JudikaturAUSL EGMR

Bsw36418/20 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
06. Juni 2023

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Navalnyy gg Russland (Nr.3), Urteil vom 6.6.2023, Bsw. 36418/20.

Spruch

Art. 2 EMRK - Ermittlungspflicht des Staates bei plausibler Behauptung eines Mordversuchs durch Vergiftung.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art 2 EMRK (einstimmig).

Befolgung der Urteile des EGMR gemäß Art. 46 EMRK: Russland hat im vorliegenden Strafverfahren rasche strafrechtliche Ermittlungen durchzuführen, die iSv Art. 2 EMRK effektiv sind und die vom GH in seinem Urteil getroffenen Feststellungen zu berücksichtigen haben.

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf ist Gründer der russischen »Anti-Korruptions-Stiftung«. Er reiste im August 2020 mit mehreren Mitarbeitern dieser NGO nach Tomsk. Als er am 20.8.2020 von Tomsk zurück nach Moskau flog, wurde der Bf plötzlich krank und verlor das Bewusstsein. Das Flugzeug musste in Omsk notlanden, wo der Bf in einem Krankenhaus lebenserhaltende Maßnahmen erhielt.

Am selben Tag meldete ein Mitarbeiter des Bf, Herr G., den Vorfall dem Untersuchungskomitee der russischen Föderation und beantragte eine strafrechtliche Untersuchung des versuchten Mordes durch eine Vergiftung, welche seiner Meinung nach mit der politischen Aktivität des Bf verknüpft war. Am gleichen Tag erstattete Herr L., der den Bf auf dem Flug begleitet hatte, eine ähnliche Anzeige beim Tomsker Innenministerium und beantragte eine strafrechtliche Untersuchung. Am 21.8.2020 kam das forensische Zentrum in Omsk zum Schluss, dass auf den Probenabnahmen der Handflächen und auf den Nagelabschnitten keine giftigen Substanzen, Betäubungsmittel oder psychotropen Substanzen gefunden worden waren. Es wurden weder Einzelheiten noch Kopien des gerichtsmedizinischen Berichtes übermittelt.

Der Bf wurde am 22.8.2020 nach Deutschland geflogen, um im Charité-Krankenhaus in Berlin behandelt zu werden. Am 24.8.2020 wurde nach Angaben der russischen Regierung bei einer gerichtsmedizinischen Untersuchung festgestellt, dass in oder an den zur Untersuchung vorgelegten Gegenständen keine giftigen Substanzen gefunden worden waren. Wiederum gab es weder Einzelheiten noch Kopien des gerichtsmedizinischen Berichts. Nach Aussage der Regierung übermittelte der Generalstaatsanwalt am 27.8.2020 ein Rechtshilfeersuchen an Deutschland in Bezug auf den Fall.

Am 2.9.2020 gab die deutsche Regierung bekannt, dass an den Proben des Bf eindeutig ein chemisches Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe der nach der Chemiewaffenkonvention (CWK) (Anm: Übereinkommen vom 13.1.1993 über das Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lagerung und des Einsatzes chemischer Waffen und über die Vernichtung solcher Waffen, BGBl III 38/1997.) verbotenen Stoffe nachgewiesen wurde. Am 14.9.2020 veröffentlichte das deutsche Presse- und Informationsamt eine Pressemitteilung über die Ergebnisse der Laboruntersuchungen des Bf, die einen eindeutigen Beweis für das Vorhandensein eines chemischen Nervengifts aus der Nowitschok-Gruppe ergeben hätten. Weiters habe es zusätzliche Untersuchungen von einem französischen und schwedischen Speziallabor gegeben, welche die deutschen Befunde bestätigen würden.

Am 18.9.2020 erließ ein Ermittler der Verkehrsabteilung des Innenministeriums von Tomsk (Verkehrspolizei von Tomsk) eine Entscheidung, in der er eine strafrechtliche Untersuchung wegen versuchten Mordes ablehnte, da keine objektiven Informationen vorlägen, die auf eine vorsätzliche Straftat hindeuteten.

Am 6.10.2020 gab die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) eine Pressemitteilung heraus, in der berichtet wurde, dass die Merkmale der Chemikalien, die im Blut und Urin des Bf nachgewiesen wurden, auf verbotene Kampfstoffe hinwiesen.

Am 14.12.2020 veröffentlichten Journalisten von Bellingcat und The Insider einen Bericht über die Vergiftung des Bf. Sie enthüllten, dass er seit 2017 vom Sicherheitsdienst der russischen Föderation (FSS) überwacht worden war und dass die daran beteiligten Agenten auf giftige chemische Substanzen spezialisiert waren.

Herr L. und Herr G. verlangten mehrmals die Einleitung einer strafrechtlichen Ermittlung und beschwerten sich zwischen August 2020 bis April 2021 wiederholt und erfolglos bei verschiedenen Gerichten über die Untätigkeit des FSS beziehungsweise der Weigerung der Verkehrspolizei Tomsk, eine Ermittlung einzuleiten. Auch Akteneinsicht und die Rückgabe der persönlichen Gegenstände des Bf wurden abgelehnt.

Am 15.1.2021 antworteten die deutschen Behörden auf ein Rechtshilfeersuchen Russlands. Sie informierten die russischen Behörden, dass bei einer toxikologischen Untersuchung bei zwei Wasserflaschen Spuren eines Nervengifts gefunden worden seien. Am 29.4. 2021 lehnte das Bezirksgericht Kirovskij erneut die Einleitung einer strafrechtlichen Ermittlung ab, da gemäß dem russischen Bericht keine giftigen Stoffe gefunden worden seien. Das Material der deutschen, schwedischen und französischen Labore sei nicht übermittelt worden. Der Ursprung der untersuchten Flaschen sei zudem nicht bekannt und die Tests seien außerhalb von Russland durchgeführt worden.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf behauptete eine Verletzung von Art 2 EMRK (Recht auf Leben), durch die Weigerung der russischen Behörden, strafrechtliche Ermittlungen in Bezug auf den an ihm versuchten Mord einzuleiten.

Zur behaupteten Verletzung von Art 2 EMRK

(92) Der Bf brachte vor, [...] er sei mit einer chemischen Substanz vergiftet worden, die nur den staatlichen Sicherheitsdiensten zugänglich sei, und er beschwerte sich darüber, dass es die russischen Behörden verabsäumt hätten, eine effektive Untersuchung durchzuführen. [...]

Zulässigkeit

Anwendbarkeit von Art 2 EMRK

(100) Obwohl die Anwendbarkeit von Art 2 EMRK im vorliegenden Fall nicht strittig ist, handelt es sich um eine Frage, die sich auf die Jurisdiktion des GH bezieht und daher von Amts wegen geprüft werden muss.

(101) Der GH betont, dass der Schutz von Art 2 EMRK nicht nur im Fall des Todes des Opfers einer Gewalttat geltend gemacht werden kann. Art 2 EMRK kommt auch zum Tragen [...], wenn die betroffene Person Opfer einer Aktivität [...] war, welche aufgrund ihrer Art ihr Leben in tatsächliche und unmittelbare Gefahr gebracht hat und [...] sie Verletzungen erlitten hat, welche zum Zeitpunkt ihres Auftretens lebensbedrohlich erschienen [...].

(102) Die Umstände des Falls [...] und die im Akt verfügbaren Dokumente [...] lassen nicht daran zweifeln, dass das Leben des Bf in unmittelbarer Gefahr war.

(103) Die plötzliche und unerklärliche Veränderung seines Gesundheitszustands in Verbindung mit anderen klinischen Symptomen veranlassten die Sanitäter, eine Vergiftung zu vermuten. Unabhängig davon, ob der Bf wirklich Opfer eines vorsätzlichen Anschlags wurde, oder ob der Anschlag mit chemischen Waffen und unter Beteiligung staatlicher Agenten ausgeführt wurde, war die Behauptung einer Vergiftung nicht unplausibel.

(104) Sobald die Behörden Kenntnis eines solchen Falls erlangt haben, ist der Staat ipso facto gemäß Art 2 EMRK verpflichtet, eine wirksame Untersuchung durchzuführen [...]. Selbst wenn nicht sofort klar war, dass das Leben des Bf durch »eine Tätigkeit oder ein Verhalten« oder durch die »Anwendung von Gewalt« gefährdet war, ließ die Situation vermuten, dass der Staat verpflichtet war, eine wirksame Untersuchung [...] durchzuführen.

(105) Zusammenfassend lässt sich sagen, dass angesichts der Art des Vorfalls [...] Art 2 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar ist, obwohl der Bf überlebt hat.

Ausschöpfung der innerstaatlichen Rechtsbehelfe

(106) Der GH stellt fest, dass der Einwand der Regierung, [...] die Beschwerde [...] sei verfrüht, auf dem Argument beruht, dass der Bf eine Beschwerde erhob, während die Voruntersuchung zu den Berichten über eine Straftat noch lief und seine Beschwerden über ihren Fortschritt noch vor den innerstaatlichen Gerichten anhängig waren. Nach dem späteren Vorbringen der Parteien endete die Voruntersuchung mit der Entscheidung der Verkehrspolizei Tomsk vom 10.2.2021, mit welcher sie die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen ablehnte. Diese Entscheidung wurde am 29.4.2021 vom Bezirksgericht Kirovskiy und in letzter Instanz vom Regionalgericht Tomsk am 28.6.2021 bestätigt. Diese Entwicklungen machen die Einrede der Regierung hinsichtlich der Nichterschöpfung der innerstaatlichen Rechtsmittel gegenstandslos und der GH weist sie zurück, ohne zu prüfen, ob die vorgenannte Untersuchung einen wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf darstellte.

(107) Der GH stellt ferner fest, dass die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen in Art 35 EMRK genannten Grund unzulässig ist. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

In der Sache

Allgemeine Grundsätze

(130) Die Verpflichtung des Staates nach Art 2 EMRK, das Recht auf Leben zu schützen, erfordert implizit, dass eine wirksame behördliche Untersuchung durchgeführt wird, wenn eine Person lebensbedrohliche Verletzungen unter fragwürdigen Umständen erlitten hat, selbst wenn der mutmaßliche Täter kein staatliches Organ ist [...].

(131) Insb dann, wenn nicht von vornherein eindeutig feststeht, dass der Tod durch einen Unfall oder eine unbeabsichtigte Handlung eingetreten ist und wenn die Vermutung der rechtswidrigen Tötung zumindest nachvollziehbar ist, verlangt die EMRK, dass eine Untersuchung durchgeführt wird, welche das Mindestmaß an Effektivität erfüllt, um die Umstände des Todes zu erhellen [...].

(132) Der GH beurteilt die Einhaltung der Verfahrenserfordernisse des Art 2 EMRK anhand mehrerer Faktoren: der Angemessenheit der Ermittlungsmaßnahmen, der Schnelligkeit [...] der Ermittlungen, der Einbeziehung des Opfers oder seiner nächsten Angehörigen und der Unabhängigkeit der Ermittlungen. Dies sind Kriterien, welche zusammengenommen eine Bewertung der [...] Wirksamkeit der Untersuchung ermöglichen [...].

(133) Die Art und Weise der Prüfung, welche das Mindestmaß an Wirksamkeit der Ermittlung erfüllen, hängen von den Umständen des Einzelfalls ab und müssen auf der Basis der relevanten Tatsachen mit Bezugnahme auf die praktischen Gegebenheiten der Ermittlungsarbeit beurteilt werden [...].

(134) Die Ermittlung muss in dem Sinne wirksam sein, dass sie zur Feststellung der relevanten Tatsachen und zur Identifizierung und gegebenenfalls zur Bestrafung der Verantwortlichen führen kann. Dies ist eine Verpflichtung, welche sich auf die einzusetzenden Mittel und nicht auf die Ergebnisse bezieht. Die Behörden müssen alle ihnen zur Verfügung stehenden [...] Maßnahmen ergreifen, um die Beweise sicherzustellen [...], einschließlich Augenzeugenaussagen und forensische Beweise [...].

(135) Des Weiteren müssen die Schlussfolgerungen der Ermittlung auf einer objektiven und unparteiischen Analyse beruhen [...]. Wird eine offensichtliche Ermittlungslinie nicht untersucht, untergräbt dies die Fähigkeit der Untersuchung, die Umstände des Falls und die Identifizierung der Verantwortlichen zu klären [...]. Die Behörden müssen immer einen ernsthaften Versuch unternehmen festzustellen, was passiert ist, und sollten sich nicht auf voreilige oder unbegründete Schlussfolgerungen verlassen, um ihre Untersuchung abzuschließen [...].

Anwendung der allgemeinen Grundsätze auf den vorliegenden Fall

(137) Der GH verweist auf die obigen Ausführungen, wonach der Vorfall eine ernste und unmittelbare Gefahr für das Leben des Bf darstellte, wodurch die Verpflichtung des Staates, eine wirksame Ermittlung [...] durchzuführen, ausgelöst wurde [...].

(138) Er stellt weiter fest, dass zum Zeitpunkt des Vorfalls die Schwere der Situation weder von den einschreitenden Fachleuten [...], noch von den zuständigen Behörden bezweifelt wurde. Tatsächlich behauptete die Regierung in ihrer Stellungnahme, dass es in diesem Fall eine wirksame Untersuchung in Form einer Voruntersuchung gegeben habe, die sie für gründlich und umfassend hielt.

(139) Die Aufgabe des GH besteht daher darin zu beurteilen, ob die von der Regierung genannte Voruntersuchung [...] das Mindestmaß an Wirksamkeit erfüllte, welches von der EMRK gefordert wird. Er weist gleich zu Beginn darauf hin, dass die Voruntersuchung im russischen Rechtssystem allein nicht zu einer Bestrafung des Verantwortlichen führen kann, da die Eröffnung eines Strafverfahrens und eine strafrechtliche Untersuchung Voraussetzung für die Anklage [...] sind. In Fällen, in denen auf eine Voruntersuchung keine Vorermittlung folgte, hielt der GH einen solchen Rechtsrahmen für unzureichend. Er wurde insb als ungeeignet angesehen, um Tatsachen festzustellen [...] und er gewährleistet nicht das Recht der Bf auf eine wirksame Beteiligung am Verfahren, da ihnen kein Opferstatus zuerkannt werden konnte [...].

(140) Daraus ergibt sich, dass nach der Rsp des GH die bloße Weigerung der Ermittlungsbehörden, eine strafrechtliche Untersuchung zu glaubwürdigen Anschuldigungen [...] einzuleiten, ein Indiz dafür sein kann, dass der Staat seiner Verpflichtung zur Durchführung einer wirksamen Untersuchung nicht nachgekommen ist.

(141) Was die spezifischen Umstände des vorliegenden Falls betrifft, wird der GH prüfen, ob die Besonderheiten der [...] Voruntersuchung dennoch die Kriterien der Wirksamkeit erfüllen konnten.

Öffentlicher Charakter

(142) Die Regierung untermauerte die Behauptung, die Voruntersuchung sei wirksam gewesen, hauptsächlich mit dem Argument, dass eine beträchtliche Anzahl von Untersuchungsschritten wahrgenommen worden sei, um den Hintergrund des Vorfalls zu ermitteln, einschließlich der Befragung verschiedener Zeugen und der Durchführung mehrerer forensischer Tests. Da dem GH jedoch keine Unterlagen zu diesen Schritten vorgelegt wurden, ist er nicht in der Lage, den Inhalt [...] der fraglichen Maßnahmen zu überprüfen oder festzustellen, ob die Behörden angemessene Schlussfolgerungen aus dem Material gezogen haben. Außerdem geht aus den innerstaatlichen Gerichtsentscheidungen nicht hervor, dass diese Schritte von den nationalen Gerichten geprüft wurden.

(143) Der GH ist sich der Tatsache bewusst, dass der Bf und seine Vertreter nur begrenzte Kenntnisse der Ermittlungsmaßnahmen der Untersuchungsorgane und keinen Zugang zum Untersuchungsmaterial hatten. Sie beschwerten sich regelmäßig bei den innerstaatlichen Gerichten darüber [...]. Eines der Hauptargumente, das sie in ihren Anträgen auf ein förmliches strafrechtliches Ermittlungsverfahren anführten, war, dass der Bf ansonsten nicht in der Lage wäre, den verfahrensrechtlichen Opferstatus zu erhalten, was ihm die Möglichkeit nehme, sich am Verfahren zu beteiligen [...].

(144) Die Regierung stützte sich insb auf die gerichtsmedizinischen Berichte vom 21.8., 27.8. und 4.9.2020, aus denen hervorging, dass die Sachverständigen keine Spuren von bestimmten Substanzen in den Abstrichen der Handflächen des Bf [...] gefunden hatten und dass keine [...] derartigen Substanzen auf [...] seiner Kleidung gefunden worden waren. Ohne Zugang zu diesen Berichten, die dem GH nicht zur Verfügung gestellt wurden, ist es nicht möglich, den Umfang der gerichtsmedizinischen Untersuchungen zu ermitteln oder festzustellen, ob [...] Befunde der Sachverständigen in den Ausführungen der Regierung ausgelassen wurden. Es steht ebenso fest, dass mangels einer solchen Verfahrensstellung weder der Bf noch seine Vertreter an den gerichtsmedizinischen Untersuchungen, an der Bestellung von Sachverständigen oder an der Formulierung von Fragen teilgenommen haben oder andere Rechte ausgeübt haben, die Opfern in Strafverfahren zustehen.

(145) Der GH stellt ebenfalls fest, dass der Bf seine Kleidung nach mehreren Beschwerden nicht zurückbekam. Ihm wurde keine substanzielle Begründung für deren Zurückhaltung gegeben, nicht einmal, nachdem die Ermittlungen [...] eingestellt worden waren. Die Behörden hielten demnach Gegenstände, welche wichtige Beweismittel darstellen könnten, [...] ohne eine Erklärung zurück, obwohl sie zum Schluss gekommen waren, dass es keinen Anlass für eine Ermittlung gab.

(146) Daraus folgt, dass die Untersuchung in diesem Fall nicht öffentlich war und dem Recht des Opfers auf Beteiligung am Verfahren nicht entsprach.

Angemessenheit

(147) Der Bf machte geltend, dass die Untersuchung [...] drei wesentliche Aspekte außer Acht ließ: erstens das mögliche politische Motiv für den Angriff, zweitens die mögliche Involvierung oder Mitwirkung staatlicher Agenten und drittens die Verwendung einer Substanz, die unter einem internationalen Vertrag als chemische Waffe verboten ist.

(148) Der GH stellt fest, dass die [...] beauftragten Rechtsanwälte die Behörden unmittelbar nach dem Vorfall aufforderten, diesen als versuchten Mord durch Vergiftung mit einer unbekannten Substanz zu beurteilen. Sie wiesen darauf hin, dass die politische Tätigkeit des Bf ein wahrscheinliches Motiv für den Angriff sei. Der GH stellt fest, dass es sich beim Bf um eine bekannte Persönlichkeit der Opposition handelt, deren Aktivismus, insb im Kampf gegen die Korruption, zu seinen mehrfachen Verhaftungen, Inhaftierungen, Verurteilungen und Misshandlungen geführt hat und dass er in mehreren Verfahren eine gerechtfertigte Behauptung der Verfolgung aus politischen Gründen vorgebracht hat [...]. Der GH stellt ebenfalls fest, dass es bereits Berichte über wiederholte Drohungen und Angriffe gegen den Bf gab. Der GH ist daher der Ansicht, dass das politische Motiv ein wesentliches Element der Untersuchung sein hätte müssen [...].

(149) Soweit sich dies anhand der dem GH zur Verfügung gestellten Dokumente feststellen lässt, hat die Untersuchung jedoch nicht nur einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Vorfall und der öffentlichen Tätigkeit des Klägers nicht untersucht, sondern auch die Version eines vorsätzlichen Angriffs nicht ernsthaft weiterverfolgt, obwohl in keinem Stadium [...] natürliche Ursachen festgestellt worden waren. Selbst wenn die ersten Untersuchungen kein Vorhandensein toxischer Substanzen zeigten, reichte dies für sich genommen nicht aus, um die Version einer Vergiftung auszuschließen, insb in Abwesenheit anderer plausibler Erklärungen für die plötzliche Erkrankung.

(150) Die Verpflichtung, die mögliche Vergiftung zu untersuchen, erlangte eine neue Dimension, nachdem die deutsche Regierung mit Hilfe der OVCW Beweise erlangt hatte, welche auf eine Vergiftung mit einem chemischen Nervengift der Nowitschok-Gruppe hinweisen. Russland war als Vertragspartei der CWK verpflichtet, alle Handlungen, die gegen das Verbot chemischer Waffen verstoßen, strafrechtlich zu untersuchen, was als besondere Bestimmung in das [russische] Strafgesetzbuch aufgenommen wurde. Daraus folgt, dass Russland nach internationalem und innerstaatlichem Recht verpflichtet war, alle Handlungen, welche gegen das Verbot chemischer Waffen verstoßen, strafrechtlich zu untersuchen [...].

(151) Des Weiteren stellt der GH fest, dass Russland [...] auf seine internationalen Verpflichtungen hingewiesen wurde. Es scheint jedoch nicht, dass die nationalen Behörden den Erklärungen Folge geleistet haben.

(152) In Bezug auf die Behauptung der russischen Behörden, dass die Ermittlung nicht eingeleitet werden habe können, weil die deutschen Behörden nicht mit ihnen zusammengearbeitet und ihrem Rechtshilfeersuchen nicht stattgegeben hätten, enthält der Akt nur ungenügende Informationen über die diesbezügliche Kommunikation zwischen den russischen und den deutschen Behörden. Das Material wurde dem GH nicht zur Verfügung gestellt. Er kann daher die Stichhaltigkeit des Arguments der Regierung diesbezüglich nicht überprüfen.

(153) Jedenfalls fällt es dem GH schwer zu akzeptieren, dass die innerstaatliche Untersuchung nicht als strafrechtliche Ermittlung eingestuft werden konnte, weil ein Teil des Beweismaterials im Ausland zurückgehalten wurde. Entscheidend ist, dass das Versäumnis, eine strafrechtliche Ermittlung einzuleiten, an sich ein Hindernis für die Ermittlungsmaßnahmen darstellte, die unter russischer Gerichtsbarkeit durchgeführt werden hätte können. Der GH betont, dass die Verpflichtung zur Durchführung einer wirksamen Untersuchung die einzusetzenden Mittel und nicht die zu erzielenden Ergebnisse betrifft und dass die Behörden [...] angemessene Schritte setzen müssen, um plausible Behauptungen einer Verletzung des Rechts auf Leben zu untersuchen, auch wenn sie letztendlich unbegründet sein sollten [...].

(154) Des Weiteren hat es den Anschein, dass obwohl Deutschland nicht die geforderten Informationen im Rahmen des Rechtshilfeersuchens zur Verfügung gestellt hat, die deutsche Regierung im Rahmen anderer internationaler Instrumente zusammengearbeitet hat. So wurde insb der Bericht des technischen Sekretariats der OVCW mit Russland geteilt [...] und veröffentlicht. Der Bericht, der von einem unabhängigen Gremium erstellt wurde [...] und den Einsatz chemischer Waffen bestätigte, war an sich schon geeignet, [...] Beweise zu liefern, die für die Einleitung einer innerstaatlichen Untersuchung in Russland ausreichten.

(155) Ebensowenig konnten sich die innerstaatlichen Behörden darauf berufen, dass sie nicht in der Lage waren, den Bf, seine Frau [...] und andere im Ausland lebende Personen zu befragen, um eine strafrechtliche Ermittlung einzuleiten. Der Bf, seine Familie, seine Mitarbeiter und seine Vertreter haben zahlreiche Erklärungen abgegeben, [...] in denen sie ihre Behauptungen über den versuchten Mord schilderten und auf mögliche Beweise verwiesen. Die Behörden waren daher hinreichend über ihren Standpunkt informiert. Der wesentliche Grund dafür, dass sie nicht als Zeugen vernommen werden konnten, war der fehlende Verfahrensstatus: Eine Person konnte nur als Opfer oder Zeuge im Rahmen eines strafrechtlichen Verfahrens vernommen werden, welches jedoch nicht eröffnet wurde. Der verfahrensrechtliche Status hat für die Befragten rechtliche Konsequenzen, da er ihre Verantwortlichkeit und Rechte festlegt. Die Tatsache, dass sich die betroffenen Personen weigerten, befragt zu werden [...], kann dem Bf nicht rechtmäßig

vorgehalten werden und hat keinen Einfluss auf die Verpflichtung des Staates, eine wirksame Untersuchung durchzuführen [...].

(156) Schließlich wird der GH die Beschwerde betreffend die versäumte Prüfung einer möglichen Verwicklung [...] staatlicher Organe [...] prüfen. Zusätzlich zur Tatsache, dass [...] der Bf eine Person des öffentlichen Lebens ist, hat der GH bereits früher festgestellt, dass der Bf unter intensiver Überwachung durch die Sicherheitsdienste stand [...]. Aus diesem Grund war es wahrscheinlich, dass ein Angriff durch eine Privatperson entdeckt werden würde. Die Notwendigkeit, die mögliche Beteiligung staatlicher Agenten zu untersuchen, war daher von Anfang an gegeben. [...] Die Entwicklung und der Einsatz solcher Chemikalien erforderten Zeit, Geschick und ein gewisses Maß an Organisation, das von Einzelpersonen ohne Verbindung zum Staat kaum erreicht werden kann. [...]

(157) Der Verdacht einer Beteiligung [...] staatlicher Agenten wurde von den Veröffentlichungen von Bellingcat und The Insider verstärkt. Die darin enthaltenen Behauptungen, in denen die [...] staatlichen Agenten, die in die Vergiftung verwickelt waren, namentlich genannt wurden, waren hinreichend schwerwiegend, um eine gründliche Überprüfung zu erfordern. Die [...] Art und Weise, in der dieses Material zurückgewiesen wurde, zeigt, dass die Behauptungen nicht überprüft oder die Ergebnisse nicht offengelegt wurden.

(158) Um den Anforderungen des verfahrensrechtlichen Teils von Art 2 EMRK zu entsprechen, hätten die Behörden im vorliegenden Fall diesen Behauptungen nachgehen müssen [...]. In Ermangelung von Beweisen, dass eine solche Untersuchung durchgeführt wurde, kann dies nicht als angemessen angesehen werden [...].

Schlussfolgerungen

(159) Am 20.8.2020 befand sich der Bf in einer Situation, die eine ernsthafte und unmittelbare Gefahr für sein Leben darstellte, welche die [...] Verpflichtung des Staates nach Art 2 EMRK auslöste, eine wirksame Untersuchung durchzuführen.

(160) Die Untersuchung, die von den innerstaatlichen Behörden durchgeführt wurde, war nicht ausreichend öffentlich und erlaubte dem Opfer nicht, an dem Verfahren teilzunehmen. Des Weiteren versäumte es die Untersuchung, die Behauptungen über ein mögliches politisches Motiv für den Mordversuch sowie eine mögliche Beteiligung [...] staatlicher Agenten zu untersuchen [...]. Sie war als solche nicht geeignet, zur Feststellung der relevanten Fakten und zur Identifizierung [...] der Verantwortlichen zu führen und konnte daher nicht als angemessen angesehen werden.

(161) Es liegt daher eine Verletzung von Art 2 EMRK vor (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art 13 EMRK

(162) Der Bf brachte vor, dass er kein wirksames Rechtsmittel in Bezug auf die behauptete Verletzung von Art 2 EMRK hatte.

(163) Der GH stellt fest, dass diese Beschwerde die gleichen Fragen betrifft, welche im verfahrensrechtlichen Teil von Art 2 EMRK geprüft wurden. [...] Der GH hält es nicht für erforderlich, diese Fragen gesondert nach Art 13 EMRK zu prüfen [...].

Art 46 EMRK

(165) Da die Urteile im Wesentlichen deklaratorische Wirkung haben, steht es dem belangten Staat generell frei, unter der Aufsicht des Ministerkomitees die Mittel zu wählen, mit denen er seinen rechtlichen Verpflichtungen nach Art 46 EMRK nachkommt, sofern [...] sie mit dem Urteil des GH vereinbar sind [...]. Jedoch gibt es eine Hand voll Fälle, in denen der GH in seinen Urteilen die erforderlichen Maßnahmen angegeben hat und die Art der festgestellten Verletzung keine wirkliche Wahl zwischen Maßnahmen zur Beseitigung ließ [...].

(166) Im vorliegenden Fall hat der GH festgestellt, dass die russischen Behörden es verabsäumt haben, eine wirksame Untersuchung der glaubwürdigen Vorwürfe eines versuchten Mordes durchzuführen, die [...] durch den mutmaßlichen Einsatz von verbotenen Substanzen [...] bei dem Angriff verstärkt wurden. Dieses Versäumnis hielt an, obwohl die russische Regierung mehrmals von internationalen Gremien aufgefordert wurde, die Umstände des Vorfalls aufzuklären [...].

(167) Aus diesen Gründen ist der GH der Auffassung, dass die von Russland zur Erfüllung seiner Verpflichtungen nach Art 46 EMRK zu ergreifenden individuellen Maßnahmen eine rasche Ermittlung in einem Strafverfahren umfassen müssen, die iSv Art 2 EMRK effektiv sein und die vom GH in diesem Urteil getroffenen Feststellungen berücksichtigen muss.

(168) Bei der Überprüfung künftiger Beschwerden, die der Bf erhebt, wird der GH gegebenenfalls Schlussfolgerungen für andere, damit zusammenhängende Beschwerden ziehen, solange die konventionskonforme Untersuchung nicht stattgefunden hat.

Entschädigung nach Art 41 EMRK: € 40.000, – für immateriellen Schaden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Yotova/BG, 23.10.2012, 43606/04

Mustafa Tunç und Fecire Tunç/TR, 14.4.2015, 24014/05 (GK) = NLMR 2015, 97

Huseynova/AZ, 14.4.2017, 10653/10

Mazepa ua/RU, 17.7.2018, 15086/07 = NLMR 2018, 333

Nicolae Virgiliu Tanase/RO, 25.6.2019, 41720/13 (GK) = NLMR 2019, 189

Lapshin/AZ, 20.5.2021, 13527/18

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 6.6.2023, Bsw. 36418/20, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2023, 213) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.