Bsw22515/14 – AUSL EGMR Entscheidung
Kopf
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Bryan ua gg Russland, Urteil vom 27.6.2023, Bsw. 22515/14.
Spruch
Art 1, 5, 10, 35 Abs 2 lit b EMRK - Übernahme des Kommandos über ein Greenpeace-Schiff durch russische Agenten nach Protestaktion.
Zulässigkeit der Beschwerden (einstimmig).
Verletzung von Art 5 EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 5 Abs 1 lit c EMRK (einstimmig).
Verletzung von Art 10 EMRK (einstimmig).
Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für jeglichen von den Bf erlittenen immateriellen Schaden dar (5:2 Stimmen).
Text
Begründung:
Sachverhalt:
Im Rahmen der Kampagne »Rettet die Arktis« führte Greenpeace 2013 eine Protestaktion bei der russischen Offshore-Ölbohrinsel Prirazlomnaya durch. Diese befindet sich in der Petschorasee innerhalb der ausschließlichen Wirtschaftszone Russlands. Die als »stationäre, eisbeständige Meeresplattform« registrierte Prirazlomnaya wird von Gazprom betrieben.
Im September 2013 begaben sich 28 Aktivist*innen von Greenpeace und zwei freiberufliche Journalisten (»Arctic 30«) an Bord der unter niederländischer Flagge fahrenden Arctic Sunrise in die Petschorasee, um bei der Ölbohrinsel friedlich gegen die Ölförderung in der Arktis durch Gazprom zu protestieren. Die Betreiber der Prirazlomnaya wurden vorab detailliert informiert.
Als das Schiff der russischen Küstenwache Ladoga die Arctic Sunrise in der Nähe der Ölbohrinsel entdeckte, forderte sie deren Kapitän auf, den Kurs zu ändern, weil die Durchfahrt durch die Sicherheitszone rund um die Ölbohrinsel untersagt sei. Nach einer am folgenden Tag ergangenen weiteren entsprechenden Aufforderung blieb die Arctic Sunrise außerhalb der einen Umkreis von drei Seemeilen umfassenden Sicherheitszone. Am 18.9.2013 begaben sich Aktivist*innen mit fünf Schlauchbooten zur Prirazlomnaya. Zwei von ihnen kletterten an der Außenhülle der Bohrinsel hoch, um ein Banner zu entrollen. Daraufhin entsandte die Ladoga zwei Schlauchboote mit maskierten Männern, welche die Umweltaktivist*innen mit Schusswaffen bedrohten. Nachdem die beiden Kletterer mit Wasserwerfern ins Visier genommen worden waren, verließen sie die Bohrinsel. Sie wurden von den russischen Organen an Bord der Ladoga gebracht. Die übrigen Aktivist*innen kehrten zur Arctic Sunrise zurück.
Die Ladoga forderte die Arctic Sunrise per Funk wiederholt dazu auf, anzuhalten und ein Ermittlungsteam an Bord gehen zu lassen, weil die Aktivist*innen die Prirazlomnaya angegriffen hätten und der Piraterie und des Terrorismus verdächtig seien. Das Greenpeace-Schiff verweigerte dies mit dem Hinweis, sich in internationalen Gewässern zu befinden, und verlangte die Übergabe der beiden Kletterer. Am folgenden Tag übernahmen bewaffnete Agenten des russischen Geheimdiensts FSB, die von einem Helikopter an Bord der Arctic Sunrise gebracht wurden, das Kommando über das Schiff. Die beiden Kletterer wurden noch am selben Tag auf die Arctic Sunrise gebracht. Auf Befehl des Kapitäns der Ladoga wurde die Arctic Sunrise in den Hafen von Murmansk geschleppt, wo sie am 24.9.2013 eintraf.
Nach der Ankunft in Murmansk wurde ein Strafverfahren wegen Piraterie gegen die Aktivist*innen eröffnet und die Untersuchungshaft verhängt. Diese wurde am 26., 27. bzw 29.9.2013 vom Leninskiy Bezirksgericht Murmansk genehmigt. Am 2. bzw 3.10.2013 wurde Anklage wegen Piraterie erhoben. Bei der Verlängerung der Untersuchungshaft wies das Gericht sowohl das Vorbringen zurück, der Tatbestand der Piraterie könne nicht erfüllt sein, weil es sich bei der Prirazlomnaya nicht um ein Schiff handle, als auch das Argument der verhafteten Journalisten, nur über den Protest berichtet zu haben. Nachdem die Leiter der Ermittlungen zur Erkenntnis gelangt waren, dass es sich bei der Ölbohrinsel nicht um ein Schiff, sondern um eine Hafenanlage handle, wurde die Anklage auf »Rowdytum« geändert. Zwischen 20. und 29.11.2013 wurden die Aktivist*innen gegen Kaution aus der Haft entlassen. Am 18.12.2013 erfolgte die Einstellung der Strafverfahren aufgrund einer vom Parlament anlässlich des 20. Jahrestags der russischen Verfassung beschlossenen Amnestie.
Die Niederlande strengten am 4.10.2013 ein Schiedsverfahren nach dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ) an. Der Internationale Seegerichtshof wies Russland am 22.11.2013 an, die Arctic Sunrise freizugeben und alle an Bord befindlichen Personen aus der Haft zu entlassen. Das Schiedsgericht stellte einen Verstoß gegen das SRÜ durch die Übernahme und Festsetzung der Arctic Sunrise fest und ordnete die Zahlung einer Entschädigung iHv € 5.400.000,– durch Russland an die Niederlande an. Nach einer Vereinbarung zwischen den beiden Staaten erhielt Greenpeace rund € 2.700.000,– von der niederländischen Regierung, wovon € 605.000,– an die 28 Aktivist*innen und die beiden Journalisten ausbezahlt wurden.
Rechtliche Beurteilung
Rechtsausführungen:
Die Bf behaupteten eine Verletzung von Art 5 EMRK (Recht auf persönliche Freiheit) und Art 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit).
Zu Art 1 EMRK
(37) Die Bf und die belangte Regierung waren sich darin einig [...], dass sich die Bf zur Zeit der relevanten Ereignisse iSv Art 1 EMRK unter der Hoheitsgewalt Russlands befanden. Da die russischen Behörden ab dem Zeitpunkt ihres Abfangens fortlaufend und ununterbrochen zumindest de facto die volle und ausschließliche Kontrolle über die Arctic Sunrise und ihre Mannschaft ausübten, bis sie in Murmansk ankamen, waren die Bf iSv Art 1 EMRK unter der russischen Hoheitsgewalt (einstimmig).
Zur Jurisdiktion des GH
Vereinbarkeit mit Art 35 Abs 2 lit b EMRK
(38) [...] Der Sachverhalt, der Anlass für die vorliegende Beschwerde gab, wurde bereits von einem nach dem SRÜ gebildeten Schiedsgericht geprüft. [...] Art 35 Abs 2 lit b EMRK zielt darauf ab, eine Situation zu verhindern, in der sich mehrere internationale Spruchkörper parallel mit Beschwerden befassen, die im Wesentlichen dieselben sind. [...] Eine Beurteilung, ob die Rechtssachen ausreichend ähnlich sind, umfasst idR einen Vergleich der Parteien der jeweiligen Verfahren, der von ihnen herangezogenen rechtlichen Bestimmungen, des Umfangs ihrer Ansprüche und der Art der angestrebten Wiedergutmachung. [...]
(39) Im gegenständlichen Fall [...] erhob die belangte Regierung [...] keine Einrede gegen die Prüfung durch den GH aufgrund der Tatsache, dass bereits ein Verfahren nach dem SRÜ stattgefunden hat. Der GH bekräftigt, dass er keine Jurisdiktion über Fälle hat, die in den Anwendungsbereich von Art 35 Abs 2 lit b EMRK fallen. Daher muss er [...] diese Angelegenheit von Amts wegen prüfen und kann dieses Zulässigkeitskriterium nicht bloß wegen des Fehlens einer entsprechenden Verfahrenseinrede der Regierung übergehen.
(40) [...] Das Schiedsverfahren fand zwischen den Regierungen statt und betraf nur den Verstoß Russlands gegen seine Verpflichtungen gegenüber den Niederlanden als jenem Staat, unter dessen Flagge das Schiff nach dem SRÜ fuhr. Das SRÜ-Schiedsgericht befasste sich nicht mit dem Gegenstand der vorliegenden Beschwerde, nämlich den Vorbringen der 30 Bf [...] bezüglich ihrer Rechte nach Art 5 und Art 10 EMRK. [...] Die Bf waren außerdem keine Partei dieses Verfahrens und die niederländische Regierung handelte [...] nicht in Vertretung der Bf, die in keiner Weise beigezogen wurden. Daher stellt der GH fest, dass sich nicht nur Gegenstand und Ziele der beiden Verfahren von einander unterschieden, sondern auch die Parteien vor dem SRÜ-Schiedsgericht und dem GH. Diese Umstände führen ihn zum Schluss, dass [...] der Gegenstand der vorliegenden Beschwerde nicht iSv Art 35 Abs 2 lit b EMRK einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz unterbreitet worden ist.
Zum Verlust der Opfereigenschaft
(41) [...] Die Bf erhielten eine Zahlung in Folge der Einigung zwischen Russland und den Niederlanden [...], die nach Angaben der belangten Regierung unabhängig vom Schiedsverfahren war. Der GH muss daher entscheiden, ob die Bf durch die Erlangung finanzieller Wiedergutmachung ihren Status als Opfer verloren haben.
(44) [...] Eine für den oder die Bf vorteilhafte Entscheidung oder Maßnahme reicht grundsätzlich nicht aus, um ihn oder sie ihrer Eigenschaft als »Opfer« zu entkleiden, solange die nationalen Behörden die Verletzung der EMRK nicht ausdrücklich oder implizit anerkannt und dann eine Wiedergutmachung geleistet haben.
(45) Selbst wenn die Höhe der von den Bf erlangten Entschädigung nach Ansicht des GH angemessen und ausreichend erscheint, legte die Regierung keine Belege dafür vor, dass sie auf nationaler oder internationaler Ebene eine Konventionsverletzung anerkannt hätte. [...] Die Strafverfahren gegen die Bf wurden aufgrund einer Amnestie eingestellt, die jedoch genereller Natur war und sich weder spezifisch auf die Situation der Bf bezog noch irgendeinen Verstoß gegen ihre Rechte anerkannte. Unter diesen Umständen [...] können die Bf nach wie vor geltend machen, iSv Art 34 EMRK Opfer der behaupteten Verletzungen zu sein. Der GH hat daher Jurisdiktion ratione personae zur Prüfung ihrer Beschwerde [...] (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 5 EMRK
(48) Die Bf brachten [...] vor, ihre anfängliche Festnahme und Anhaltung sei willkürlich und rechtswidrig gewesen. Weiters sei ihre anschließende Untersuchungshaft weder rechtmäßig gewesen noch habe sie auf einem begründeten Verdacht [...] beruht. [...]
Zulässigkeit
Vereinbarkeit ratione materiae
(49) [...] Die Parteien sind sich uneinig darüber, ob die Entziehung der Freiheit der Bf [...] vor der Ankunft in Murmansk nach Art 5 EMRK zu prüfen ist. Der GH muss daher zunächst bestimmen, ob dieser Teil der Beschwerde ratione materiae mit Art 5 EMRK vereinbar ist.
(62) [...] Ausgangspunkt für die Beurteilung, ob jemandem iSv Art 5 EMRK »die Freiheit entzogen« wurde, muss die praktische Situation der betroffenen Person sein. Dabei ist eine ganze Reihe von Kriterien zu beachten, wie Art, Dauer, Wirkungen und Umsetzung der fraglichen Maßnahme. [...]
(63) Soweit es um die Festnahme [der beiden Kletterer] und deren Anwesenheit an Bord der Ladoga am 18. und 19.9.2013 geht, kann die Anwendbarkeit von Art 5 EMRK nicht durch die von der Regierung vorgebrachte Tatsache ausgeschlossen werden, dass das Ziel der Behörden darin bestand, den Bf zu helfen und ihre Sicherheit zu gewährleisten. Selbst auf den Schutz der betroffenen Person abzielende oder in ihrem mutmaßlichen Interesse ergriffene Maßnahmen können als Freiheitsentziehung angesehen werden. Jedenfalls stellt der GH fest, dass von den Bf nicht wie von der Regierung dargestellt behauptet wurde, [die beiden Kletterer] hätten sich in Not befunden oder gerettet werden müssen. [...] Nachdem sie von den Mitarbeitern der Ölbohrinsel mit Wasserwerfern beschossen wurden und dadurch gezwungen waren, von der Prirazlomnaya zu klettern, wurden sie von Agenten des FSB gegen ihren Willen auf die Ladoga gebracht. [...] Sie [...] durften sich nicht frei bewegen, bis sie am folgenden Tag auf die Arctic Sunrise gebracht wurden. Ohne Zweifel waren die gegen diese beiden Bf am 18. und 19.9.2013 ergriffenen Maßnahmen [...] mit einem Element des Zwangs verbunden. Ihnen wurde daher iSv Art 5 EMRK ihre Freiheit entzogen.
(64) Was die Situation aller Bf zwischen 19. und 24.9.2013 betrifft, ähnelte diese stark den Ereignissen des Falls Medvedyev ua/FR. Die Bf des vorliegenden Falls befanden sich an Bord ihres Schiffs, als sie unter die Kontrolle russischer Sicherheitskräfte kamen, die den Kurs des Schiffs beinahe eine Woche lang bestimmten, indem sie es nach Murmansk schleppten. [...] Dass niemand physisch eingeschränkt wurde, stellt keinen entscheidenden Faktor bei der Beurteilung des Vorliegens einer Freiheitsentziehung dar. Unter den von den Bf beschriebenen Umständen wurde ihnen nach Ansicht des GH zwischen 19. und 24.9.2013 iSv Art 5 EMRK ihre Freiheit entzogen.
Erschöpfung innerstaatlicher Rechtsbehelfe
(66) [...] Vor dem Regionalgericht Murmansk beschwerten sich [die beiden Kletterer] über ihre Anhaltung an Bord der Ladoga am 18. und 19.9. und alle Bf über ihre Anhaltung auf der Arctic Sunrise zwischen 19. und 24.9.2013. Bei der Anordnung der Untersuchungshaft wies dieses Gericht ihre Argumente zur Gänze zurück und stellte fest, dass ihre Freiheitsentziehung am 24.9.2013 begonnen hätte.
(67) [...] Wenn auf innerstaatlicher Ebene weder ausdrücklich noch implizit anerkannt wurde, dass die Freiheitsentziehung der Bf unangemessen oder rechtswidrig war, kann eine Entschädigungsklage nicht als effektiver Rechtsbehelf angesehen werden. Daher konnte von den Bf [...] nicht erwartet werden, eine Entschädigungsklage zu erheben. [...]
Schlussfolgerung zur Zulässigkeit der Beschwerde unter Art 5 EMRK
(68) [...] Diese Beschwerdebehauptung ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
Zur Anhaltung der Bf vor dem 24.9.2013
(72) [...] Obwohl die Bf von 18.9. bzw 19.9. bis 24.9.2013 festgehalten wurden, wurde ihre Freiheitsentziehung weder protokolliert noch in irgendeiner anderen Form dokumentiert und die Regierung brachte keine plausible Erklärung dafür vor, warum es nicht möglich war, [...] ein Festnahme- oder Haftprotokoll zu erstellen. Die nicht als solche anerkannte Freiheitsentziehung der Bf wurde [...] zudem durch das Versäumnis des Bezirksgerichts erschwert, diese Angelegenheit anzusprechen und den 18. bzw 19.9.2013 [...] als Beginn der Freiheitsentziehung zu betrachten, sowie durch die Entscheidung des Regionalgerichts, das ohne angemessene Prüfung der Umstände der Festnahme der Bf zum Schluss gelangte, den Bf wäre an Bord der Arctic Sunrise die Freiheit nicht entzogen worden.
(73) [...] Die nicht als solche anerkannte Freiheitsentziehung einer Person stellt eine völlige Missachtung der Garantien des Art 5 EMRK und eine schwerste Verletzung dieser Bestimmung dar. [...] Unter den Umständen des vorliegenden Falls, wo keine relevanten Anhaltedaten (wie Datum, Uhrzeit und Ort der Anhaltung, Namen der Gefangenen, Grund für die Anhaltung und Namen der diese ausführenden Personen) aufgezeichnet wurden und wo zudem [...] die Übernahme und das Festsetzen der Arctic Sunrise von einem anderen internationalen Tribunal als völkerrechtswidrig erkannt wurde, muss die Freiheitsentziehung der Bf als unvereinbar mit dem Zweck von Art 5 EMRK angesehen werden. Folglich hat im Hinblick auf die Anhaltung der Bf vor dem 24.9.2013 eine Verletzung von Art 5 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Zur Anhaltung der Bf nach dem 24.9.2013
(74) [...] Die Kernfrage ist, ob die Anhaltung der Bf nach dem 24.9.2013 rechtmäßig und nach Art 5 Abs 1 lit c EMRK gerechtfertigt war.
(76) [...] Das Untersuchungskomitee eröffnete ein Strafverfahren und das Bezirksgericht ordnete die Untersuchungshaft aufgrund von Art 227 des Strafgesetzbuchs (»Piraterie«) an. Eines der Tatbestandselemente der Piraterie besteht in der Begehung der Tat gegen ein »Schiff«. [...] Die Prirazlomnaya wurde vor den umstrittenen Ereignissen in drei Dokumenten als eisbeständige stationäre Plattform bezeichnet, nämlich in der Eigentumsurkunde, einem Urteil des Berufungsgerichts für Wirtschaftssachen und einer »Nachricht für Seefahrer« [mit der die Koordinaten der Ölbohrinsel bekannt gemacht wurden]. [...]
(77) [...] Einen Monat nach Verhängung der Untersuchungshaft [...] räumte der Leiter der Ermittlungen am 24.10.2013 ein, dass es sich bei der Prirazlomnaya nicht um ein Schiff handelt, sondern um eine Hafenanlage, was eine Strafbarkeit wegen Piraterie ausschloss. Nach Ansicht des GH weisen diese Umstände darauf hin, dass die Haltungen verschiedener innerstaatlicher Behörden zum Status der Prirazlomnaya inkonsistent und miteinander unvereinbar waren, was Verwirrung über die korrekte Auslegung von Art 227 Strafgesetzbuch nach sich zog. Eine Freiheitsentziehung [...] ist »willkürlich«, wenn es ungeachtet der Befolgung des Wortlauts des innerstaatlichen Rechts seitens der Behörden ein Element der Bösgläubigkeit oder Täuschung gab oder wenn sie es verabsäumten zu versuchen, die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen korrekt anzuwenden. Zudem wurden nach der Änderung der Anklagen [...] auf »Rowdytum« die neuen rechtlichen Gründe für die fortgesetzte Freiheitsentziehung [...] offensichtlich von den innerstaatlichen Gerichten nicht überprüft und die Bf blieben auf der Grundlage der ursprünglichen, auf die später [...] fallen gelassenen Anklagen wegen Piraterie gestützten Anordnung der Untersuchungshaft inhaftiert, bis sie gegen Kaution entlassen wurden. Unter diesen Umständen ist es schwierig, diese Freiheitsentziehung nicht als willkürlich anzusehen. Der GH stellt folglich fest, dass die Freiheitsentziehung der Bf nach dem 24.9.2013 [...] nicht rechtmäßig war und eine Verletzung von Art 5 Abs 1 lit c EMRK begründete (einstimmig).
Zur behaupteten Verletzung von Art 10 EMRK
(78) Die Bf brachten [...] vor, ihre Festnahme, Anhaltung und strafrechtliche Verfolgung habe [...] gegen Art 10 EMRK verstoßen [...].
Zulässigkeit
Vereinbarkeit ratione materiae
(83) [...] Der Schutz von Art 10 EMRK beschränkt sich nicht auf das geschriebene oder gesprochene Wort, da Informationen und Ideen auch durch nonverbale Ausdrucksmittel oder durch das Verhalten einer Person kommuniziert werden können. Er umfasst nicht nur den Inhalt der zum Ausdruck gebrachten Informationen oder Ideen, sondern auch die Form ihrer Vermittlung. [...]
(84) [...] Proteste können Meinungsäußerungen iSv Art 10 EMRK darstellen. [...]
(85) Im vorliegenden Fall hatten die Bf die Behörden im Vorhinein über ihre Absicht informiert, einen friedlichen Protest abzuhalten und dessen klares Ziel bestand darin, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die umweltschädlichen Auswirkungen des Bohrens nach Öl [...] zu richten. Ungeachtet ihrer störenden Wirkung ist eine solche Aktion nach Ansicht des GH als Meinungsäußerung zu einer Angelegenheit von erheblichem gesellschaftlichem Interesse anzusehen.
(86) Der GH gelangt [...] zu dem Schluss, dass dieses Beschwerdevorbringen [...] ratione materiae mit Art 10 EMRK vereinbar ist.
Erschöpfung innerstaatlicher Rechtsbehelfe
(90) [...] Die Regierung erklärte nicht, welcher effektive Rechtsbehelf den Bf [...] im Hinblick auf ihre Beschwerde unter Art 10 EMRK zur Verfügung gestanden wäre.
(91) Die sich auf die Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe beziehende Einrede der Regierung [...] ist folglich zu verwerfen.
Schlussfolgerung zur Zulässigkeit der Beschwerde unter Art 10 EMRK
(92) [...] Diese Beschwerdebehauptung ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen [...] Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
In der Sache
(96) Da der Protest der Bf bei der Prirazlomnaya eine Meinungsäußerung iSv Art 10 EMRK darstellte, begründete ihre Festnahme, Anhaltung und strafrechtliche Verfolgung einen Eingriff in ihr Recht auf freie Meinungsäußerung. [...]
(97) Soweit es um die Rechtmäßigkeit des Eingriffs im vorliegenden Fall geht, hat der GH bereits festgestellt, dass die Festnahme und Anhaltung der Bf willkürlich und nicht rechtmäßig iSv Art 5 Abs 1 lit c EMRK war [...]. Die Anforderungen der Rechtmäßigkeit nach Art 5 und Art 10 EMRK zielen [...] beide darauf ab, den Einzelnen vor Willkür zu schützen. Wenn eine Freiheitsentziehung nicht rechtmäßig ist und einen Eingriff in eine der von der EMRK garantierten Freiheiten begründet, kann dieser folglich grundsätzlich nicht als eine vom innerstaatlichen Recht vorgesehene Einschränkung angesehen werden. Daher muss der GH nicht prüfen, ob der fragliche Eingriff ein legitimes Ziel verfolgte und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.
(98) Folglich hat [...] eine Verletzung von Art 10 EMRK stattgefunden (einstimmig).
Entschädigung nach Art 41 EMRK
Die Feststellung einer Verletzung stellt für sich eine ausreichende gerechte Entschädigung für jeglichen von den Bf erlittenen immateriellen Schaden dar (5:2 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Serghides).
Vom GH zitierte Judikatur:
Steel ua/GB, 23.9.1998, 24838/94 = NL 1998, 201
Hashman und Harrup/GB, 25.11.1999, 25594/94 (GK) = NL 1999, 196
Medvedyev ua/FR, 29.3.2010, 3394/03 (GK) = NLMR 2010, 104
Pentikäinen/FI, 20.10.2015, 11882/10 (GK) = NLMR 2015, 442
Khlaifia ua/IT, 15.12.2016, 16483/12 (GK) = NLMR 2016, 511
Sabuncu ua/TR, 10.11.2020, 23199/17 = NLMR 2020, 444
Karuyev/RU, 18.1.2022, 4161/13 = NLMR 2022, 41
Hinweis:
Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 27.6.2023, Bsw. 22515/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 275) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.
Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.