JudikaturBvwgW193 2283685-1

W193 2283685-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
17. April 2024

Spruch

W193 2283686-1/7E W193 2283683-1/6E W193 2283685-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Michaela RUSSEGGER über die Beschwerden der 1) XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, der 2) XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan und des 3) XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, alle vertreten durch die Bundesagentur für Beutreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, 1020 Wien, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , 1) Zl. XXXX , 2) Zl. XXXX , 3) Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX , zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde der XXXX wird stattgegeben. XXXX wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigen zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

II. Der Beschwerde der XXXX wird stattgegeben. XXXX wird gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigen zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

III. Der Beschwerde des XXXX wird stattgegeben. XXXX wird gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigen zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

I.1. Die Erstbeschwerdeführerin reiste mit ihrer minderjährigen Tochter, der Zweitbeschwerdeführerin, und ihrem minderjährigen Sohn, dem Drittbeschwerdeführer, in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am XXXX für sich und ihre minderjährigen Kinder Anträge auf internationalen Schutz.

I.2. Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie am XXXX in Laghman, Afghanistan geboren sei. Ihr Ehegatte habe vor etwa eineinhalb Jahren beschlossen, gemeinsam mit ihr und ihren Kindern aus Afghanistan auszureisen. Ihr Ehemann habe in Afghanistan eine Autowerkstatt besessen, in der er Militärautos repariert habe. Sie seien von den Taliban mit dem Tod bedroht worden und hätten deshalb aus Angst um ihr Leben Afghanistan verlassen müssen. Ihr Ehemann sei derzeit in Serbien aufhältig.

I.3. Am XXXX wurde die Erstbeschwerdeführerin Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen und gab dabei an, am XXXX in Abdulrahminzai, Qarghai, Laghman, Afghanistan, geboren zu sein. Sie sei sunnitische Muslima und gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an. Ihre fünf Brüder, ein Onkel und eine Tante, sowie die Familie ihres Ehemannes würden nach wie vor in Afghanistan leben. Ihr Ehemann halte sich derzeit in Serbien auf. Befragt zu ihren Fluchtgründen gab die Erstbeschwerdeführerin, dass ihr Ehemann in Afghanistan in der Nähe Ihres Heimatdorfes ein KFZ-Geschäft betrieben habe. Er habe damals die Autos der ehemaligen afghanischen Regierung repariert, weshalb er mehrmals von den Taliban bedroht worden sei und Drohbriefe erhalten habe. Die Taliban hätten ihn Zuhause aufgesucht und in der Moschee einen Brief hinterlassen, auf dem gestanden sei, dass er sich bei den Taliban vorstellig zu machen habe. Aus diesem Grund habe ihr Ehemann den Entschluss gefasst, Afghanistan gemeinsam mit den Beschwerdeführern zu verlassen.

Eine Rückkehr nach Afghanistan könne sich die Erstbeschwerdeführerin nicht vorstellen. Sie habe Angst vor den Taliban und wolle, dass ihre Tochter die die Möglichkeit habe, die Schule zu besuchen und eine Ausbildung abzuschließen. Unter der letzten Regierung hätten es Frauen in Afghanistan leichter gehabt. Sie habe das Leben in Österreich gesehen und wolle nicht wieder in Afghanistan leben, da sie sich in Österreich frei bewegen könne.

I.4. Mit Bescheiden vom XXXX wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) abgewiesen, ihnen der Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 (Spruchpunkt II.) zuerkannt und gemäß § 8 Abs. 4 AsylG die befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).

I.5. Gegen die angeführten Bescheide erhoben die Beschwerdeführer mit Schreiben vom XXXX Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl übermittelte dem Bundesverwaltungsgericht die eingebrachten Beschwerden samt dazugehörigen Verwaltungsakten.

I.6. An der am XXXX durch das Bundesverwaltungsgericht durchgeführten öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung nahmen sämtliche Beschwerdeführer teil. Auch der im Spruch genannte bevollmächtigte Vertreter nahm an der Verhandlung teil. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl verzichtete bereits mit Schreiben zur Beschwerdevorlage auf die Teilnahme an der Verhandlung.

Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung wurde die Erstbeschwerdeführerin im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschto u.a. zu ihrem gesundheitlichen Befinden, ihrer Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, ihren persönlichen Verhältnissen und ihrem Leben in Afghanistan, ihren Familienangehörigen, ihren Fluchtgründen und ihrem Leben in Österreich ausführlich befragt.

Als Beilagen zum Protokoll der mündlichen Verhandlung wurde u.a ein Konvolut an Unterlagen der Beschwerdeführer genommen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen

II.1. Sachverhaltsfeststellungen

II.1.1. Zu den Personen der Beschwerdeführer und deren Fluchtgründen

Die Beschwerdeführer tragen die im Spruch genannte Identität und sind afghanische Staatsangehörige.

Die Erstbeschwerdeführerin ist sunnitische Muslima und Angehörige der Volksgruppe der Paschtunen.

Die Erstbeschwerdeführerin hat zwei minderjährige Kinder. Die Zweitbeschwerdeführerin ist die minderjährige Tochter der Erstbeschwerdeführerin. Der Drittbeschwerdeführer ist der minderjährige Sohn der Erstbeschwerdeführerin.

Die Erstbeschwerdeführerin ist verheiratet. Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin, zugleich leiblicher Vater der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers, hält sich derzeit in Serbien auf.

Die Erstbeschwerdeführerin ist nicht selbsterhaltungsfähig. Sie hat keine schulische oder berufliche Ausbildung absolviert.

Die Erstbeschwerdeführerin ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. Die Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer sind in Österreich strafunmündig.

II.1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer

Die Erstbeschwerdeführerin hat seit ihrer Einreise in Österreich eine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Bei der von der Erstbeschwerdeführerin angenommenen Lebensweise handelt es sich um Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestandenen Überzeugung.

Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich um eine auf Eigen- und Selbstständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als westlich bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild, orientiert ist.

Die Erstbeschwerdeführerin ist nicht gewillt, sich den afghanischen Vorschriften entsprechend zu verhalten. Eine Fortsetzung des Lebens, das sie derzeit in Österreich führt, wäre ihr in Afghanistan nicht möglich. Die von ihr angenommene Lebensweise ist auch zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden. Sie lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Die Erstbeschwerdeführerin würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden und dadurch Gefahr laufen, aufgrund ihrer westlichen Orientierung und Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe der westlich orientierten Frauen verfolgt zu werden.

II.1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer

Im Verfahren wurden ua. die folgenden Quellen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer herangezogen:

- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan, September 2023

- Afghanistan – Country Focus, Dezember 2023

- Country Guidance: Afghanistan, Januar 2023

II.1.3.1. Auszug dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation

Sicherheitslage

Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.8.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes zurückgegangen (UNGA 28.1.2022, vgl. UNAMA 27.6.2023). Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es beispielsweise weniger konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) (UNGA 28.1.2022) sowie eine geringere Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung (UNAMA 27.6.2023; vgl. UNAMA 7.2022). Die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) hat jedoch weiterhin ein erhebliches Ausmaß an zivilen Opfern durch vorsätzliche Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen (IEDs) dokumentiert (UNAMA 27.6.2023). UNAMA registrierte zwischen dem 15.08.2021 und dem 30.05.2023 mindestens 3.774 zivile Opfer, davon 1.095 Tote (UNAMA 27.6.2023; vgl. AA 26.6.2023). Im Vergleich waren es in den ersten sechs Monaten nach der Machtübernahme der Taliban 1.153 zivile Opfer, davon 397 Tote, während es in der ersten Jahreshälfte 2021 (also vor der Machtübernahme der Taliban) 5.183 zivile Opfer, davon 1.659 Tote gab. In der Mehrzahl handelte es sich um Anschläge durch Selbstmordattentäter und IEDs. Bei Anschlägen auf religiöse Stätten wurden 1.218 Opfer, inkl. Frauen und Kinder, verletzt oder getötet. 345 Opfer wurden unter den mehrheitlich schiitischen Hazara gefordert. Bei Angriffen auf die Taliban wurden 426 zivile Opfer registriert (AA 26.6.2023).

Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die sicherheitsrelevanten Vorfälle seit der Machtübernahme der Taliban folgend:

• 19.8.2021 - 31.12.2021: 985 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 91 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.1.2022)

• 1.1.2022 - 21.5.2022: 2.105 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 467% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 15.6.2022)

• 22.5.2022 - 16.8.2022: 1.642 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 77,5% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 14.9.2022)

• 17.8.2022 - 13.11.2022: 1,587 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 23% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 7.12.2022)

• 14.11.2022 - 31.1.2023: 1,088 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 10 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 27.2.2023)

• 1.2.2023 - 20.5.2023: 1.650 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 20.6.2023)

Ende 2022 und in der ersten Hälfte des Jahres 2023 nehmen die Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppierungen und den Taliban weiter ab (UNGA 27.2.2023; vgl. UNGA 20.6.2023). Die Nationale Widerstandsfront, die Afghanische Freiheitsfront und die Bewegung zur Befreiung Afghanistans (ehemals Afghanische Befreiungsfront) bekannten sich zu Anschlägen in den Provinzen Helmand, Kabul, Kandahar, Kapisa, Nangarhar, Nuristan und Panjsher (UNGA 27.2.2023). Die dem Taliban-Verteidigungsministerium unterstehenden Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen gegen Oppositionskämpfer durch, darunter am 11.4.2023 eine Operation gegen die Afghanische Freiheitsfront im Bezirk Salang in der Provinz Parwan, bei der Berichten zufolge acht Oppositionskämpfer getötet wurden (UNGA 20.6.2023). Die Vereinten Nationen berichten, dass Afghanistan nach wie vor ein Ort von globaler Bedeutung für den Terrorismus ist, da etwa 20 terroristische Gruppen in dem Land operieren. Es wird vermutet, dass das Ziel dieser Terrorgruppen darin besteht, ihren jeweiligen Einfluss in der Region zu verbreiten und theokratische Quasi-Staatsgebilde zu errichten (UNSC 25.7.2023). Die Grenzen zwischen Mitgliedern von Al-Qaida und mit ihr verbundenen Gruppen, einschließlich TTP (Tehreek- e Taliban Pakistan), und ISKP (Islamic State Khorasan Province) sind zuweilen fließend, wobei sich Einzelpersonen manchmal mit mehr als einer Gruppe identifizieren und die Tendenz besteht, sich der dominierenden oder aufsteigenden Macht zuzuwenden (UNSC 25.7.2023). Hatten sich die Aktivitäten des ISKP nach der Machtübernahme der Taliban zunächst verstärkt (UNGA 28.1.2022; vgl. UNGA 15.6.2022, UNGA 14.9.2022, UNGA 7.12.2022) so nahmen die im Lauf des Jahres 2022 (UNGA 7.12.2022; vgl. UNGA 27.2.2023) und in der ersten Hälfte des Jahres 2023 wieder ab (UNGA 20.6.2023). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara (HRW 12.1.2023). Die Taliban- Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen zur Bekämpfung des ISKP durch, unter anderem in den Provinzen Kabul, Herat, Balkh, Faryab, Jawzjan, Nimroz, Parwan, Kunduz und Takhar (UNGA 20.6.2023). Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten, oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken in Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. In Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 79,7 % bzw. 70,7 % der Befragten an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z. B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 18.1.2022). Im Dezember 2022 wurde von ATR Consulting erneut eine Studie im Auftrag der Staatendokumentation durchgeführt. Diesmal ausschließlich in Kabul. Hier variiert das Sicherheitsempfinden der Befragten, was laut den Autoren der Studie daran liegt, dass sich Ansichten der weiblichen und männlichen Befragten deutlich unterscheiden. Insgesamt gaben die meisten Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen, wobei die relativ positive Wahrnehmung der Sicherheit und die Antworten der Befragten, nach Meinung der Autoren, daran liegt, dass es vielen Befragten aus Angst vor den Taliban unangenehm war, über Sicherheitsfragen zu sprechen. Sie weisen auch darauf hin, dass die Sicherheit in der Nachbarschaft ein schlechtes Maß für das Sicherheitsempfinden der Menschen und ihre Gedanken über das Leben unter dem Taliban-Regime ist (ATR/STDOK 3.2.2023).

Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten

Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräften abzusehen (AA 20.7.2022; vgl. USDOS 12.4.2022a), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.8.2021a; vgl. DW 20.8.2021). Im Zuge der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden (HRW 1.11.2021; vgl. NYT 29.8.2021) unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei bzw. zu Afghanen, die den internationalen Truppen geholfen haben (Intercept 17.8.2021). Auch Human Rights Watch (HRW) zufolge kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Iris-Scans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Die Taliban könnten diese Daten nutzen, um vermeintliche Gegner ins Visier zu nehmen, und Untersuchungen von Human Rights Watch deuten darauf hin, dass sie die Daten in einigen Fällen bereits genutzt haben könnten (HRW 30.3.2022). Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Die Gruppierung soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (Golem 20.8.2021; vgl. BBC 20.8.2021a, 8am 14.11.2022). So wurde beispielsweise ein afghanischer Professor verhaftet, nachdem er die Taliban via Social Media kritisierte (FR24 9.1.2022), während ein junger Mann in der Provinz Ghor Berichten zufolge nach einer Onlinekritik an den Taliban verhaftet wurde (8am 14.11.2022). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.8.2021).

Familienrecht

Die Regelungen zum afghanischen Familienrecht für die sunnitische Mehrheit sind im afghanischen Zivilgesetzbuch von 1977 festgeschrieben (Musawa 2.2020; vgl. ZGB 2014). Für die schiitische Minderheit in Afghanistan gilt seit 2009 das schiitische Personenstandsrecht (Musawa 2.2020; vgl. SPSR 4.2009). Die einschlägigen Gesetze sind auch nach der Machtübernahme der Taliban gültig. Es gibt keine unterschiedlichen Ansätze bei der Anwendung der die Ehe betreffenden Gesetzesartikel des afghanischen Zivilgesetzbuches durch die Gerichte. Allerdings gehen die Gerichte bei der Anwendung des afghanischen Staatsbürgerschaftsgesetzes in der Praxis unterschiedlich vor. Die Taliban-Regierung hat keine ausdrückliche Entscheidung darüber getroffen, ob eines der oben genannten oder andere Gesetze wieder in Kraft gesetzt werden oder nicht, aber in der Praxis hat jede Behörde und jedes Gericht seine eigene Präferenz (RA KBL 26.1.2023).

Eheschließung und Registrierung der Ehe

Sowohl nach dem Zivilgesetzbuch Artikel 70 (ZGB 2014) wie auch nach dem schiitischen Personenstandsregister ist das legale Heiratsalter für Frauen 16 Jahre und für Männer 18 Jahre (SPSR 4.2009; vgl. RA KBL 26.1.2023). Allerdings sind Eheschließungen nach dem Gesetz auch unter dem gesetzlichen Mindestalter in beiden Fällen möglich (Musawa 2.2020). So kann nach Artikel 71 des Zivilgesetzes der Vater oder das zuständige Gericht die Heirat von Mädchen unter 16 Jahren erlauben, wobei die absolute Untergrenze bei 15 Jahren liegt (ZGB 2014; vgl. Musawa 2.2020). Das schiitische Personenstandsregister schreibt vor, dass ein Vormund Mädchen oder Jungen die Ehe unter 16 bzw. unter 18 Jahren erlauben kann, wenn „die Eheschließung notwendig und im besten Interesse des Kindes ist“. Das schiitische Personenstandsregister legt kein absolutes Mindestalter fest, unter dem eine Eheschließung nicht genehmigt werden darf (Musawa 2.2020; vgl.SPSR 4.2009).

Laut afghanischem Zivilgesetzbuch Artikel 77 ist eine Ehe ein rechtsgültiger Vertrag, wenn alle rechtlichen Bedingungen und Bestimmungen erfüllt sind (RA KBL 26.1.2023). Dies sind:

• die Willenserklärung beider Parteien (Mann und Frau) entweder persönlich oder vertretendurch einen Rechtsanwalt oder einen Vormund - in fast allen Fällen wird die Frau durch einen Vertreter repräsentiert

• die Anwesenheit zweier erwachsener Zeugen

• das Fehlen eines dauerhaften oder vorübergehenden rechtlichen Hindernisses zwischen den heiratenden Parteien (RA KBL 26.1.2023)

Im Allgemeinen wird eine Ehe zu Hause oder in einem Hotel von den Paaren vor einem religiösen Geistlichen (Mullah) geschlossen, wenn die oben genannten Bedingungen erfüllt sind (RA KBL 26.1.2023).

Für die Registrierung der Ehe wird Folgendes benötigt:

• einen schriftlichen Antrag auf Eintragung der Eheschließung

• Ausweisdokumente (Tazkira) des Ehemanns, der Ehefrau und der Zeugen

• Fotos des Ehemanns, der Ehefrau und der Zeugen

• die Anwesenheit des Ehemanns und der Ehefrau sowie von Zeugen

• die Zahlung einer amtlichen Gebühr

• eine ordnungsgemäß beglaubigte Vollmacht, falls eine der Parteien durch einen Anwalt vertreten wird. Das weitere Verfahren wird durch amtliche Schreiben abgewickelt (RA KBL 26.1.2023

Das Standesamt, bei dem die Eheschließungen registriert werden, gibt keine öffentlichen Informationen über die Anzahl der registrierten Eheschließungen heraus; daher gibt es keine Informationen über die Anzahl der registrierten Eheschließungen in Afghanistan. Bekannt ist, dass die Zahl der nicht registrierten Eheschließungen bei weitem höher ist als die Zahl der registrierten. Meistens beantragen Paare, die ins Ausland reisen wollen oder bei denen es um Erbschaften oder Rentenansprüche geht, die Registrierung ihrer Eheschließung. Allerdings ist die Nachfrage nach der Registrierung von Ehen in den letzten Jahren gestiegen. Die Registrierung einer Ehe hat keine Auswirkungen auf die Gültigkeit. Die meisten Ehen werden nicht registriert (bei Gericht) und sind auch dann noch gültig, wenn sie nur vor einem religiösen Geistlichen (Mullah) geschlossen wurden. Wenn die Beziehung zwischen Mann und Frau jedoch ein behördliches Verfahren betrifft, muss die Ehe registriert werden, damit sie später als Mann und Frau weitergeführt werden kann. Eine Ehe kann auch zu einem späteren Zeitpunkt registriert werden. Die meisten Eheschließungen werden auf Antrag des Paares zu einem späteren Zeitpunkt eingetragen. Für die Eintragung einer späteren Eheschließung sind dieselben Informationen und Unterlagen erforderlich, die der Antragsteller dem Standesamt bei einer sofortigen Registrierung vorlegen muss (siehe oben) (RA KBL 26.1.2023). Eine Ehe kann auch in Abwesenheit des Mannes oder der Frau registriert werden. Im afghanischen Zivilgesetzbuch heißt es in Artikel 7, Absatz 1: „Die Beauftragung eines Bevollmächtigten für die Durchführung der Eheschließung ist zulässig“. Der Mann oder die Frau kann also einen Anwalt beauftragen, die Ehe in ihrem Namen zu schließen und/oder zu registrieren (RA KBL 26.1.2023). Ehen, die außerhalb Afghanistans geschlossen wurden, sind gültig wenn die einschlägigen Gesetze und Vorschriften des Landes, in dem die Eheschließung stattfindet, eingehalten bzw. angewendet und die Artikel 70, 71 und 77 des afghanischen Zivilgesetzbuches eingehalten wurden (RA KBL 26.1.2023).

Relevante Bevölkerungsgruppen

Frauen

Bereits vor Machtübernahme der Taliban war die afghanische Regierung nicht willens oder in der Lage, die Frauenrechte in Afghanistan vollumfänglich umzusetzen, allerdings konnten Mädchen grundsätzlich Bildungseinrichtungen besuchen, Frauen studieren und weitgehend am Berufsleben teilnehmen, wenn auch nicht in allen Landesteilen gleichermaßen (AA 26.6.2023). Es gab eine Reihe von Gesetzen, Institutionen und Systemen, die sich mit den Rechten von Frauen und Mädchen in Afghanistan befassten. So hatte beispielsweise das Ministerium für Frauenangelegenheiten mit seinen Büros in der Hauptstadt und in jeder der 34 Provinzen des Landes die Aufgabe, „die gesetzlichen Rechte der Frauen zu sichern und zu erweitern und die Rechtsstaatlichkeit in ihrem Leben zu gewährleisten“ (AI 7.2022). In den letzten zwei Jahren haben die Taliban Beschränkungen für Frauen eingeführt, die sie an der aktiven Teilnahme an der Gesellschaft hindern (HRW 26.7.2023; vgl. UN Women 15.8.2022, ACLED 11.8.2023). Rechte von Frauen und Mädchen auf Bildung, Arbeit und Bewegungsfreiheit wurden eingeschränkt (HRW 26.7.2023; vgl. ACLED 11.8.2023, UN Women 15.8.2023) sowie das System zum Schutz und zur Unterstützung von Frauen und Mädchen, die vor häuslicher Gewalt fliehen, zerstört (HRW 26.7.2023). In den 15 Monaten seit ihrer Machtübernahme haben die Taliban auch eine Vielzahl an Dekreten und Anordnungen zur Kontrolle des Verhaltens und der Bewegungsfreiheit von Frauen erlassen (HRW 12.1.2023; vgl. AA 26.6.2023, UN Women 15.8.2023). Die verschiedenen Anordnungen und Dekrete der Taliban werden willkürlich umgesetzt, einige wurden verschriftlicht, andere mündlich weitergegeben, und alle werden interpretiert, je nachdem wer das Sagen hat (Rukhshana 28.11.2022). Menschenrechtsorganisationen beschuldigen die Taliban, sie würden versuchen, Frauen aus dem öffentlichen Leben und in den häuslichen Bereich zu drängen (RFE/RL 3.1.2023; vgl. UN Women 15.8.2023). Darüber hinaus haben die Taliban Mechanismen zur Überwachung der Menschenrechte, wie die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission, aufgelöst (AIHRC 26.5.2022; vgl. OHCHR 10.10.2022) und spezialisierte Gerichte für geschlechtsspezifische Gewalt und Unterstützungsdienste für die Opfer abgeschafft (OHCHR 10.10.2022). Ab Mitte Jänner 2022 werden sukzessive Vertreterinnen der seit August 2021 vor allem in Kabul aktiven Protestbewegung durch die Sicherheitskräfte der Taliban festgenommen (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.1.2023) und es gibt Berichte über Haftbedingungen, u. a. zu Misshandlungen und sexuellen Übergriffen, auch wenn diese schwer zu verifizieren sind (AA 26.6.2023). Kabul gilt als wichtiger Ort des zivilen Widerstands gegen die Taliban. Seit der Machtübernahme durch die Taliban verzeichnet ACLED in Kabul mehr Demonstrationen mit Beteiligung von Frauen als irgendwo sonst im Land (ACLED 11.8.2023). Die Taliban-Behörden reagierten auch vermehrt mit Gewalt auf Demonstranten und setzten scharfe Munition ein, um diese aufzulösen (HRW 12.10.2022; vgl. GD 2.10.2022, ACLED 11.8.2023). Berichte über Verhaftungen von Menschenrechtsaktivistinnen setzten sich über das Jahr 2022 hindurch fort (AI 16.11.2022; vgl. HRW 20.10.2022, Rukhshana 4.8.2022). So wurden beispielsweise Ende 2022 mehrere Frauen aufgrund der Teilnahme an Protesten gegen das Universitätsverbot verhaftet (BBC 22.12.2022; vgl. RFE/RL 22.12.2022) und Proteste gegen die Schließung von Schönheitssalons im Juli 2023 gewaltsam aufgelöst (RFE/RL 19.7.2023). Im Mai 2022 erließen die Taliban beispielsweise einen neuen Erlass, der eine strenge Kleiderordnung für Frauen festschreibt. Sie dürfen das Haus nicht „ohne Not“ verlassen und müssen, wenn sie es dennoch tun, den sogenannten „Scharia-Hijab“ tragen, bei dem das Gesicht ganz oder bis auf die Augen bedeckt ist. Die Anordnung macht den Mahram (den „Vormund“) einer Frau - ihren Vater, Ehemann oder Bruder - rechtlich verantwortlich für die Überwachung ihrer Kleidung, mit der Androhung, ihn zu bestrafen, wenn sie ohne Gesichtsverschleierung aus dem Haus geht (AAN 15.6.2022; vgl. USIP 23.12.2022, HRW 12.1.2023). Die Taliban schränkten in weiterer Folge auch die Bewegungsfreiheit von Frauen und Mädchen zunehmend repressiv ein. Zunächst ordneten sie an, dass Frauen und Mädchen auf Langstreckenreisen von einem Mahram begleitet werden müssen (Rukhshana 28.11.2022; vgl. AA 26.6.2023, HRW 12.1.2023). Während des Jahres 2022 untersagten die Taliban Frauen auch den Zutritt zu Turnhallen, öffentlichen Bädern und Parks (RFE/RL 16.12.2022). Frauen und Mädchen erklärten gegenüber Amnesty International, dass angesichts der zahlreichen und sich ständig weiterentwickelnden Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit jedes Auftreten in der Öffentlichkeit ohne einen Mahram ein ernsthaftes Risiko darstelle. Sie sagten auch, dass die Mahram-Anforderungen ihr tägliches Leben fast unmöglich machten (AI 7.2022; vgl. Rukhshana 28.11.2022). Die zunehmende Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Frauen hat ihre Möglichkeiten, Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung zu erhalten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, Schutz zu suchen und Gewaltsituationen zu entkommen, erheblich beeinträchtigt (OHCHR 10.10.2022; vgl. DROPS/WPS 30.9.2022).

Die Taliban gehen auch 2023 immer härter gegen die Rechte von Frauen und Mädchen vor, wie jüngste Anordnungen zeigen, darunter die Entlassung von Frauen aus Kindergärten und die Schließung aller Schönheitssalons, die eine wichtige Quelle für die verbleibende Beschäftigung von Frauen und ein seltener Ort waren, an dem Frauen und Mädchen Gemeinschaft und Unterstützung außerhalb ihrer Häuser finden konnten (HRW 26.7.2023).

Anm.: Mahram kommt von dem Wort „Haram“ und bedeutet „etwas, das heilig oder verboten ist“. Im islamischen Recht ist ein Mahram eine Person, die man nicht heiraten darf, und es ist erlaubt, sie ohne Kopftuch zu sehen, ihre Hände zu schütteln und sie zu umarmen, wenn man möchte. Nicht-Mahram bedeutet also, dass es nicht Haram ist, sie zu heiraten, von einigen Ausnahmen abgesehen. Das bedeutet auch, dass vor einem Nicht-Mahram ein Hijab getragen werden muss (Al-Islam TV 30.10.2021; vgl. GIWPS 8.2022).

Politische Partizipation und Berufstätigkeit von Frauen

Nach der Machtübernahme der Taliban äußerten viele Experten ihre besondere Besorgnis über Menschenrechtsverteidigerinnen, Aktivistinnen und führende Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, Richterinnen und Staatsanwältinnen, Frauen in den Sicherheitskräften, ehemalige Regierungsangestellte und Journalistinnen, die alle in erheblichem Maße Schikanen, Gewaltandrohungen und manchmal auch Gewalt ausgesetzt waren und für die der zivile Raum stark eingeschränkt wurde. Viele waren deshalb gezwungen, das Land zu verlassen (UNOCHA 17.1.2022; vgl. HRW 24.1.2022). Frauen wurde jeder Posten im Kabinett der Taliban verweigert, das Ministerium für Frauenangelegenheiten ist nicht mehr tätig, und der frühere Sitz des Ministeriums in Kabul wurde in das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters umgewandelt, das in den 1990er-Jahren als „Sittenpolizei“ berüchtigt war, die strenge Vorschriften für das soziale Verhalten durchsetzte (USIP 17.8.2022) und für seine diskriminierende Behandlung von Frauen und Mädchen berüchtigt ist (AI 7.2022). Die Beschäftigung von Frauen ist seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 stark zurückgegangen (ILO 7.3.2023; vgl. FH 1.2023). Die International Labour Organization (ILO) schätzte, dass im vierten Quartal 2022 25% weniger Frauen einer Beschäftigung nachgingen, als im zweiten Quartal 2021 (ILO 7.3.2023). Die Taliban erließen Dekrete, die es afghanischen Frauen untersagten, für NGOs (OHCHR 27.12.2022; vgl. HRW 26.7.2023) und die Vereinten Nationen (NH 8.6.2023; vgl. HRW 26.7.2023) zu arbeiten. Infolgedessen stellten fünf führende NGOs ihre Arbeit in Afghanistan ein. Care International, der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC) und Save the Children erklärten, sie könnten ihre Arbeit „ohne unsere weiblichen Mitarbeiter“ nicht fortsetzen. Auch das International Rescue Committee stellte seine Dienste ein, während Islamic Relief erklärte, es stelle den Großteil seiner Arbeit ein (BBC 26.12.2022; vgl. GD 26.12.2022). Zwar konnten einige NGOs Ausnahmeregelungen für ihre weiblichen Mitarbeiter erwirken, und weibliche Beschäftigte des Gesundheits-, Bildungs- und Innenministeriums durften bisher weiterarbeiten, doch die Beschäftigungsaussichten von Frauen wurden stark eingeschränkt (NH 8.6.2023). Viele der Frauen, die weiterhin arbeiten, empfinden dies aufgrund der von den Taliban vorgeschriebenen Einschränkungen in Bezug auf ihre Kleidung und ihr Verhalten als schwierig und belastend (AI 7.2022). So müssen seit Mai 2022 Nachrichtensprecherinnen vor der Kamera ihr Gesicht verhüllen, sodass nur noch ihre Augen zu sehen sind (AI 7.2022; vgl. GD 19.5.2022). Mehrere Frauen, die im öffentlichen und privaten Sektor arbeiten, gaben an, dass sie stichprobenartig von Mitgliedern der Taliban in Hinblick auf ihre Kleidung und ihr Verhalten kontrolliert wurden (AI 7.2022). Auch die Vorgabe der Taliban, nach welcher sich Frauen in der Öffentlichkeit nur in Begleitung eines Mahram bewegen dürfen, hat Auswirkungen auf ihr Berufsleben (FH 1.2023; vgl. WPS 26.9.2022). Die von den Taliban verhängten Arbeitsbeschränkungen haben zu einer verzweifelten Situation für viele Frauen geführt, welche die einzigen Lohnempfängerinnen ihrer Familien waren, was durch die humanitäre und wirtschaftliche Krise in Afghanistan noch verschärft wird (AI 7.2022). Experten erwarten, dass die strengen Beschränkungen der Taliban für Frauen, die außerhalb ihres Hauses arbeiten, auch die verheerende wirtschaftliche und humanitäre Krise in Afghanistan verschärfen wird (RFE/RL 3.1.2023). So schätzt das United Nations Development Programme (UNDP), dass die Einschränkungen der Erwerbstätigkeit von Frauen zu wirtschaftlichen Verlusten von einer Milliarde USD führen werden, das entspricht rund fünf Prozent des afghanischen BIP (AA 26.6.2023; vgl. UNDP 1.12.2021). Viele Frauen arbeiten in der Heimarbeit, was einen weiteren Rückgang der Beschäftigung von Frauen verhindert hat (ILO 7.3.2023). Frauen, die von zu Hause ausarbeiten, z. B. in handwerklichen Berufen, werden von den Taliban oder anderen traditionellen religiösen und lokalen Führern in Afghanistan nicht eingeschränkt (NH 8.6.2023).

Bildung für Frauen und Mädchen

Nachdem die Taliban im August 2021 die Macht in Afghanistan übernommen hatten, verhängten sie ein Verbot der Sekundarschulbildung für Mädchen (USIP 13.4.2023; vgl. AI 7.8.2023, AA 26.6.2023). Am 23.3.2022, als die Schülerinnen der weiterführenden Schulen zum ersten Mal nach sieben Monaten wieder in die Klassenzimmer zurückkehrten, gab die Taliban-Führung bekannt, dass die Mädchenschulen geschlossen bleiben würden (HRW 12.1.2023; vgl. BBC 21.12.2022, HRW 20.12.2022). Aktuell sind weiterführende Schulen für Mädchen in sechs von 34 Provinzen teilweise geöffnet, die Mehrheit der Mädchen ist damit vom Zugang zu weiterführenden Schulen ausgeschlossen (AA 26.6.2023). In der Provinz Balkh blieben die weiterführenden Schulen für Mädchen jedoch geöffnet, allerdings wurde offenen Schulen in Balkh und anderswo mit der Schließung gedroht, wenn sie sich weigerten, die immer strengeren Kleidervorschriften einzuhalten (HRW 27.4.2022). Neben der Provinz Balkh blieben Mädchenschulen auch in den Provinzen Kunduz, Jawzjan, Sar-e-pul, Faryab und Daikundi geöffnet (AMU 1.1.2023). Ende Dezember 2022 verkündeten die Taliban schließlich ein Verbot für Frauen, Universitäten zu besuchen (HRW 20.12.2022; vgl. USIP 13.4.2023, FH 1.2023). Der Bildungsminister der Taliban verteidigte die Entscheidung und gab an, dass das Verbot notwendig sei, um eine Vermischung der Geschlechter an den Universitäten zu verhindern, und weil er glaube, dass einige der unterrichteten Fächer gegen die Grundsätze des Islam verstießen. Auch sagte er, dass die Studentinnen die islamischen Vorschriften ignoriert hätten, u. a. über die vorgeschriebene Kleidung, und auf Reisen nicht von einem männlichen Verwandten begleitet worden seien (RFE/RL 22.12.2022: vgl. FR24 22.12.2022). Proteste gegen die Entscheidung der Taliban, den Frauen den Zugang zu Universitäten zu verwehren, wurden mit Gewalt beendet und mehrere Personen wurden festgenommen (RFE/RL 22.12.2022; vgl. RFE/RL 24.12.2022, BBC 22.12.2022). Im August 2023 hielten die Taliban afghanische Studentinnen davon ab, das Land zu verlassen, um in Dubai zu studieren. Die Taliban begründeten dies damit, dass die Studentinnen keinen Mahram dabeihatten (BBC 28.8.2023; vgl. VOA 23.8.2023), wobei berichtet wurde, dass auch jene Studentinnen, die einen Mahram dabeihatten, nicht fliegen durften (VOA 23.8.2023). [Anm.: s. Überkapitel für eine Begriffserklärung von „Mahram“]. Damit kann ein afghanisches Mädchen höchstens die 6. Klasse, das letzte Jahr der Grundschule, absolvieren (NPR 22.12.2022, vgl. UN Women 15.8.2023), abgesehen von den oben genannten Ausnahmen (AA 26.6.2023; vgl. HRW 27.4.2022). Bedenken wachsen, dass die Taliban die Bildung von Mädchen komplett verbieten könnten, da folgend auf das Verbot für Frauen, Universitäten zu besuchen, nun auch über Entlassungen von Lehrerinnen berichtet wird, die Mädchen in den ersten sechs Schuljahren unterrichten (NPR 22.12.2022). Die Taliban teilten in einem Brief des Taliban-Bildungsministers am 8.1.2023 jedoch mit, dass staatliche Mädchenschulen bis einschließlich der 6. Klasse und private Lernzentren für denselben Altersbereich weiterarbeiten sollen, ebenso alle Koranschulen (Madrassas) für Mädchen ohne Altersbeschränkung. Auch wies der Minister die Behörden in Provinzen an, wo solche Einrichtungen geschlossen wurden, diese wieder zu öffnen. Es wird jedoch auch darauf verwiesen, dass Mädchenschulen ab der 6. Klasse „bis auf weiteres“ nicht zugelassen sind (Ruttig T. 11.1.2023). Anders als während der ersten Taliban-Herrschaft, gibt es nicht mehr sehr viele geheime Mädchenschulen, da die Angst entdeckt zu werden, zu groß ist. Manche Schulmädchen versuchten, mithilfe von Radio Azadi, dem afghanischen Ableger des US-Senders Radio Liberty, weiter zu lernen. Zu festen Uhrzeiten gebe es dort zum Beispiel Chemie- und Mathe-Unterricht, nach Klassenstufen unterteilt. Dies ist nach Meinung einer afghanischen Menschenrechtsaktivistin zwar eine Hilfe, jedoch keine Lösung (AI 7.8.2023).

Frauenhäuser, sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt, Zwangsehe

Geschlechtsspezifische Gewalt ist ein allgegenwärtiges Problem in Afghanistan. Sie ist das Ergebnis komplexer Ungleichheiten und kultureller Praktiken, die in Verbindung mit Armut und mangelndem Bewusstsein dazu führen, dass Frauen den Männern untergeordnet werden und keine Unterstützung erhalten oder selbst aktiv werden können (UNPF 27.12.2021). Seit dem Sommer 2021 werden in Afghanistan, einem Land mit einer der höchsten Raten von Gewalt gegen Frauen weltweit, viele der grundlegendsten Rechte von Frauen eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt. Afghanische Frauen haben auch eine deutliche Verschlechterung des Zugangs zu koordinierten, umfassenden und hochwertigen Dienstleistungen für Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt zu verzeichnen. Gleichzeitig ist die Nachfrage nach diesen Diensten höher als je zuvor (AI 7.2022; vgl. UNAMA 29.12.2022, UNPF 24.10.2022). Zuvor hatten viele Frauen und Mädchen zumindest Zugang zu einem Netz von Unterkünften und Diensten, einschließlich kostenloser Rechtsberatung, medizinischer Behandlung und psychosozialer Unterstützung. Das System hatte zwar seine Grenzen, aber es half jedes Jahr Tausenden von Frauen und Mädchen. Diejenigen, die in die Schutzräume kamen, blieben je nach ihren besonderen Bedürfnissen oft monatelang oder jahrelang dort und erhielten eine Ausbildung in beruflichen Fähigkeiten oder andere Möglichkeiten, ein langfristiges Einkommen zu erzielen. In einigen Fällen wurden die Überlebenden auch dabei unterstützt, eine neue Unterkunft zu finden (AI 7.2022). Als die Taliban die Macht in Afghanistan übernahmen, brach das Netz zur Unterstützung von Überlebenden geschlechtsspezifischer Gewalt - einschließlich rechtlicher Vertretung, medizinischer Behandlung und psychosozialer Unterstützung - zusammen (AI 7.2022). Schutzräume für Frauen wurden geschlossen (AA 26.6.2023; vgl. FH 1.2023, UNPF 24.10.2022), und viele wurden von Taliban-Mitgliedern geplündert und in Beschlag genommen. In einigen Fällen belästigten oder bedrohten Taliban-Mitglieder Mitarbeiter. Als die Unterkünfte geschlossen wurden, waren die Mitarbeiter gezwungen, viele überlebende Frauen und Mädchen zu ihren Familien zurückzuschicken. Andere waren gezwungen, bei Mitarbeitern der Unterkünfte, auf der Straße oder in anderen schwierigen Situationen zu leben (AI 7.2022; vgl. RFE/RL 26.9.2021). Die neue, von den Taliban geführte Regierung Afghanistans hat sich noch nicht zu ihrer Politik in Bezug auf Frauenhäuser geäußert. Da die Taliban die Frauenhäuser jedoch zuvor als „Bordelle“ gebrandmarkt hatten, befürchten Aktivisten, dass die militante islamistische Gruppe sie verbieten wird (RFE/RL 26.9.2021). Anfang Dezember 2021 verkündeten die Taliban ein Verbot der Zwangsverheiratung von Frauen in Afghanistan (AP 3.12.2021; vgl. AJ 3.12.2021, AI 7.2022). In dem Erlass wurde kein Mindestalter für die Eheschließung genannt, das bisher auf 16 Jahre festgelegt war. Die Taliban-Führung hat nach eigenen Angaben afghanische Gerichte angewiesen, Frauen gerecht zu behandeln, insbesondere Witwen, die als nächste Angehörige ein Erbe antreten wollen. Die Gruppe sagt auch, sie habe die Minister ihrer Regierung aufgefordert, die Bevölkerung über die Rechte der Frauen aufzuklären (AP 3.12.2021; vgl. AJ 3.12.2021). Berichten zufolge sind Frauen und Mädchen allerdings einem erhöhten Risiko von Kinder- und Zwangsheirat sowie der sexuellen Ausbeutung ausgesetzt (AA 26.6.2023; vgl. AI 7.8.2023). NGOs führen dies auf Faktoren zurück, von denen viele direkt auf Einschränkungen durch bzw. das Verhalten der Taliban zurückzuführen sind. Zu den häufigsten Ursachen für Kinder-, Früh- und Zwangsverheiratung seit August 2021 gehören die wirtschaftliche und humanitäre Krise, fehlende Bildungs- und Berufsperspektiven für Frauen (AI 7.2022), das Bedürfnis der Familien, ihre Töchter vor der Heirat mit einem Taliban-Mitglied zu schützen (AI 7.2022; vgl. RFE/RL 14.12.2022), Familien, die Frauen und Mädchen zwingen, Taliban-Mitglieder zu heiraten und Taliban-Mitglieder, die Frauen und Mädchen zwingen, sie zu heiraten (AI 7.2022).

Kinder

Ca. 40% (CIA 23.8.2023) bis 43% (UNFPA 2023) der afghanischen Bevölkerung (ca. 15,6 Millionen) ist unter 14 Jahren und das Bevölkerungswachstum liegt 2023 bei 2,26% (CIA 23.8.2023). Das Medianalter in Afghanistan liegt zwischen 17 (WoM 2023) und 19,5 Jahren (CIA 23.8.2023) und die Geburtenrate liegt im Jahr 2023 bei ca. 4,5 Kindern pro Frau (CIA 23.8.2023; vgl. UNFPA 2023). Weiterhin fortbestehende Probleme sind sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen sowie Kinderarbeit und Prostitution (AA 26.6.2023). Berichten zufolge sind Früh- und Zwangsverheiratungen weiterhin weit verbreitet (USDOS 20.3.2023; vgl. AA 26.6.2023), obwohl die Taliban Anfang Dezember 2021 ein Verbot der Zwangsverheiratung in Afghanistan verkündeten (AP 3.12.2021; vgl. AJ 3.12.2021, AI 7.2022). In dem Erlass wurde kein Mindestalter für die Eheschließung genannt, das bisher auf 16 Jahre festgelegt war (AP 3.12.2021; vgl. AJ 3.12.2021). Berichten zufolge sind Mädchen allerdings einem erhöhten Risiko von Kinder- und Zwangsheirat sowie der sexuellen Ausbeutung ausgesetzt (AA 26.6.2023; vgl. USDOS 20.3.2023, UNDP 18.4.2023). NGOs führen dies auf Faktoren zurück, von denen viele direkt auf Einschränkungen durch und das Verhalten der Taliban zurückzuführen sind. Zu den häufigsten Ursachen für Kinder-, Früh- und Zwangsverheiratung seit August 2021 gehören die wirtschaftliche und humanitäre Krise, fehlende Bildungs- und Berufsperspektiven für Mädchen (AI 7.2022), das Bedürfnis der Familien, ihre Töchter vor der Heirat mit einem Taliban-Mitglied zu schützen (AI 7.2022; vgl. RFE/RL 14.12.2022), Familien, die Frauen und Mädchen zwingen, Taliban-Mitglieder zu heiraten und Taliban-Mitglieder, die Frauen und Mädchen zwingen, sie zu heiraten (AI 7.2022). Kinder litten bis zur Machtübernahme der Taliban besonders unter dem bewaffneten Konflikt und wurden Opfer von Zwangsrekrutierung, vor allem vonseiten der Taliban (AA 26.6.2023; vgl. USDOS 20.3.2023). Die Taliban-Führung hat sich wiederholt gegen die Rekrutierung von Kindern ausgesprochen und nach eigenen Angaben im Rahmen der sog. „Säuberungskommission“ bis Juli 2022 155 Minderjährige aus den Reihen der Kämpfer entlassen (AA 26.6.2023). In den Jahren vor der Machtübernahme der Taliban haben bewaffnete Kräfte und Gruppen in Afghanistan Berichten zufolge Tausende von Kindern sowohl für Kampf- als auch für Unterstützungsaufgaben rekrutiert, darunter auch für sexuelle Zwecke (HRW 7.6.2021). Die Taliban rekrutierten Kindersoldaten aus Madrassas [Anm.: religiöse Schulen] in Afghanistan und in Pakistan, welche eine militärische Ausbildung und religiöse Indoktrination bieten, und boten Familien manchmal Geldzahlungen oder Schutz als Gegenleistung dafür, dass sie ihre Kinder in diese Schulen schicken. UNAMA verifizierte die Rekrutierung von 40 Jungen durch die Taliban, die [ehemalige] ANP und regierungsnahe Milizen in der ersten Jahreshälfte 2021 (USDOS 20.3.2023). Unbestätigten Berichten zufolge werden auch weiterhin Minderjährige als Wachpersonal und an Checkpoints eingesetzt (AA 26.6.2023). Berichten zufolge hat die Rekrutierung von Kindersoldaten durch die Taliban im Laufe des Jahres 2022 zugenommen, obwohl sie verboten ist (USDOS 20.3.2023). Laut einem Bericht von Save the Children aus dem Jahr 2022 sind bis zu einem Fünftel der Familien in Afghanistan dazu gezwungen, ihre Kinder zur Arbeit zu schicken (STC 14.2.2023; vgl. RFE/RL 17.5.2023), was bedeuten würde, dass, wenn jede dieser betroffenen Familien auch nur ein Kind zur Arbeit schickt, mehr als eine Million Kinder in Land von Kinderarbeit betroffen sind (STC 14.2.2023). Es wird vermutet, dass die Zahl der arbeitenden Kinder mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen und humanitären Lage in Afghanistan noch steigen wird (RFE/RL 17.5.2023). Im Jahr 2023 werden in Afghanistan schätzungsweise vier Millionen Menschen an akuter Unterernährung leiden, darunter 875.227 Kinder mit schwerer akuter Unterernährung bzw. 2,347.802 Kinder mit mittelschwerer akuter Unterernährung sowie 804.365 schwangere und stillende Frauen mit akuter Unterernährung. Nur 16 % der Kinder im Alter von 6-23 Monaten erhalten ein Minimum an akzeptabler Nahrung (IPC 30.1.2023). Die Nachfrage nach Behandlungsmöglichkeiten für Unterernährung ist in den letzten Monaten des Jahres 2022 sprunghaft angestiegen (WB 10.11.2022). Die Zahl der gefährlich unterernährten Kinder, die in die mobilen Kliniken von Save the Children in Afghanistan eingeliefert werden, ist seit Januar 2022 um 47 % gestiegen, wobei einige Babys sterben, bevor sie überhaupt behandelt werden können (STC 31.10.2022).

Bachi Bazi

Während das Eingestehen oder Diskutieren von Sex zwischen Männern in der heutigen Zeit ein großes Tabu ist und gleichgeschlechtliche Beziehungen illegal sind, ist Sex zwischen Männern ein offenes Geheimnis in Afghanistan. Die Einstellung zu Homosexualität - ebenso wie die sexuelle Gewalt gegen Männer und Jungen - ist stark von Bacha Bazi („Jungenspiel“) geprägt, einer seit Langem bestehenden Missbrauchspraxis - im Unterschied zu einvernehmlichen gleichgeschlechtlichen Beziehungen - bei der feminisierte, vorpubertäre Jungen von Kriegsherren, Polizeikommandeuren und anderen mächtigen Männern in einer Art sexueller Sklaverei gehalten werden (HRW 1.2022, vgl.: USDOL 28.9.2022). Die Taliban hatten lange Zeit darauf bestanden, dass Bacha Bazi gegen das islamische Recht verstößt; mehrere Menschenrechtsgruppen berichteten jedoch, dass Bacha Bazi in vielen Teilen des Landes verbreitet ist, auch durch Taliban-Mitglieder. In mindestens vier Fällen im ganzen Land berichteten Jungen im Alter von 14-16 Jahren im Jahr 2022, dass sie von den Taliban missbraucht wurden. Berichten zufolge haben die Vorfälle im Zusammenhang mit Bacha Bazi im Laufe des Jahres 2022 zugenommen, obwohl die Praxis verboten ist (USDOS 20.3.2023). Außerhalb dieser Praxis werden Jugendliche und vulnerable erwachsene Männer häufig zur Zielscheibe sexueller Gewalt, und die Behörden fügen den Opfern oft noch mehr Schaden zu und unternehmen kaum Anstrengungen, die Täter zu bestrafen. Aktivisten, die solche Gewalt anprangerten, waren manchmal Repressalien ausgesetzt (HRW 1.2022). Da es nicht genügend Heime für Jungen gab, nahmen die Behörden missbrauchte Jungen, darunter viele Opfer von Bacha Bazi, in Rehabilitationszentren für Jugendliche in Gewahrsam, weil ihnen Gewalt drohte, wenn sie zu ihren Familien zurückkehrten, und keine andere Unterkunft zur Verfügung stand (USDOS 20.3.2023).

Schulbildung in Afghanistan

Hilfsorganisationen warnen davor, dass dem öffentlichen Bildungssektor in Afghanistan aufgrund der Geschlechterpolitik der Taliban und des Mangels an ausländischen Geldern der Zusammenbruch droht. Ausländische Geber lehnen die Bildungspolitik der Taliban, insbesondere den Ausschluss von Mädchen von höheren Schulen, ab. Nach Angaben der Vereinten Nationen hatte der jahrzehntelange Konflikt in Afghanistan verheerende Auswirkungen auf das Schulsystem. Im Jänner und Februar 2022 zahlte das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) afghanischen Lehrern ein Unterstützungsgehalt von 100 Dollar pro Person, stellte die Zahlungen jedoch ein, nachdem die Taliban ihre Zusage, im März wieder Sekundarschulen für Mädchen zu eröffnen, nicht eingehalten hatten. Hochrangige Taliban-Vertreter, wie der Minister für höhere Bildung, haben sich öffentlich über moderne Bildung beschwert und eine strenge Islamisierung des afghanischen Bildungssystems versprochen (VOA 16.9.2022). Darüber hinaus wandeln die Taliban öffentliche Schulen zunehmend in religiöse Seminare um (VOA 16.9.2022; vgl. RFE/RL 25.6.2022) und überarbeiten den Lehrplan (VOA 16.9.2022; vgl. 8am 17.12.2022, DIP 21.12.2022). Die Umgestaltung des afghanischen Bildungssystems ist eines der Hauptziele der Taliban, seit sie wieder an der Macht sind. Sie haben Mädchen den Besuch von höheren Schulen untersagt, die Geschlechtertrennung und eine neue Kleiderordnung an öffentlichen Universitäten durchgesetzt und versprochen, den nationalen Lehrplan zu überarbeiten (RFE/RL 25.6.2022). Später wurde Frauen der Besuch von Universitäten komplett verboten (HRW 20.12.2022; vgl. RFE/RL 22.12.2022). Die Taliban haben außerdem Pläne für den Aufbau eines ausgedehnten Netzes von Madrassas in den 34 Provinzen des Landes bekannt gegeben. Kritiker sagen, das Ziel der Taliban sei es, alle Formen der modernen säkularen Bildung zu verbieten, die in Afghanistan nach dem Sturz des ersten Taliban-Regimes durch die US-geführte Invasion im Jahr 2001 aufgebaut wurden. Bereits während der ersten Herrschaft der Taliban von 1996 bis 2001 verbot die Gruppe die säkulare Bildung und ersetzte sie durch eine religiöse Schulbildung. Mädchen durften nicht zur Schule gehen und Frauen konnten keine Universität besuchen. Die von den Taliban geführten Koranschulen förderten militante Ideologien und lehrten Jungen, den Koran auswendig zu rezitieren. Während ihres fast 20-jährigen Aufstands haben die Taliban ihre Madrassas in den meisten ländlichen Gebieten unter ihrer Kontrolle wiedereingerichtet. Sie bombardierten oder verbrannten auch säkulare Schulen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten (RFE/RL 25.6.2022). Das afghanische Medium Hasht-e Subh veröffentlichte im Dezember 2022 den endgültigen Plan der Taliban zur Änderung der Lehrpläne. Demzufolge werden nicht nur mehrere Lehrbücher nd Fächer aus dem Lehrplan gestrichen, sondern auch zahlreiche Vorschläge unterbreitet, die den Inhalt der Lehrbücher weitgehend verändern und den Lehrplänen der früheren Taliban-Herrschaft in den späten 1990er-Jahren ähneln. In den Lehrbüchern sollen alle Bilder von Lebewesen entfernt werden; besonders bedenklich sind für die Taliban Darstellungen von kleinen Mädchen und Menschen beim Sport sowie Bilder von Anatomie in Biologie-Lehrbüchern. Ebenfalls verboten ist jede positive Erwähnung von Demokratie und Menschenrechten, die Förderung von Frieden, Frauenrechten und Bildung, die Vereinten Nationen (dem Bericht zufolge eine „böse Organisation“), die Erwähnung von Musik, Fernsehen, Partys und Feiern, einschließlich Geburtstagen, nicht-muslimische Persönlichkeiten wie Wissenschaftler oder Erfinder (Thomas Edison wird als Beispiel genannt), die Erwähnung von Minen und deren Gefahren (wegen ihrer erbindung zu den Taliban), Radio („koloniale Medien“), Bevölkerungsmanagement und die Erwähnung von Wahlen. Selbst historische und literarische Persönlichkeiten Afghanistans, die die Taliban ablehnen, wie berühmte Dichter und schiitische Persönlichkeiten, werden aus dem Lehrplan gestrichen. Alte afghanische Kulturtraditionen, vom Attan-Tanz und Nawruz bis hin zu einheimischen Musikinstrumenten und der farbenfrohen traditionellen Kleidung der Frauen, sollen aus den Lehrbüchern gestrichen werden. Andere Traditionen können zwar erwähnt werden, aber nur, um zu erklären, warum sie schändlich sind; so sollen die Lehrer beispielsweise die „Hässlichkeit“ der riesigen Buddhas von Bamyan hervorheben und die Zerstörung solcher Idole durch die Taliban feiern. „Nicht-islamische Überzeugungen“ wie „Liebe zu allen Menschen“ sollten weggelassen werden. Mitglieder des Taliban-Revisionsausschusses erklären, dass der Zweck des Lehrplans darin besteht, „die ideologischen Interessen der Taliban aufrechtzuerhalten und zu erweitern“, und nach Einschätzung von Hasht-e Suhb „versuchen die Taliban, eine Ideologie zu kultivieren, die in Konflikt mit anderen Religionen und Kulturen steht“. In ihren eigenen Worten empfiehlt das Taliban-Komitee, dass die „Saat des Hasses gegen westliche Länder in die Köpfe der Schüler gepflanzt werden sollte“ (8am 17.12.2022; vgl. DIP 21.12.2022). Anm.: Weitere Informationen zur Schulbildung von Mädchen finden sich im Unterkapitel „Bildung für Frauen und Mädchen“ im Kapitel „Frauen“.

Sexuelle Orientierung und Genderideität

[Anm.: In diesem Bericht bezieht sich der Begriff „LGBT“ auf eine Reihe von Genderidentitäten, die aus der heterosexuellen Norm herausfallen, einschließlich „queer“, „non-binary“, „gender nonconforming“ oder andere.] Homosexualität ist in Afghanistan gesellschaftlich geächtet (AA 20.7.2022; vgl. USDOS 12.4.2022a). Bereits vor der Machtübernahme der Taliban war die LGBT-Gemeinschaft in Afghanistan erheblicher Gewalt vonseiten des Staates und der Gesellschaft insgesamt ausgesetzt (HRW 1.2022; vgl. AA 20.7.2022, USDOS 12.4.2022a). Die Gesetzgebung aus der Zeit vor der Machtergreifung sah für Sexualpraktiken, die üblicherweise mit männlicher Homosexualität in Verbindung gebracht werden, mehrjährige Haftstrafen vor (AA 20.7.2022; vgl. USDOS 12.4.2022a). Auch nach der Machtübernahme der Taliban am 15.8.2021 sind LGBT-Personen Verfolgung ausgesetzt, einschließlich körperlicher Angriffe, sexueller Gewalt und Berichten über rechtswidrige Tötungen (RaRa 24.12.2022). Am 29.10.2021 erklärte der Sprecher des Taliban-Finanzministeriums, dass die Rechte von LGBT-Personen gemäß Scharia-Gesetzgebung nicht anerkannt werden würden (AA 20.7.2022; vgl. HRW 1.2022, HRW 12.1.2023). Es wurde von Fällen berichtet, in denen Männer von Taliban-Kämpfern vergewaltigt worden sein sollen (AA 20.7.2022; vgl. RaRa 24.12.2022, USDOS 12.4.2022a). Andere Mitglieder der LGBTGemeinschaft berichten darüber hinaus von Drohungen und Gewalt durch Familienmitglieder, Nachbarn oder ehemalige Partner (AA 20.7.2022; vgl. HRW 1.2022, RaRa 24.12.2022). Menschenrechtsorganisationen berichten, dass durch die Taliban-Machtübernahme ein Klima verstärkt wurde, in dem Gewalt gegen LGBT-Personen ungestraft bleibt (AA 20.7.2022; vgl. HRW 1.2022, RaRa 24.12.2022). Mitglieder der LGBT-Gemeinschaften leben in Afghanistan weiterhin im Verborgenen (RaRa 24.12.2022; vgl. USDOS 12.4.2022a).

Anm.: Informationen zu Bacha Bazi finden sich im Kapitel „Kinder“.

II.1.3.2. Auszug aus Afghanistan – Country Focus

Women and girls

General situation under Taliban rule

Since their takeover, the de facto authorities have repeatedly expressed their commitment to respect women’s and girl’s rights within the framework of sharia. Several edicts, decrees and declarations have been issued by the Taliban since 15 August 2021, which have increasingly restricted women’s and girls’ freedom of movement, expression and behaviour, as well as their access to education, employment, healthcare, justice, and social protection. In practice, women and girls have been confined to the home. In June 2023, the UN assessed that the general situation of women’s and girls’ human rights further deteriorated, and the UN Special Rapporteur on the situation of human rights in Afghanistan further stated that the violations of women’s and girls’ rights were ‘large-scale’, ‘systematic’ and implemented with ‘harsh enforcement methods’. He further called the Taliban’s policies ‘discriminatory’ and ‘misogynistic’, constituting ‘gender persecution and an institutionalized framework of gender apartheid’.

A compilation of relevant Taliban national decrees and instructions issued since the takeover are available in Annex 3: Lists of national Taliban decrees and instructions. Some of the edicts/instructions issued by the de facto authorities during the reference period of this report include:

• shopkeepers in Mazar-e Sharif ordered not to sell to women without hijab (August 2022);

• women government workers asked to stay home from work (23 August 2022);

• women not allowed to visit recreational parks, public baths, and gyms in Kabul City, (November 2022) and in Faryab (November 2022);

• the right of women to attend university suspended (20 December 2022);

• education for girls beyond grade 6 suspended (22 December 2022);

right of women to work with national and international NGOs suspended (24 December 2022);

• Afghan women banned from working in the UN (4 April 2023);

• women and families banned from restaurants, gardens and green spaces in Herat (April 2023);

• women’s beauty salons ordered to close within a month (25 June 2023;667 the order entered into force on 25 July 2023);

• women banned from visiting the Band-e-Amir national park in Bamiyan Province (26 August 2023);

• wearing burqa or niqab compulsory for women in Badakhshan (August 2023) [this

information could not be corroborated];

• in Khost and Zabul provinces, de facto MPVPV announced via loudspeaker that women are forbidden from going to local markets or shops without a mahram (September 2023).

The enforcement of issued edicts and instructions has not been consistent, especially at local level, ‘leading to a climate of legal uncertainty and fear, in which people self-censor to avoid punishment by individual Taliban officers who have their own understanding of the restrictions and punishments for perceived transgression. In practice, women’s active participation in political, economic and social life has been largely curtailed in comparison to their situation under the previous government, and violations of women’s rights under the de facto authorities have been systematic. While for most rural women, education and work opportunities have always been limited (beyond menial farm work), since the Taliban takeover, their situation has worsened, largely due to the deteriorating economy (e.g. forcing them to ration food, undertake more labour, avoid seeking medical assistance). Some women and girls have been ‘disproportionately affected by lack of access to services and means to navigate the restrictive environment’ including those without a male family member. The situation of widows has been socially and economically precarious, especially for widows without sons due to the intensified requirement of having a mahram. Female-headed households have also faced issues in accessing humanitarian assistance due to their lack of a mahram and the lack of female humanitarian staff. Coupled with the dire economic situation the country is facing, the restrictions imposed on women have had a significant impact also on their physical and mental health. Although statistics on suicide are not available, reports of women committing suicide have been widespread, especially among teenage girls who have been prevented from accessing education, with cases occurring across the whole country. Documented cases of women being harassed or beaten up at checkpoints for not wearing hijab, or ordered to return home from markets because they were not accompanied by a mahram have reportedly occurred frequently. However, journalist Ali Latifi also observed that, in the cities, some women defy Taliban’s instructions to wear a black niqab or a blue chadari and continue to dress as they used to (e.g. colourful outfits, makeup, sunglasses and other expressions of personal style and fashion). However, Latifi also noted, that when women need to go to government buildings for instance, they will wear a ‘proper’ dress in line with the Taliban’s direction and would be accompanied by a male chaperone.

Freedom of expression and assembly

Since the Taliban took power, women have held peaceful demonstrations protesting686 the multiple restrictions imposed on their rights. The de facto security forces have responded to hese protests with excessive use of force, intimidation, arrest, arbitrary detention (in some cases amounting to enforced disappearance) and ill-treatment. Women activists being detained have reportedly been subjected to ill-treatment, including sexual violence and torture. The UN Special Rapporteur on the situation of human rights in Afghanistan, reporting in June 2023, said to have received ‘numerous credible reports’ of women protesters being brutally beaten, arbitrarily arrested and detained. Most of these women were subsequently released under the guarantee of stopping their activism and of not disclosing the treatment they received. Those arrested reported that the Taliban subjected them to violence, including sexual violence, in order to seek information about the organisers of the protests. Amnesty International also reported on detainees being subjected to rape or threats by Taliban members. Moreover, women being detained subsequently face a ‘life-long stigma’ as the surrounding community tend to assume that all detained women were subjected to sexual violence. Between 1 January 2022 and 30 July 2023, UNAMA documented over 1 600 human rights violations (almost 50 % of which comprised ‘acts of torture and other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment’) perpetrated by de facto authorities during arrests and detention across 29 provinces. 11 % of these violations involved women. From March 2022 until August 2023, at least 78 women civil society activists were arbitrarily arrested and detained. Among those arrested were women’s rights activist Zarifa Yaqobi, who was subsequently released, as well as activists Neda Parwani and Zholya Parsi who were detained in September 2023. Journalist Ali Latifi mentioned the case of a woman activist he personally knew who was detained for more than six months between 2022 and 2023. She had been under watch prior to her arrest and once in detention, the de facto security forces took her phone searching for any incriminating evidence, including others she was in correspondence with. Her family was warned that her activities could impact them as well. ‘She has since been silenced and makes few public appearances, if she is still in the country. In July 2023, women held demonstrations in Kabul against the closure of beauty salons. The de facto security forces responded with water cannons696 and beatings; some protesters said stun guns were also used against them and others said their phones had been confiscated. Four women protestors were arrested and released later the same day.

Freedom of movement

Women and girls have been banned from accessing public spaces such as public bathhouses, (hammams), gyms, parks, including more recently the Band-e-Amir national park in Bamiyan Province. In a previous decree issued in December 2021 women were instructed not to travel more than 72 km without being accompanied by a mahram. In March 2022, women were further barred from boarding domestic or international flights without a mahram and without wearing a ‘proper hijab’. Journalist Ali Latifi stated that the ban imposed on women from travelling domestically without a male guardian, likewise all other instructions issued by the de facto authorities, has been implemented inconsistently, and ‘thousands of women have ignored that rule and still go out on their own or with other female associates on a daily basis’. He added that, while he has witnessed women travelling without a male guardian on the way to Logar and Bamiyan, as well as within the city of Kabul, he is also aware of incidents occurred to women who travelled to Mazar-e Sharif and who faced issues trying to return to Kabul without a mahram. Another incident he mentioned took place in Bamiyan, where a group of women was not given a hotel room because they were not accompanied by a male guardian. The UN stated that these restrictions are increasingly enforced, especially at checkpoints and harassment is commonly reported. Women are being increasingly questioned when travelling alone and moving in the public space, while men travelling with women are requested to show ID cards or marriage certificates to prove their relation to the woman. Ali Latifi stated that the ruling forbidding Afghan women from traveling outside the country without a mahram has been instead very strictly enforced in recent months (whereas during 2021 and 2022, it was more lax), ‘to the point where even a well-known female doctor was not allowed to attend an international health conference last winter. Other reported cases of women being prohibited to travel abroad include the case of some 60 girls who were granted a scholarship to study at the University of Dubai in the United Arab Emirates (UAE). The girls were turned away from the airport in August 2023.

Access to education

Following the Taliban takeover, primary and elementary schools were reopened after being closed down during the Covid-19 pandemic. Girls have however been denied education beyond primary level, as girls’ secondary schools were ordered to remain closed. As some sources noted, Taliban policies towards education, including towards girls’ secondary education has been inconsistent since their takeover. In some cases, secondary schools for girls were able to open in at least 13 provinces during the 2021–2022 school year. Private secondary schools were reportedly allowed to offer education for girls in all provinces, but many schools closed due to lack of resources stemming from families affected by poverty and unemployment, and their resultant inability to pay school fees. However, sources indicated that most secondary schools have since closed in all provinces, including private secondary schools. According to a local media outlet, some private schools providing secondary education for girls were open in Herat in 2022 and in 2023. There were also reports of the Taliban in Kandahar Province conducting inspections of girls’ primary schools and expelling hundreds of secondary education aged girls who attended primary level education. Underground secret schools have been running in parts of the country despite the ban. According to the report of the Special Rapporteur on the situation of human rights in Afghanistan, other ‘adaptive and creative methods’ have emerged to support girls’ education, including online. However, these methods ‘are not equally accessible or sustainable, also due to the instable internet connection across the country. In October 2022, women were allowed to take entrance exams to universities only for limited subjects, and hindered from applying for many others, including journalism, engineering, economics, and many subjects of social and natural sciences. (For more information see EUAA Query Response, Afghanistan, Major legislative, security-related, and humanitarian developments 1 July to 31 October 2022, 4 November 2022). On 20 December 2022, the right for women to attend universities was however ‘suspended’ until further notice. In July 2023, a statement issued by the Taliban National Examination Directorate informed that female students would not be allowed to take university entrance exams for the new academic year. In August 2023, the Taliban Ministry of Education announced that women will be readmitted to universities as soon as the supreme leader gives the order for the ban to be lifted. However, it was not clarified when or whether that would actually happen. UNAMA reported that throughout July, August and September 2023, the de facto authorities took ‘various steps to ensure that the exclusion of women from secondary and tertiary education was fully implemented. On 30 September 2022, a suicide attack was carried out against the Kaaj Educational Centre in Dasht-e Barchi District of Kabul, killing 54 people and injuring another 114. Most of the victims were young Hazara women and girls who were preparing for the university entrance exams. In June 2023, between 60 and 90 schoolgirls and their teachers were poisoned and hospitalised in two separate targeted poison attacks against two primary schools in Sangcharak District in Sar-e Pul Province. A Taliban education official claimed that a ‘personal grudge’ was behind the attack. Such an incident was reportedly the first of its kind since the Taliban took power in August 2021.

Access to employment

Unlike the 1990s, the de facto authorities have not outright banned paid employment for women. However, their restrictions on where women can work outside their home has significantly affected the female workforce. Based on a survey conducted from June to August 2022, the World Bank estimated that nearly half of women previously employed in salaried work lost their job since Taliban took power. The approximate 4 000 women who had served within the Afghan military in the previous government have lost their job. Some are reported to be forced to beg for a living and live in hiding to avoid reprisals. (More information is available in section 4.1. Officials of the former government’s public sector and security sector). Women lawyers and judges have been altogether barred from practicing. Many female judges have reportedly been living in hiding or have left Afghanistan due to threats received from convicts released from prison. (More information is available in section 4.1.6 Former judges and prosecutors). Women journalists have been banned from state-run media outlets and those in the private sector have been allowed to work within certain restriction, such as covering their faces when appearing on TV and working in gender-segregated offices. Also, female journalists have been banned from attending press conferences, and from interviewing male government officials. Since the Talban takeover, 80 % of women journalists are estimated to have lost their jobs. Women working in the public sectors were instructed to stay home and they have been cut-off from working in most of the government entities, although some continue working in some roles within the de facto ministries of Public Health, Interior and Education, and also at airports and in security. In December 2022, women were banned from working in international and national NGOs, and on 5 April 2023, the de facto authorities issued a countrywide ban on Afghan women working in the UN. Most foreign embassies were also informed that Afghan women could no longer work in their offices, as reported by the UN. Although not officially stated by the de facto authorities, many NGOs reported that exemptions of such ban were made for women working in health, nutrition and education sectors. In Kandahar Province, however, most female health workers have not been able to work. As journalist Ali Latifi noted, by January 2023, many women employees in both international and local NGOs were able to ‘create workarounds’ that allowed them to continue working, for example by working from home when they were barred from inter-provincial travel. In some international NGOs, female staff has reportedly returned to work, including working from the offices. ‘However, they all fear that if this situation becomes too public it could lead to a backlash and these exceptions and workarounds being taken away. The ban on Afghan female NGO workers has further complicated aid delivery efforts. Women entrepreneurs have been encouraged by the Taliban, which represents an exception among restrictions for women. Female entrepreneurship summits have taken place, with the Taliban often promoting these events to claim they are not as restrictive on women as the outside world makes them look. It has been reported, however, that women in the private sector have also been affected by restrictions, including cases of suppliers refusing to sell material to them, being requested to operate in a gender segregated environment and to cater to female consumers only. Ali Latifi stated that women are still allowed to work in private businesses, such as airlines, banks (including government-run banks), stores, travel agencies, cell phone and production companies. In July 2023, beauty salons were shut down, which left some 60 000 women without an income.753 UNAMA reported that salons that have continued to operate beyond the deadline, have faced ‘harsh responses’ by the Taliban officials. For instance, in one case, Taliban GDI officers ‘raided a beauty salon that was operating in secret, fined the owner, arrested and physically assaulted the owner’s brother and forced the salon’s clients to wash their makeup and to promise never to visit any salon in future. The lack of employment prospects has pushed increasingly more women in the main cities to stroll the streets, pushing carts and selling second-hand goods or simple food goods from the carts. The humanitarian situation has also impacted women’s participation in the labour market (see section 3.2 Poverty, basic subsistence and employment).

Access to healthcare and basic services

Women and girls have been facing difficulties in accessing critical and routine healthcare due to a ‘strained health system, the economic crisis, the limitations on movement and the restrictions placed on male health-care professionals treating women and girls’. For instance, there were reports of women unable to give birth in clinics because of the costs involved or insufficient resources in the clinics. Moreover, humanitarian workers have faced increasing challenges in gaining access to women in need across the country. The bans on working for international and national NGOs and the UN have also jeopardised the effective delivery of humanitarian assistance to women, as well as medical support service. Women belonging to ethnic and religious minorities, such as Shia Hazara, women with disabilities, women living in poverty, in rural areas, and those without male family members face additional challenges in accessing services. The humanitarian situation has also impacted women’s access to healthcare (see section 3.5 Healthcare).

Violence against women

Afghanistan has been estimated to have one of the highest rates of violence against women in the world. In December 2021, the de facto authorities issued a Decree on Women’s Rights, outlawing some traditional practices, such as forced marriage, including for widows, as well as baad - the exchange of daughters between families or clans as a way to end feuds or disputes. Despite the Decree, cases of gender-based violence have been treated inconsistently by the de facto authorities, and in many instances resolved through informal means such as mediation. The phenomenon of forced and early marriage of women and girls has seen an increase under Taliban rule, due to several factors, but mostly related to the economic and humanitarian crisis, lack of education and employment prospects, and families’ belief that securing a spouse for their daughters would protect them from being forced to marry a member of the Taliban. Women seeking a divorce have reportedly been routinely forced to return to violent relationships. International media have reported on cases of divorced women being forced back to their ex-husbands by the local Taliban. Some women have voiced concerns that divorces made under the previous government would not be seen as valid by the Taliban; senior Taliban officials did not give clear answers as whether they would accept judgements made in divorce cases under the previous government. From March 2022 until August 2023, UNAMA documented at least 324 cases of violence against women and girls, including so-called ‘honour killings’, forced and child marriages, beatings and domestic violence resulting in self-immolation or suicide. ACLED reported that sexual violence was on the rise, and documented 22 such incidents in the first six months of 2023. Taliban officials have reportedly subjected women protesters to ill-treatment, including sexual violence in custody. In another case, Taliban members allegedly carried out a gang rape against a woman and her two minor daughters on 28 February 2023. In another case, a Taliban official allegedly raped a woman in custody and subsequently forced her to marry him. UN experts assessed that the instruction on punishment of men ‘for the conduct of women and girls’ might lead to normalisation of discrimination and violence against women and girls.

Access to justice

The Taliban’s exclusion of female judges and lawyers from practicing the law has negatively impacted women’s access to justice, including their ability to obtain legal aid and equality before the law. Moreover, for certain issues such as domestic violence women’s access to justice is very limited. Corporal punishments inflicted by courts for both men and women have increased under Taliban rule, especially since November 2022. From 15 August 2021 until 30 April 2023, UNAMA documented 80 instances of women being subjected to the judicial punishment of lashings, mostly in relation to zina (adultery or ‘running away from home’). More information on such punishments is available in section 1.2.3 Corporal and capital punishments.

II.2. Beweiswürdigung

Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

- Einsicht in die, die Beschwerdeführer betreffenden und dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, insbesondere in die Befragungsprotokolle;

- Befragung der Erstbeschwerdeführerin im Rahmen der öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX ;

- Einsicht in die dem Verfahren eingeführten Länderberichte zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat;

- Einsicht in die im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung vorgelegten Unterlagen;

- Einsicht in das Zentrale Melderegister, das Strafregister und das Grundversorgungssystem.

II.2.1. Zu den Personen der Beschwerdeführer

Die Feststellungen betreffend die Identitäten und Nationalitäten der Beschwerdeführer, sowie der Volksgruppen-, und Religionszugehörigkeit der Erstbeschwerdeführerin beruhen auf den im Laufe des Verfahrens gleichgebliebenen und glaubhaften Angaben der Erstbeschwerdeführerin.

Die Feststellungen, dass die Erstbeschwerdeführerin keine schulische oder berufliche Ausbildung absolviert hat und bis zu diesem Zeitpunkt nicht selbsterhaltungsfähig ist, beruhen auf den glaubhaften Angaben der Erstbeschwerdeführerin im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht.

Die Feststellungen betreffend den Familienstand der Erstbeschwerdeführerin, sowie zum Aufenthaltsort ihres Ehemannes, beruhen auf den glaubhaften Angaben der Erstbeschwerdeführerin im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht.

Die Feststellung, dass die Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer die leiblichen minderjährigen Kinder der Erstbeschwerdeführerin sind, beruht auf den glaubhaften und im Rahmen des Verfahrens gleich- und unbestritten gebliebenen Angaben der Erstbeschwerdeführerin.

Die Feststellung betreffend die Unbescholtenheit der Erstbeschwerdeführerin ergibt sich aus den Strafregisterauszügen. Aufgrund des Alters der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers konnte deren Strafunmündigkeit festgestellt werden.

II.2.2. Zu den Fluchtgründen der Erstbeschwerdeführerin

Zur Feststellung, dass der Erstbeschwerdeführerin im konkreten Fall in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Sinne der GFK drohen, würde gelangt das Bundesverwaltungsgreicht aufgrund nachstehender Ausführungen:

Die Erstbeschwerdeführerin vermochte das erkennende Gericht davon zu überzeugen, dass sie einer westlichen Wertehaltung und einem westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild zugewandt ist, danach lebt und darauf besteht, daran nachhaltig festzuhalten. Sie genießt in Österreich ihre eigenständige Lebensführung und die ihr hier – im Unterschied zu Afghanistan – zukommenden Freiheiten. Die Erstbeschwerdeführerin führt in Österreich eine („westliche“) Lebensweise, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt.

Die Feststellung, dass die Erstbeschwerdeführerin eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau ist, ergibt sich insbesondere aus ihren Angaben im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie aus dem damit in Zusammenhang stehenden persönlichen Eindruck den sich das erkennende Gericht im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung verschaffen konnte:

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht erschien die Erstbeschwerdeführerin zwar mit Schal um den Kopf, trug diesen jedoch locker, sodass ihre Frisur erkennbar war. Dies vermittelte dem erkennenden Gericht den Eindruck, als würde die Erstbeschwerdeführerin den Schal aus Gewohnheit und allenfalls aus Achtung und Respekt gegenüber den Bräuchen ihrer Religion (OZ 4, S. 10) tragen, ohne sich dabei den Kleidungsvorschriften ihres Herkunftsstaates unterworfen zu fühlen. Dieser Eindruck verstärkte sich dadurch, dass die im Rahmen der Verhandlung anwesenden minderjährigen Kinder der Erstbeschwerdeführerin alterstypisch und westlich gekleidet waren (OZ 4, S. 4). Die nachhaltige Bekenntniss zu einem westlichen Kleidungsstil zeigt sich auch in den seitens der Beschwerdeführer vorgelegten Lichtbilder (OZ 5), welche die Erstbeschwerdeführerin und ihre minderjährigen Kinder zu unterschiedlichen Gelegenheiten im privaten und öffentlichen Raum abbilden.

Dahingehend kohärent erscheint auch die Aussage der Erstbeschwerdeführerin, wenn sie angibt, dass sie das Leben in Afghanistan schon vor ihrer Ausreise als belastend (OZ 4, S 9) empfunden habe. Die Ankunft in Europa sei kein Schock für sie gewesen, da sie bereits vor ihrer Ausreise gewusst habe, dass es Teile der Welt gibt, in denen Frauen frei und eigenverantwortlich leben können (OZ 4, S. 9).

Die westliche und für afghanische Verhältnisse jedenfalls atypische Einstellung der Erstbeschwerdeführerin spiegelt sich auch in der Beziehungsdynamik zwischen ihr und ihrem Ehemann wieder. So gab die Erstbeschwerdeführerin glaubhaft an, dass sie bereits in Afghanistan das Gefühl gehabt habe, dass ihr Ehemann die Lebensumstände der Frauen in Afghanistan abgelehnt habe und sie nicht davon ausgehe, dass ihr Ehemann sie in ihrem nunmehr in Österreich gelebten freien Lebenstil würde einschränken wollen (OZ 4, S. 10f). Darüber hinaus brachte die Erstbeschwerdeführerin auch glaubhaft vor, dass ihre Eheschließung mit ihrem nunmehrigen Ehemann auch ohne Zwang erfolgt sei.

Die Erstbeschwerdeführerin schilderte glaubhaft, dass sie sich in Österreich eigenständig um den eigenen Alltag und den ihrer Kinder kümmert. So brachte die Erstbeschwerdeführerin etwa vor, dass sie alleine Einkaufen gehe und auch regelmäßig mit der Volksschullehrerin ihres minderjährigen Sohnes in Kontakt stehe (OZ 4, S. 10), was die für westliche Verhältnisse typische Autonomität widerspiegelt.

Auch die strengen gesellschaftlichen Vorschriften, denen sich Frauen in Afghanistan unterwerfen müssen, lehnte die Erstbeschwerdeführerin ab. So brachte sie etwa vor, dass sie kein Problem damit haben würde, wenn ihre Tochter sich dafür entscheiden würde, keinen Schal zu tragen. Darüber hinaus habe sie auch kein Problem damit, wenn ihre Tochter Schwimmen lerne und einen Badeanzug trägt (OZ 4, S. 10).

Befragt zur Zukunft ihrer Kinder, gab die Erstbeschwerdeführeirn an, dass sie ihnen Zeit lasse, um ihre eigenen Entscheidungen treffen zu können (OZ 4, S. 11). In einer Gesamtschau vermittelte die Erstbeschwerdeführerin dem erkennenden Gericht den Eindruck, dass es ihr ein wesentliches Bedürfniss sei, ihren Kindern – und vor allem ihrer Tochter – die Möglichkeit zu geben, ohne Zwang und Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Normen ihres Herkunftstaates aufwachsen zu können.

Im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung gab die Erstbeschwerdeführein auch glaubhaft an, bereits freundschaftliche Kontakte zu österreichischen Familien zu pflegen und nutze diese Gelegenheit auch, die deutsche Sprache zu erlernen (OZ 4, S. 11).

Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung hat die Erstbeschwerdeführerin – unter Berücksichtigung ihrer übrigen, gleichbleibenden und nachvollziehbaren Angaben – damit verdeutlicht, dass sie ihre Lebensführung bereits an das Leben westlicher Frauen angepasst hat und dass sie die – in Afghanistan für Frauen üblichen – traditionellen Einschränkungen sowie gesellschaftlichen Vorgaben ablehnt und auch keine Bevormundung mehr duldet.

Zusammenfassend ergab sich, dass die Erstbeschwerdeführerin eine „westliche Orientierung“, der eine selbstbestimmte und selbstverantwortliche Lebensweise immanent ist, verinnerlicht und in ihrer alltäglichen Lebensführung verankert hat. Unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen und aus dem im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung gewonnenen Gesamteindruck, ließ sich eine Verinnerlichung einer „westlichen Lebensweise“, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt, ableiten. Der Umstand, dass sich die Erstbeschwerdeführerin erst seit Juni 2023 in Österreich aufhält, spricht darüber hinaus dafür, dass es sich bei der nunmehr gelebten westlichen Lebensweise um einen Ausdruck bzw einer Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat immantenen Wertehaltung handelt.

Dass der Erstbeschwerdeführerin eine Fortsetzung ihres selbstbestimmten Lebens, das sie derzeit in Österreich führt, in Afghanistan nicht möglich wäre bzw. sie im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden würde, ergibt sich aus den diesem Erkenntnis zugrundeliegenden Länderfeststellungen zur maßgeblichen Situation in Afghanistan.

II.2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da die aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich durch Einsichtnahme in die jeweils verfügbaren Quellen (u.a. laufende Aktualisierung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation) davon versichert, dass zwischen dem Stichtag der herangezogenen Berichte und dem Entscheidungszeitpunkt keine wesentliche Veränderung der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan eingetreten ist.

II.3. Rechtliche Beurteilung

II.3.1 Zulässigkeit und Rechtzeitigkeit der Beschwerde

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, BGBl. I 33/2013 idF BGBl. I 122/2013, (VwGVG) geregelt (§ 1 leg.cit.).

§ 1 BFA-VG, BGBl I 2012/87 idF BGBL I 2013/144 bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.

Gemäß § 3 BFA-G, BGBl. I 87/2012 idF BGBl. I 70/2015, obliegt dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Vollziehung des BFA-VG (Z 1), die Vollziehung des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100 (Z 2), die Vollziehung des 7., 8. und 11. Hauptstückes des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100 (Z 3) und die Vollziehung des Grundversorgungsgesetzes – Bund 2005, BGBl. I Nr. 100 (Z 4).

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

Die gegenständlichen Beschwerden sind rechtzeitig und zulässig.

II.3.2. Zu den Spruchpunkten A) I. bis III.

§ 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:

§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn 1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder 2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.

[…]“

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit, Schutz im EWR-Staat oder in der Schweiz oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

Gemäß § 3 Abs. 2 AsylG 2005 kann die Verfolgung auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe).

Flüchtling ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der „Rasse“, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffs ist die „begründete Furcht vor Verfolgung“.

Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. zB. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine vernünftige Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen.

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 15.03.2001, 99/20/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.06.1994, 94/19/0183, 18.02.1999, 98/20/0468).

Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011).

Die „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht setzt positiv getroffene Feststellungen seitens der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit der „hierzu geeigneten Beweismittel“, insbesondere des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 19.03.1997, 95/01/0466). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).

Aus der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ergibt sich zur Verfolgung (VwGH 31.07.2018, Ra 2018/20/0182):

„Unter ‚Verfolgung‘ im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen (Hinweis E vom 24. März 2011, 2008/23/1443, mwN). § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005 umschreibt ‚Verfolgung‘ als jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie, worunter – unter anderem – Handlungen fallen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 MRK keine Abweichung zulässig ist. Dazu gehören insbesondere das durch Art. 2 MRK geschützte Recht auf Leben und das in Art. 3 MRK niedergelegte Verbot der Folter.“

Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen.

Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (vgl. zB VwGH 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

Bisher haben sich in Bezug auf die vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage von Frauen in Afghanistan keine ausreichend konkreten Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass alle afghanischen Frauen gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen würden, einer Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründe ausgesetzt zu sein.

Bezogen auf Afghanistan führt die Eigenschaft des Frau-Seins an sich gemäß der ständigen Judikatur der Höchstgerichte nicht zur Gewährung von Asyl. Lediglich die Glaubhaftmachung einer persönlichen Wertehaltung, die sich an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild (selbstbestimmt leben zu wollen) orientiert, wird als asylrelevant erachtet, wenn diese in einem wesentlichen Bruch zu den in Afghanistan gelebten Werten führt und daher Sanktionen nach sich ziehen würde. Es ist daher zu prüfen, ob westliches Verhalten oder westliche Lebensführung derart angenommen und wesentlicher Bestandteil der Identität einer Frau geworden ist, dass es für diese eine Verfolgung bedeuten würde, dieses Verhalten unterdrücken zu müssen (VfGH 12.06.2015, Zl. E 573/2015).

Nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrechterhalten werden könnte, führt dazu, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden müsste. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2017/18/0301 - 0306, mwN). Die in der Rechtsprechung behandelte Verfolgung von Frauen mit westlicher Orientierung wird darin gesehen, dass solche Frauen, obwohl ihr westliches Verhalten oder ihre westliche Lebensführung ein solch wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden ist, dieses Verhalten unterdrücken müssten (VwGH 13.11.2019, Ra 2019/18/0303).

Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht der Erstbeschwerdeführerin, im Herkunftsstaat Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, begründet ist:

Wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegt, ist es der Erstbeschwerdeführerin gelungen, glaubhaft zu machen, eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau zu sein. Die Erstbeschwerdeführerin hat seit ihrer Einreise nach Österreich im Juni 2023 ihrer bereits im Herkunftsland bestandenen Überzeugung nunmehr Ausdruck verliehen indem sie eine Lebensweise angenommen hat, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Die Erstbeschwerdeführerin hat somit eine „westliche“ Lebensführung angenommen, die ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden ist und mit der sie mit den sozialen Gepflogenheiten des Heimatlandes brechen würde.

Den bisherigen Aktivitäten bzw. der Lebensweise der Erstbeschwerdeführerin seit ihrer Einreise ist insgesamt zu entnehmen, dass sie einen derartigen „westlichen“, selbstbestimmen Lebensstil anstrebt und auch bereits pflegt. Eine entsprechende innere Wertehaltung konnte ebenfalls glaubhaft gemacht werden. Es hat sich im Verfahren insgesamt gezeigt, dass sie in hohem Maße selbständig, mobil und nicht (mehr) gewillt ist, sich dem traditionellen afghanischen Frauenbild zu unterwerfen.

Es ist daher zu prognostizieren, dass die Erstbeschwerdeführerin im Falle einer etwaigen Rückkehr nach Afghanistan als westlich orientierte Frau mit hoher Wahrscheinlichkeit Eingriffen von erheblicher Intensität ausgesetzt sein wird.

Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht für die Erstbeschwerdeführerin nicht, zumal im gesamten Staatsgebiet von Afghanistan von einer Situation auszugehen ist, in der die am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierten afghanischen Frauen einem erhöhten Sicherheitsrisiko und den daraus resultierenden Einschränkungen ausgesetzt sind.

Das Vorliegen eines Asylausschlussgrundes (§ 6 AsylG 2005) oder eines Endigungsgrundes (Art. 1 Abschnitt C GFK) ist im Verfahren nicht hervorgekommen.

Ein darüberhinausgehendes Fluchtvorbringen der Erstbeschwerdeführerin konnte somit im Hinblick auf das nunmehrige Verfahrensergebnis dahingestellt bleiben.

Der Beschwerde der Erstbeschwerdeführerin ist daher stattzugeben und ihr gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass der Erstbeschwerdeführerin damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der minderjährigen und Zweitbeschwerdeführerin und des minderjährigen Drittbeschwerdeführers. Die Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführer sind somit Familienangehörige im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG.

Gemäß § 34 Abs. 4 AsylG hat die Behörde Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang.

Nach den Materialien (RV 952, 22. GP, 54) ist Zweck des § 34 AsylG die Beschleunigung der Asylverfahren im Familienverband. Im konkreten Fall ist (auch im Hinblick auf VwGH 24.03.2015, Ra 2014/19/0063, wonach für jeden Antragsteller allfällige eigene Fluchtgründe zu ermitteln sind) festzuhalten, dass ein entsprechendes Begehren seitens der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht geäußert wurde, weshalb eine Auseinandersetzung mit etwaigen individuellen Fluchtgründen der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers unterbleiben konnte.

Den Beschwerden der Zweitbeschwerdeführerin und des Drittbeschwerdeführers war daher stattzugeben und ihnen gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 34 Abs. 2 AsylG der Status der Asylberechtigten zuzuerkennen. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass der Zweitbeschwerdeführerin und dem Drittbeschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

II.3.3. Zu Spruchpunkt B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung (vgl. zur Bedingung der „Glaubhaftmachung“ wohlbegründeter Furcht VwGH 11.06.1997, Zl. 95/01/0627 und zum Kriterium der „westlichen Orientierung“ VwGH 06.07.2011, 2008/19/0994; 16.01.2008, 2006/19/0182 sowie zur Indizwirkung der UNHCR-RL VwGH 16.01.2008, 2006/19/0182); weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.

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