Syrien würde er inhaftiert werden.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF und zu dessen Fluchtvorbringen:
Der BF ist syrischer Staatsangehöriger, bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam und gehört der kurdischen Volksgruppe an.
Der BF stammt aus XXXX , Gouvernement Aleppo, Syrien, wo er sich bis 2018 aufgehalten hatte, bevor er aufgrund von kriegerischen Auseinandersetzungen nach XXXX -Stadt, floh.
Der BF verließ im Jahr 2023 Syrien über die Grenze zur Türkei, reiste nach Europa weiter und stellte schließlich im August 2023 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Der BF besuchte in Syrien für neun Jahre die Schule und war als Landwirt und Schneider tätig.
Der BF ist ledig und hat keine Kinder.
Der BF ist strafgerichtlich in Österreich unbescholten.
Die Herkunftsregion des BF, XXXX , Gouvernement Aleppo, befindet sich derzeit unter Kontrolle der Türkei und der mit der Türkei verbundenen Kräfte (SNA).
Die Türkei und die mit der Türkei verbündeten Milizen versuchen, die Kurden in den von ihnen kontrollierten Gebieten unter Einsatz von Gewalt zu marginalisieren, zu entrechten und zu vertreiben. Es kommt zu Plünderungen, Festnahmen, Folter, Entführungen und Vergewaltigungen. Dem BF droht als Kurde im Falle der Rückkehr in seine Herkunftsregion, diesen Gefahren mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt zu sein.
1.2. Relevante Feststellungen zur maßgeblichen Situation in Syrien:
1.2.1. Länderinformationsblatt Syrien, Version 12, vom 08.05.2025 [Auszüge]:
Mehr als die Hälfte der über 60 in Syrien bestehenden bewaffneten Gruppierungen gehört zur von der Türkei unterstützten Syrian National Army. Ihre Stärke beträgt mindestens 80.000 Mann und ihre Hauptaufgabe ist die Bekämpfung der kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (Syrian Democratic Forces - SDF) (DNewsEgy 3.2.2025).
Die Türkei hatte mehrmals seit 2016 militärisch in Syrien interveniert, um kurdische Kämpfer und den Islamischen Staat zu bekämpfen. Sie unterstützt ausgewählte Oppositionsgruppierungen und hat Pufferzonen in Teilen des syrisch-türkischen Grenzgebiets etabliert. Die Türkei unterhält weiterhin eine beträchtliche Militärpräsenz in Nordsyrien und hat Milizen, wie die Syrische Nationale Armee (Syrian National Army - SNA) ausgebildet und bewaffnet (CIA 31.7.2024). Die SNA untersteht de facto der Autorität der Türkei, ebenso wie die Syrische Interimsregierung (Syrian Interim Government - SIG). Obwohl die Präsenz der Türkei ein gewisses Maß an Stabilität in die Region bringt, gilt ihre Kontrollzone in Nordsyrien als die unsicherste und am brutalsten regierte (BI 27.1.2023). Die SNA ist in Legionen und weiter in Fraktionen unterteilt. Die Fraktionskommandanten folgen dem Kommando der Legionen. Die Anzahl der Fraktionen variiert in den einzelnen Legionen (GCSP 10.2020). Die Türkei unterstützt die Rebellen vor allem zur Eindämmung der Milizen der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Gel - YPG), die sie beschuldigt, eine Erweiterung der im Inland verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (Partiya Karkerên Kurdistanê - PKK), [die die Türkei und auch die EU als Terrororganisation gelistet hat Anm.] zu sein (BBC 10.12.2024). Die türkische Armee ist in weiten Teilen Nordsyriens präsent und verfügt nach Angaben von Jusoor for Studies über 125 militärische Stellungen, darunter 12 Basen und 113 Stellungen. Die meisten dieser Stellungen wurden im Anschluss an türkische Militäroperationen eingerichtet, die vermutlich auf nicht deklarierten Vereinbarungen im Rahmen des Astana-Prozesses beruhten (SyrInd 13.3.2024). Der türkische Außenminister sagte am 15.2.2025, sein Land würde seine militärische Präsenz im Nordosten Syriens überdenken, wenn die neue Führung des Landes die PKK eliminieren würde (AP 15.2.2025). Einige Experten gehen davon aus, dass die Großoffensive, die zum Sturz al-Assads geführt hat, nicht ohne die Zustimmung der Türkei erfolgen hätte können, die Türkei bestreitet die führende Oppositionsgruppierung Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) unterstützt zu haben (BBC 10.12.2024).
Die Hamza-Division (auch: Hamzat) kontrolliert al-Bab, Jarablus und ’Afrin und steht unter dem Kommando von Saif Bolad (Abu Bakr), einem prominenten Führer der von der Türkei unterstützten SNA (LebDeb 10.3.2025).
Die von der Türkei unterstützten Rebellengruppierungen innerhalb der SNA kontrollieren Teile Nordsyriens nahe der türkischen Grenze, darunter 'Afrin, Suluk und Ra's al-'Ain. Diese Gebiete hat die SNA 2018 und 2019 von den kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräften (Syrian Democratic Forces - SDF) erobert (Al-Monitor 8.12.2024).
Am 6.2.2025 sind Streitkräfte des syrischen Ministeriums für Allgemeine Sicherheit in die nordwestsyrische Stadt 'Afrin einmarschiert. 'Afrin wird seit 2018 von verschiedenen bewaffneten Gruppierungen der von der Türkei unterstützten SNA besetzt gehalten. Mit dem Einmarsch in 'Afrin setzt die neue syrische Regierung ihre Kontrolle über Teile des Landes durch. 'Afrin ist ein historisch kurdisches Gebiet in Syrien, und der Machtwechsel wurde von den kurdischen Medien aufmerksam verfolgt (LWJ 6.2.2025).
Die COI hat festgestellt, dass die Syrische Nationalarmee (Syrian National Army - SNA) im Zusammenhang mit der Inhaftierung Kriegsverbrechen, wie Folter und grausame Behandlung, Geiselnahme, Vergewaltigung und sexuelle Gewalt sowie Handlungen, die dem Verschwindenlassen gleichkommen, begangen hat (UNHRC 12.7.2023). Ebenso dokumentierten die Nichtregierungsorganisationen Ceasefire und Yasa Fälle von Inhaftierung, Folter, Tötung und Verschwindenlassens von Zivilisten, darunter Frauen und ältere Menschen (CCR/YASA 5.2024). Türkische Militär- und Geheimdienstkräfte, Splittergruppen der SNA und die Militärpolizei sind in Misshandlungen im Zusammenhang mit Inhaftierungen verwickelt. Zahlreiche von HRW und der COI dokumentierte Berichte zeichnen ein erschreckendes Bild dieser Bedingungen. Derzeit wird die Beteiligung türkischer Beamter an diesen Misshandlungen vermutet, wobei Berichten zufolge die meisten Misshandlungen in Haftanstalten der SNA-Fraktion oder provisorischen Einrichtungen der Militärpolizei stattgefunden haben (HSC 6.5.2024). Zu den Einrichtungen, in denen seit 2020 solche Folterhandlungen dokumentiert wurden, gehören Gefängnisse und provisorische Einrichtungen, die von einzelnen SNA-Gruppierungen geführt werden, sowie Einrichtungen, die von der Zivil- und Militärpolizei der SNA betrieben werden (UNHRC 12.7.2023). Die COI dokumentierte die Anwesenheit von türkischen Beamten in Haftanstalten der SNA und teilweise auch bei Folter- und Misshandlungen (UNHRC 12.7.2023; vgl. STJ 26.6.2024). Die Nichtregierungsorganisation Synergy Associations for Victims dokumentierte Kriegsverbrechen in Form von Folter und Misshanldungen in Afrin, Ra's al-'Ayn, Serê Kaniyê und Tell Abyad (SAV 25.2.2024). Die CoI stellte Fälle von Folter und Misshandlungen in mehreren Gefängnissen der SNA in 'Afrin, A'zaz, Ma'arratah, Raju und Hawar Kilis fest (UNGA 9.2.2024). Ehemalige Häftlinge berichten von albtraumhaften Folterungen während der Verhöre, um falsche Geständnisse zu erpressen, die teilweise zu Todesfällen führten (HSC 6.5.2024). Zu den Opfern der Foltermaßnahmen der SNA gehören insbesondere Personen, die unter Verdacht standen, Verbindungen zu den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Gel - YPG) und den Syrischen Demokratischen Kräften (Syrian Democratic Forces - SDF) zu haben. Inhaftierte waren vorwiegend Kurden (UNHRC 12.7.2023).
In den letzten Jahren sollen SNA-Kämpfer schwere Menschenrechtsverletzungen gegen kurdische Gemeinden in 'Afrin und im Umland von Aleppo begangen haben. Sie wurden beschuldigt, willkürliche Verhaftungen, Inhaftierungen ohne Kontakt zur Außenwelt, Entführungen und Folter begangen zu haben. Während der Offensive "Abschreckung der Aggression" hat HTS mehrere Kämpfer von SNA-Gruppen nördlich von Aleppo im Stadtviertel Sheikh Maqsoud festgenommen und sie beschuldigt, kurdische Zivilisten ausgeraubt und verletzt zu haben, so ein Experte (MEE 7.12.2024). Die United Nations Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic berichtete weiterhin von Verhaftungen, Gewalt und finanzieller Erpressung durch die Militärpolizei der Syrischen Nationalarmee (SNA) und bestimmter Gruppierungen, insbesondere der Sultan-Suleiman-Shah Division und der Sultan-Murad-Division (UNHRC 12.8.2024).
Nichtregierungsorganisationen berichten von Menschenrechtsverletzungen in der Provinz 'Afrin, darunter fortgesetzte Verletzungen des Rechts auf körperliche Unversehrtheit von Zivilisten in der Region durch willkürliche Inhaftierung und Folter, Entführungen zur Erpressung von Lösegeld, Zwangsheirat und geschlechtsspezifische Gewalt sowie die Rekrutierung von Kindern durch die bewaffneten Gruppierungen, Diskriminierung bei der Verteilung von Hilfsgütern, die Islamisierung und Turkisierung von 'Afrin und die wiederholten Angriffe auf kulturelle Feste wie Newroz. Darüber hinaus zeigten sie demografische Verschiebungen durch Zwangsmigration, die Zerstörung von Gräbern und historischen Stätten, illegale archäologische Ausgrabungen, die absichtliche Zerstörung von Olivenbäumen, das Abbrennen von Feldern und Verstöße gegen die Wohn-, Land- und Eigentumsrechte in der Region auf (CCR/YASA 5.2024).
Seit dem Sturz des Regimes haben die Spannungen um Eigentumsrechte zugenommen. Einige zurückkehrende Familien sind mit Streitigkeiten mit den derzeitigen Bewohnern konfrontiert, während andere von Zwangsräumungen und vergeltungsmäßigen Beschlagnahmungen von Eigentum berichten, insbesondere in 'Afrin, 'Azaz, Jandiris, Saraqeb, Hama, der Umgebung von Damaskus und Latakia, wo es Berichten zufolge zu Racheräumungen aufgrund religiöser Zugehörigkeit gekommen ist (GPC 3.4.2025).
Laut Nichtregierungsorganisationen gibt es im Nordwesten Syriens Bauprojekte zur Unterbringung von Syrern aus anderen Gouvernements, und die nicht auf die Bedürfnisse der vertriebenen kurdischen Einwohner, die aufgrund der Operation Olivenzweig und ihrer Nachwirkungen gezwungen waren, ihr Land zu verlassen, eingingen und so zu ihrer weiteren Marginalisierung beitrugen. Die Vertreibung der kurdischen Einwohner hat sich verschärft, da die anhaltenden Feindseligkeiten in Nordsyrien mehr vertriebene Syrer aus Idlib, Ghouta, Nord-Hama und dem ländlichen Damaskus in die Region 'Afrin gezwungen haben. In einigen Fällen haben Gruppierungen der SNA den Bau ganzer Dörfer übernommen, oft unter dem Vorwand, dass sie der Zivilbevölkerung zugutekommen, während die Projekte in Wirklichkeit in erster Linie den Wohnbedürfnissen der Kämpfer und ihrer Familien dienen. In der Tat wurden viele kurdische Einwohner gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben, um Platz für den Bau neuer Siedlungen zu schaffen. Der Bau dieser Siedlungen führt häufig zur Zwangsumsiedlung der lokalen kurdischen Bewohner, was die Mehrheit der kurdischen Bevölkerung in der Region veranlasst, ihre Heimat zu verlassen (CCR/YASA 5.2024).
1.2.2. Euaa, Country Guidance Syria, April 2024 [Auszüge]:
Kurds also inhabit areas which came under the control of Turkish-backed SNA. Since 2018, thousands of internally displaced Syrian Arabs, fighters’ families and Turkmen were relocated to Afrin in Aleppo governorate, with Türkiye’s support, while more than half of the Kurdish population had left. The Kurdish population in Afrin drastically dropped from over 90% to about 25 %, as of May 2021. Shelter continued to be particularly problematic for Kurdish residents as their property was often looted or occupied by IDPs from GoS-controlled areas or families of SNA fighters. Others were forced to leave their homes through threats, extortion, detention and abduction by SNA-affiliated local militia groups. Similar incidents were reported in Raqqa and Hasaka governorates. Further, the authorities in Afrin ceased to issue official documents in the Kurdish language, traffic signs and other institutional signs were changed into Arabic and Turkish, and the Kurdish school curriculum was replaced. Kurdish neighbourhoods were reportedly discriminated when it came to the provision of services such as electricity supplies and road network maintenance. [Targeting 2022, 10.2, pp. 91-93]
Sources reported that the SNA continued to commit abuses such as arbitrary detention, abduction, as well as torture and ill treatment against civilians, predominantly of Kurdish origin in Afrin and Ras al Ain (Kobane). One source reported that some detained people in Afrin ‘were arrested for the simple fact that they were Kurds’. There was also information about Kurdish women in Afrin and Ras al Ain (Kobane) facing intimidation by SNA faction members that made them unable to leave home. Detained women were also reportedly subject to rape and sexual violence and some abducted or forced into marriage. [Targeting 2022, 10.2, pp. 93-94]
For Kurds from areas under the control of the SNA, well-founded fear of persecution would in general be substantiated.
1.2.3. Anfragebeantwortung zu Syrien vom 22.11.2024: Lage von Kurd·innen in türkisch kontrollierten Gebieten (Einsatz von Gewalt, extralegalen Mitteln, Marginalisierung durch die Türkei bzw. mit der Türkei verbündeten Milizen; in welchen Gebieten/Regionen) [a-12487] [Auszüge]:
Human Rights Watch (HRW) veröffentlicht im Februar 2022 einen Bericht über Menschenrechtsverletzungen und Straflosigkeit im türkisch besetzten Nordsyrien. HRW erklärt, dass laut Angaben informierter Quellen die Syrische Nationalarmee (SNA) zwar offiziell der syrischen Übergangsregierung (einem selbsternannten, international anerkannten Gremium mit Sitz in Azaz, das die syrische Opposition vertritt) unterstehe, faktisch jedoch den türkischen Streitkräften und Geheimdiensten unterstellt sei, ebenso wie militärische und zivile Polizeikräfte der Region. HRW habe keine veröffentlichten Richtlinien gefunden, die die Rolle der türkischen Behörden in der Kommandostruktur in den türkisch kontrollierten Gebieten Syriens darlegen würden. Laut HRW würden die türkischen Behörden die Volksverteidigungseinheit (YPG) und die Frauenverteidigungseinheit (YPJ), die größten Komponenten der kurdisch geführten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), welche sie als Terrororganisation ansehen würden, gleichsetzen. Aus diesem Grund hätten Kurd·innen, die als loyal gegenüber der SDF angesehen würden, weil sie in der Vergangenheit in Gebieten unter SDF-Kontrolle gelebt und ihr Land bewirtschaftet hätten, die Hauptlast der dokumentierten Übergriffe getragen. Auch Araber·innen und Personen weiterer Ethnien, von denen angenommen werde, dass sie Verbindungen zur SDF oder der Autonomen Verwaltung Nordost-Syriens (AANES) hätten, seien ins Visier genommen worden (HRW, Februar 2024, S. 3). Laut HRW seien seit der Übernahme von Afrin im Jahr 2018 und Ras Al-Ayn im Oktober 2019 zahlreiche Menschen willkürlich festgenommen und inhaftiert worden, gewaltsam verschwunden, gefoltert und anderweitig misshandelt und unfairen Militärprozessen unterzogen worden (HRW, Februar 2024, S. 28).
Das Syria Justice and Accountability Centre (SJAC) schreibt im März 2024, dass willkürliche Inhaftierungen, Folter und Erpressungen (besonders in Ras Al-Ayn und Tell Abyad) 2023 ein zentraler Bestandteil der türkischen und SNA-Führung gewesen seien. Die Übergriffe hätten laut SJAC oft auf die kurdische Gemeinschaft abgezielt (SJAC, März 2024, p. 8).
Willkürliche Inhaftierungen
Ceasefire Centre for Civilian Rights und YASA berichten in ihrem Bericht über Menschenrechtsverletzungen in Afrin vom Mai 2024, dass seit dem vorherigen Bericht über die Lage in Afrin vom Jahr 2021 die Zahl der Inhaftierungen, Folterungen und des erzwungenen Verschwindenlassens zugenommen habe. Ein Großteil der Zivilbevölkerung in Afrin, insbesondere die kurdische Bevölkerung, lebe in ständiger Angst vor Gewalt, vor allem durch die von der Türkei unterstützte Syrische Nationalarmee (SNA). Eine Kultur der Straflosigkeit ermögliche häufige Übergriffe auf die lokale Bevölkerung. Vor allem kurdische Zivilist·innen würden unter dem Vorwand einer angeblichen Zugehörigkeit zur früheren kurdisch geführten Regierung willkürlich festgenommen (Ceasefire Centre for Civilan Rights und YASA, 14. Mai 2024, S. 2). Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen seien alltäglich für Zivilist·innen in Afrin und würden von verschiedenen Sicherheitskräften und bewaffneten Gruppierungen ausgehen. Sie würden insbesondere auf Kurd·innen abzielen, unabhängig von deren Alter, Geschlecht oder Beruf. Die Beschlagnahmung von Eigentum (weitere Informationen finden Sie unten) stehe im Zusammenhang mit den Festnahmen (Ceasefire Centre for Civilan Rights and YASA, 14. Mai 2024, S. 4).
Laut HRW würden festgenommenen Personen in Haftanstalten verschiedener Fraktionen in Afrin und Ras Al-Ayn für Zeiträume von drei Wochen bis über zwei Jahren festgehalten (HRW, Februar 2024, S. 32). Viele seien im Gegenzug zu Zahlungen freigelassen worden (HRW, Februar 2024, S. 31).
Das Syrian Observatory for Human Rights (SOHR) berichtet, dass seit Beginn der türkischen Kontrolle Afrins bis Mitte März 2024 über 8.729 kurdische Zivilist·innen aus Afrin verhaftet worden seien, von denen 1.123 mit Stand März 2024 weiterhin inhaftiert seien. Die anderen seien freigelassen worden, nachdem die meisten von ihnen hohe Lösegeldzahlungen an die SNA geleistet hätten (SOHR, 17. März 2024).
Die Kurdische Demokratische Einheitspartei in Syrien berichtet auf ihrer Webseite im März 2024 von sechs Fällen willkürlicher Inhaftierungen von Kurd·innen innerhalb eines Monats (zwischen Anfang Februar und Anfang März 2024) durch den türkischen Geheimdienst und die Militärpolizei wegen Zugehörigkeit zur früheren Autonomieverwaltung (Yek.Dem, 12. März 2024).
Laut HRW gebe es zwar Zivilgerichte, Personen, denen vorgeworfen werde, kurdischen bewaffneten Gruppen anzugehören oder mit ihnen in Verbindung zu stehen, würden jedoch häufig von Militärgerichten verurteilt. Diesen mangle es an Unabhängigkeit. Richter würden dem militärischen Kommando und den Anweisungen ihrer Vorgesetzten unterliegen. Häftlingen werde ein Rechtsbeistand verweigert und erzwungene Geständnisse würden oft als einziges Beweismittel verwendet werden (HRW, Februar 2024, S. 42-43).
Folter, Misshandlungen und Vergewaltigungen
Laut Ceasefire Centre for Civilan Rights und YASA seien Gefangene, überwiegend kurdische Zivilist·innen, in von der SNA betriebenen Haftanstalten systematischer Folter ausgesetzt, häufig, um Lösegeld von den Familien zu erpressen (Ceasefire Centre for Civilan Rights und YASA, 14. Mai 2024, S. 2).
Syrians for Truth and Justice (STJ) schreibt im Juni 2024, dass eine Analyse von 65 Interviews – davon 45 Kurd·innen – mit Überlebenden und Familienmitglieder von Opfern von Folter in Afrin, Ras Al-Ayn und Tell Abyad zeige, dass Folter und Misshandlungen durch SNA-Fraktionen systematischer Natur seien und darauf abzielen würden, die lokale Bevölkerung, insbesondere Kurd·innen, einzuschüchtern, und sie dazu zu zwingen, ihre Häuser zu verlassen oder kontinuierlich Geldzahlungen zu tätigen (STJ, 26. Juni 2024, S. 3-4).
Die unabhängige internationale Untersuchungskommission zu Syrien bestätigt in ihrem Bericht an den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UN Human Rights Council (HRC)) vom August 2023 den Erhalt von Berichten über willkürliche Inhaftierungen, Folter und Misshandlungen in von der SNA kontrollierten Gebieten, hauptsächlich durch Polizeikräfte der SNA. Viele der Opfer seien Kurd·innen, die verdächtigt würden, eine Verbindung zu den kurdischen Volksverteidigungseinheiten, den Demokratischen Kräften Syriens (SDF) oder der Regierung zu haben. Der Bericht nennt zwei Beispiele von gefolterten Kurden aus Anfang 2023. Einer von ihnen sei in Ras Al-Ayn gefoltert worden, während der zweite in Ra’i (Provinz Aleppo, Anmerkung ACCORD) festgenommen worden sei (HRC, 14. August 2023, S. 14). Im August 2024 listet die Kommission eine Reihe von Haftanstalten in Afrin, Dscharablus, Ras Al-Ayn, Sheikh Hadid, Afrin, Hawar Killis und I’zaz auf, in denen die Ausübung von Folter dokumentiert worden sei. Der Bericht beschreibt die Folterungen und Misshandlungen von Kurd·innen, sowie einer Araberin, der Verbindungen zur PKK nachgesagt worden seien, in den genannten Haftanstalten in den Jahren 2023 und 2024 (nähre Details zu den Misshandlungen und Foltermethoden finden Sie im Anhang). Unter den misshandelten Kurd·innen sei auch ein 15-jähriger Junge gewesen. Laut dem Bericht sei ein 15-jähriger kurdischer Junge (es ist nicht ersichtlich, ob es sich um denselben Jungen handelt, Anmerkung ACCORD) zweieinhalb Jahre lang ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten worden. Laut der Kommission würden Richter·innen die Beschwerden von Häftlingen mit sichtbaren Folterspuren weiterhin abweisen (HRC, 12. August 2024, S. 14). Die Kommission berichtet weiters von zwei Kurd·innen die 2022 und 2023 von einem SNA-Mitglied bzw. einem Mitglied der Sultan-Murad-Division vergewaltigt bzw. sexuell angegriffen worden seien (HRC, 12. August 2024, S. 15).
HRW berichtet von 16 interviewten ehemaligen Häftlingen, die in Haftanstalten unterschiedlicher Fraktionen in Afrin wie auch Ras Al-Ayn Opfer und Zeug·innen von Folter und anderen Misshandlungen geworden seien (HRW, Februar 2024, S. 33). HRW habe mit vier Frauen gesprochen, die in den Haftanstalten der SNA-Fraktionen und der Militärpolizei in Afrin sexuelle Gewalt selbst erlebt und beobachtet hätten. Ein Mann sei von Gefängniswärtern dazu gezwungen worden, Zeuge einer Gruppenvergewaltigung zweier kurdischer Frauen zu sein. Alle dokumentierten Fälle hätten sich zwischen Jänner 2018 und Juli 2022 in Afrin ereignet und seien an Kurd·innen verübt worden (HRW, Februar 2024, S. 39).
Außergerichtliche Tötungen
Ceasefire Centre for Civilan Rights und YASA dokumentierten Vorfälle gezielter außergerichtlicher Tötungen durch bewaffnete Gruppen und den türkischen Geheimdienst. Der Bericht nennt den Fall eines 32-jährigen Kurden aus dem Dorf Kafrom, der in Abstimmung mit dem türkischen Geheimdienst von einer bewaffneten Gruppe entführt worden sei. Fünfzehn Tage später sei seine Leiche auf einem Ackerfeld gefunden worden und habe Spuren von Folter aufgewiesen (Ceasefire Centre for Civilan Rights und YASA, 14. Mai 2024, S. 4)
Die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty International berichtet im Jahresbericht 2023 von folgendem Vorfall:
„Am 20. März 2023 schossen Mitglieder der SNA [Syrische Nationalarmee] in der Stadt Dschinderes in Nordsyrien auf eine kurdische Familie, die das kurdische Neujahrsfest Newroz feierte, dabei töteten sie vier Zivilpersonen und verletzten drei weitere. Am nächsten Tag nahm die SNA vier bewaffnete Kämpfer fest, die mutmaßlich für den Angriff verantwortlich waren. Sie gab jedoch nicht bekannt, ob diese bestraft wurden und ob die Familie eine Entschädigung erhalten würde.“ (Amnesty International, 24. April 2024; siehe auch: Ceasefire Centre for Civilan Rights und YASA, 14. Mai 2024, S. 17; HRC, 14. August 2023, S. 13)
Beschlagnahmungen
Laut der unabhängigen internationalen Untersuchungskommission zu Syrien würden einige SNA-Fraktionen routinemäßig einen Teil der Olivenernte der Bauern konfiszieren. In den von der Suleiman-Shah-Brigade kontrollierten Gebieten seien Zahlungen für und die Beschlagnahmung von Ernten erheblich gestiegen und würde in einigen Fällen den Wert der Ernte übersteigen. Die Kommission habe im Dezember 2023 zwei Fälle kurdischer Männer dokumentiert, die von der Suleiman-Shah-Brigade verhaftet und inhaftiert worden sein, weil sie die „Steuer“ von mehr als 10.000 Dollar auf ihr Land bzw. für Gewinne aus Olivenöl nicht gezahlt hätten. Ein weiterer Kurde aus Afrin habe sich geweigert, einen Teil vom Gewinn seiner Olivenernte an die Sultan-Murad-Division zahlen. Kurz darauf seien Dutzende Olivenbäume gefällt und gestohlen worden. Bewaffnete Gruppierungen hätten sich weiters das Land abwesender Landbesitzer angeeignet. Die Gruppierungen würden von Rückkehrer·innen Geld verlangen, um ihre Wohnhäuser zurückzuerhalten. Der Bericht beschreibt die Situation einer kurdischen Familie aus Afrin, denen trotz Nachweises des rechtmäßigen Eigentums die Rückkehr in ihr Haus verweigert worden sei. Das Haus sei von einem Verwandten eines SNA-Mitglieds bewohnt worden (HRC, 9. Februar 2024, S. 14). Die Kommission berichtet im August 2024 von der Fortsetzung der Beschlagnahmung von Eigentum durch die Sultan-Murad- und Al-Jabha al-Shamya-Fraktionen sowie die Belegung der Zivilbevölkerung mit exorbitanten „Steuern“. In mehreren dokumentierten Fällen seien Personen, die sich den Forderungen widersetzt hätten, festgenommen und Gewalt ausgesetzt worden. Die Kommission nennt ausschließlich Beispiele von Kurd·innen, die die genannten „Steuern“ zahlen mussten und denen es nicht möglich gewesen sei, ihr Eigentum und Land nach einer Beschlagnahmung wieder zurückzuerhalten (HRC, 12. August 2024, S. 16).
HRW schreibt im Februar 2024, dass Bewohner·innen und Rückkehrer·innen, die es wagen würden, sich gegen die Beschlagnahmungen und Plünderungen zu wehren, der Gefahr willkürlicher Verhaftung, Inhaftierung, Folter und Misshandlung, Entführung und des erzwungenen Verschwindenlassens ausgesetzt seien. HRW habe mit 36 Personen, 20 aus Afrin, allesamt Kurd·innen, und 15 aus Ras al-Ayn, davon 4 Kurd·innen, 8 Araber·innen, zwei Jesid·innen und ein Mitglied einer religiösen Minderheit, gesprochen, die von der Verletzung ihrer Wohn-, Land- und Eigentumsrechte oder der Rechte ihrer Familienangehörigen erzählt hätten (HRW, Februar 2024, S. 46).
Laut der North Press Agency (NPA) seien viele Kurd·innen aus Afrin gezwungen, Häuser zu mieten oder obdachlos zu sein, weil die SNA ihre Häuser beschlagnahmt habe und sich weigere, die Häuser ihren Eigentümern zurückzugeben. Die SNA habe damit begonnen, diese Häuser und das Eigentum der ursprünglichen Bewohner·innen Afrins zu niedrigen Preisen an ihre Mitglieder oder Siedler aus anderen Gebieten zu verkaufen (NPA, 30. April 2024).
STJ berichtet im November 2023, dass laut von ihnen gesammelten Zeugenaussagen es in fast allen Bezirken Afrins zu Beschlagnahmungen von Zivileigentum gekommen sei. Zusammenarbeit mit der AANES und Mitgliedschaft in der PKK seien als Grund für die Beschlagnahmung von Eigentum genannt worden. Es sei jedoch auch Eigentum von Kurd·innen beschlagnahmt worden, die keine nachgewiesenen Verbindungen zu den zivilen oder militärischen Institutionen der AANES gehabt hätten. Die Beschlagnahmungen seien so umfangreich, dass ganze Dörfer oder große Teile von Dörfern, mit den dazugehörigen landwirtschaftlichen Flächen, beschlagnahmt worden seien und es den Einheimischen weiterhin nicht erlaubt sei, in die Dörfer zurückzukehren (STJ, 13. November 2023, S. 8).
NPA berichtet, dass es in Ras Al-Ayn (auch Sere Kaniye genannt) und Tell Abyad zu Massenvertreibung gekommen sei. Laut NPA sei die kurdische Bevölkerung von Ras Al-Ayn von rund 70.000 auf 42 Personen geschrumpft. In Tell Abyad hätten Kurd·innen früher 30 Prozent der Bevölkerung ausgemacht. Es seien mit Oktober 2024 nur noch wenige Familien übrig (NPA, 8. Oktober 2024; siehe auch: STJ, 8. Oktober 2024, S. 2)
Diskriminierung bei der Verteilung von Hilfsgütern
Amnesty International beschreibt in seinem Jahresbericht 2023 die Situation in Nordsyrien in Folge des Erdbebens vom Februar 2023 wie folgt:
„Die von der Türkei unterstützten bewaffneten Gruppen der SNA [Syrische Nationalarmee] verhinderten, dass Menschen im Bezirk Afrin in der Provinz Aleppo nach den Erdbeben Hilfe erhielten. Sie schossen in die Luft, um Menschenmengen zu zerstreuen, die Hilfsgüter von Lastwagen in Empfang nehmen wollten, und zweigten Hilfsgüter für ihre eigenen Angehörigen ab.
Vier von Amnesty International befragte Personen bestätigten, dass die SNA mindestens 30 Lastwagen mit Kraftstoff und anderen Hilfsgütern der kurdischen Autonomieverwaltung daran hinderte, in Gebiete unter Kontrolle der SNA zu gelangen. Die Lastwagen warteten sieben Tage lang vergeblich am Grenzübergang zwischen Nordostsyrien und dem Norden der Provinz Aleppo, bevor die Autonomieverwaltung sie zurückbeorderte. Ein kurdischer Mann im Bezirk Afrin, dessen Haus bei den Erdbeben zerstört worden war, berichtete Amnesty International, dass man ‚Beziehungen‘ (wasta) zu den bewaffneten Gruppen benötige, um Hilfe zu erhalten, und dass niemand gekommen sei, um zu helfen.“ (Amnesty International, 24. April 2024)
Auch Ceasefire Centre for Civilan Rights und YASA berichten über ungerechte Verteilung von Hilfsgütern und die Diskriminierung vor allem gegen lokale kurdische Gruppen in Dschinderes (Ceasefire Centre for Civilan Rights und YASA, 14. Mai 2024, S. 13; siehe auch: The New Arab, 23. Februar 2023; STJ, 13. November 2023, S. 22; SJAC, März 2024, S. 9). Der Präsident des Zivilrats von Dschinderes habe den Vorwurf der Diskriminierung bestritten (The New Arab, 23. Februar 2023).
Marginalisierung der kurdischen Sprache im Bildungssystem
Die Hawar News Agency (ANHA) zitiert im Mai 2024 den Menschenrechtsaktivisten Ibrahim Sheikho. Laut Sheikho würden Schulen gezwungen, Türkisch zu unterrichten. Kurdischen Sprachunterricht gebe es nur ein oder zwei Mal pro Woche (ANHA, 15. Mai 2024).
Ceasefire Centre for Civilan Rights und YASA erklären in ihrem Bericht über die Situation in Afrin, dass Türkisch und Arabisch als Pflichtfächer in den Schulen unterrichtet würden, während die kurdische Sprache nur zwei Mal pro Woche unterrichtet werde und der Unterricht optional sei (Ceasefire Centre for Civilan Rights and YASA, 14. Mai 2024, S. 8).
Laut Yek.Dem sei die kurdische Sprache seit 2018 bewusst vernachlässigt worden und die Lehrpläne seien im Zuge einer Türkisierung bzw. Arabisierung des Gebiets vollkommen verändert worden (Yek.Dem, 12. März 2024).
Weitere Fälle von Diskriminierung
Laut dem oben genannten Ibrahim Sheikho sei Kurd·innen in Afrin das Tragen von Waffen verboten, während es Siedlern („settlers“) gestattet sei (ANHA, 15. Mai 2024).
Ceasefire Centre for Civilan Rights und YASA berichten, dass die Ahrar-al-Sham-Fraktion, die das Dorf Qarzihel effektiv kontrolliere, die Bewohner·innen 2023 daran gehindert hätte, in der Newroz-Nacht im Dorf eine Newroz-Flamme zu entzünden. Ein Beamter habe bei Versammlungen außerhalb der Wohnhäuser mit Gefängnisstrafen gedroht und das Entzünden von Feuern in der Nähe von Häusern verboten (Ceasefire Centre for Civilan Rights und YASA, 14. Mai 2024, S. 17).
Laut HRW würden Fraktionen der SNA und der Militärpartei, die Menschenrechtsverletzungen verübt hätten, in türkisch kontrollierten Gebieten sehr selten angemessen zur Rechenschaft gezogen. Es würden keine öffentlichen Informationen darüber vorliegen, ob die Türkei gegen ihre eigenen Beamt·innen wegen ihrer Mitschuld an inhaftierungsbezogenen Missbräuchen und Verletzungen von Wohn-, Land- und Eigentumsrechten in den von ihr kontrollierten Gebieten ermittelt oder sie zur Rechenschaft gezogen hat (HRW, Februar 2024, S. 62).
1.2.4. Human Rights Watch, Word Report 2025 – Syria, veröffentlicht am 16.01.2025, Dokument #2120035, abrufbar unter https://www.ecoi.net/de/dokument/2120035.html [abgerufen am 20.05.2025] [Auszüge]:
Turkish-Occupied Northern Syria
In Turkish-occupied territories of northern Syria, factions of the SNA and the Military Police, a force established by the Türkiye-based Syrian Interim Government (SIG) to curb faction abuses, subjected scores of people to arbitrary arrests, enforced disappearances, torture and ill-treatment, sexual violence, and unfair military trials, all with impunity.
SNA factions continued to violate civilians’ housing, land and property rights, including by forcefully seizing homes, lands, and businesses. And hundreds of thousands of Syrians who fled their homes during and after Türkiye’s successive military operations into the region remained displaced and dispossessed.
1.2.5. Euaa, Syria: Country Focus, März 2025 [Auszüge]:
Housing and property violations continued throughout January as displaced Kurdish residents attempted to return to Afrin, a Kurdish-majority region in the Aleppo countryside, and its surrounding areas. SNA factions reportedly forced them to pay up to 10 000 USD to reclaim their homes. Concurrently SNA factions detained at least 10 Kurds in Afrin in January, with ransom demands for release rising above 1 000 USD per person.201 By mid-February, there had been minimal change for the Kurds in Afrin despite the deployment of Damascus’ security forces in the city on February 7. Abuses by various factions in Afrin reportedly continued. Returning residents discovered that their homes were occupied by fighters or civilians, who demanded substantial sums of money for their departure, despite the previous residents having received formal assurances from the transitional administration to return.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zu den Feststellungen zur Person des BF und zu seinem Fluchtvorbringen:
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, zur Volksgruppenzugehörigkeit und zum Religionsbekenntnis ergeben sich aus den durchwegs gleichbleibenden Ausführungen des BF während des Verfahrens. Die Feststellungen zu seinen Fluchtbewegungen gründen ebenso auf den unbedenklichen und im Wesentlichen stets gleichbleibenden Angaben des BF. Die Feststellungen zur Asylantragsstellung ergeben sich aus dem Erstbefragungsprotokoll.
Dass der BF ledig ist und keine Kinder hat, konnte den diesbezüglich glaubhaften Angaben des BF entnommen werden.
Die Unbescholtenheit des BF geht aus dem amtswegig eingeholten Strafregisterauszug hervor.
Die Feststellung, dass die Herkunftsregion des BF XXXX , Gouvernement Aleppo, ist, beruht auf dem Umstand, dass er dort geboren wurde und erst 2018 aufgrund von Kriegswirren nach XXXX -Stadt flüchten musste. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass er weit engere Bindungen zu XXXX hatte (siehe VH S. 4). XXXX ist daher als Herkunftsregion des BF zu betrachten.
Die Feststellung zur Kontrollsituation in Bezug auf die Herkunftsregion des BF ergibt sich aus einer aktuellen Einschau auf die – die jeweilige Kontrollsituation in Syrien präzise darstellende – Website des Carter Centers (abrufbar unter https://www.cartercenter.org/news/multimedia/map/exploring-historical-control-in-syria.html). Zwar führt das Länderinformationsblatt Syrien, Version 12, widersprüchlich aus, dass die SNA XXXX kontrolliere (S. 21), um etwas später (S. 32) auszuführen, dass es zu einem Machtwechsel in XXXX gekommen sei und zusammengefasst die neue Regierung nunmehr die Kontrolle über XXXX habe (Quellenhinweis: LWJ 6.2.2025, abrufbar unter https://www.longwarjournal.org/archives/2025/02/syrian-government-forces-enter- XXXX -signaling-a-change-in-control.php ). Ein Blick in die zitierte Quelle bringt jedoch Aufschluss: Bereits aus dem Titel des im Länderinformationsblatt zitierten Artikels („Syrian government forces enter XXXX , signaling a change in control“) ergibt sich, dass ein Machtwechsel in XXXX (noch) nicht vollzogen wurde, sondern es lediglich diesbezügliche Anzeichen gebe. Es ist daher nach wie vor davon auszugehen, dass die Türkei und die mit dieser verbündete SNA-Miliz die Kontrolle über XXXX hat.
Die Feststellungen zur Situation der Kurden im Herkunftsgebiet des BF ergeben sich aus den zitierten Länderberichten. Aus diesen leitet sich die Feststellung ab, dass der BF als Kurde den in den Feststellungen genannten Gefahren mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt ist.
2.2. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat des BF unter Punkt 1.2. stützen sich auf die zitierten Quellen. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Spruchpunkt I.:
3.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).
Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0370). Verlangt wird eine „Verfolgungsgefahr“, wobei unter Verfolgung ein Eingriff von erheblicher Intensität in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen ist, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 28.03.1995, 95/19/0041; 26.02.2002, 99/20/0509 mwN; 17.09.2003, 2001/20/0177) ist eine Verfolgungshandlung nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen (aus Gründen der GFK) gesetzt worden ist, sondern auch dann, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen, sofern diese Handlungen – würden sie von staatlichen Organen gesetzt – asylrelevant wären. Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH vom 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).
3.2. Es ist im Lichte der Feststellungen, die sich insbesondere auf die Länderberichte stützen, glaubhaft, dass sich eine Person, die der kurdischen Ethnie angehört, davor fürchtet, in ein von der Türkei bzw. von mit dieser verbündeten Milizen kontrolliertes Gebiet zurückzukehren. Das Vorbringen des BF deckt sich diesbezüglich mit den Länderberichten. Aus den Länderfeststellungen ergibt sich, dass Kurden in diesem Gebiet allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Ethnie der Kurden ua. gefoltert, getötet und vertrieben werden, und daher aufgrund ihrer „Rasse“ in der Terminologie der GFK verfolgt werden.
Auch der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung die Gewährung von Asyl an Kurden aus von der Türkei besetzten Gebieten in XXXX bestätigt (vgl. zB VwGH 25.08.2022, Ra 2021/19/0442). Auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs in diesem Zusammenhang wird ebenso verwiesen (VfGH 19.09.2023, E 720/2023; 17.09.2024, E 904/2024). Daher liegt eine glaubhafte Verfolgungsangst aus Gründen der Zugehörigkeit zur – in der Sprache der GFK – „Rasse“ (Ethnie) der Kurden in von der Türkei und mit dieser verbündeten Milizen besetzten Gebieten im Nordwesten Syriens vor.
Da Asylausschluss- oder -endigungsgründe nicht vorliegen ist daher der Beschwerde stattzugeben und dem BF der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.
Wie sich aus den Feststellungen zur Kontrollsituation der Herkunftsregion des BF ergibt, befindet sich diese außerhalb des Kontrollgebiets der (neuen) syrischen Regierung, weshalb der syrische Staat nicht in der Lage ist, dem BF dort Schutz zu bieten.
Eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative besteht nicht; die Annahme ebendieser würde im Widerspruch zum aufgrund der derzeitigen Situation in Syrien bereits gewährten subsidiären Schutz stehen (vgl. etwa VwGH 23.11.2016, Ra 2016/18/0054, mwN).
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG ist die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem betroffenen Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung (vgl. die unter Punkt 3. angeführte Judikatur); weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Im Übrigen war eine auf die Umstände des Einzelfalls bezogene Prüfung vorzunehmen und waren Fragen der Beweiswürdigung entscheidend.
Es war somit insgesamt spruchgemäß zu entscheiden.