Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed und den Hofrat Mag. Tolar sowie die Hofrätinnen Dr. in Gröger, Dr. in Sabetzer und Dr. Kronegger als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Hahn, LL.M., über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, gegen das am 23. Dezember 2024 mündlich verkündete und am 7. Jänner 2025 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, I424 2296912 1/18E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: M K), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird im Anfechtungsumfang [Spruchpunkt A) II.] wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1 Der Mitbeteiligte, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit, stellte am 11. September 2023 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Das revisionswerbende Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 18. Juni 2024 zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte dem Mitbeteiligen keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005; Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt V.), und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.).
3 Am 9. November 2024 heiratete der Mitbeteiligte eine nach dem Akteninhalt in Österreich aufhältige bulgarische Staatsbürgerin.
4 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) gab der Beschwerde des Mitbeteiligten nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung hinsichtlich der Spruchpunkte IV., V. und VI. Folge und behob den Bescheid des BFA vom 18. Juni 2024 in diesem Umfang [Spruchpunkt A) II.]. Darüber hinaus wies es die Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis III. ab [Spruchpunkt A) I.]. Mit Spruchpunkt B) erklärte das BVwG die Revision an den Verwaltungsgerichtshof für nicht zulässig.
5 Dem legte das BVwG soweit hier von Relevanz im Wesentlichen die folgenden Erwägungen zugrunde:
6 Der Mitbeteiligte führe seit dem 25. Juli 2024 eine Beziehung mit seiner nunmehrigen Ehefrau. Seit dem 8. August 2024 bestehe ein gemeinsamer Haushalt. Die Ehe sei am 9. November 2024 geschlossen worden. Diese Feststellungen gründeten sich auf die Angaben des Mitbeteiligten und seiner Ehefrau in der Beschwerdeverhandlung sowie auf Auszüge aus dem ZMR.
7 Rechtlich sei zur Behebung des Bescheides hinsichtlich der Spruchpunkte IV. bis VI. zu berücksichtigen, dass der Mitbeteiligte zwischenzeitlich eine in Österreich aufenthaltsberechtigte und niedergelassene bulgarische Staatsangehörige geheiratet habe. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sei ein Drittstaatsangehöriger, der mit einer ihr Freizügigkeitsrecht in Österreich ausübenden EWR Bürgerin eine Ehe eingegangen sei, auch dann, wenn diese Ehe als Aufenthaltsehe zu qualifizieren sei, als „begünstigter Drittstaatsangehöriger“ im Sinne des § 2 Abs. 4 Z 11 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) zu behandeln und demzufolge gegen ihn eine Ausweisung (und keine Rückkehrentscheidung) bzw. ein Aufenthaltsverbot (und kein Einreiseverbot) zu erlassen; und zwar jedenfalls solange keine rechtskräftige Feststellung im Sinne des § 54 Abs. 7 Niederlassungs und Aufenthaltsgesetz (NAG) vorliege (Hinweis auf VwGH 7.6.2023, Ra 2021/21/0255). Eine rechtskräftige Feststellung gemäß § 54 Abs. 7 NAG sei bislang nicht erfolgt. Ebensowenig sei bereits über einen allfälligen Antrag des Mitbeteiligten auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte für Angehörige eines EWR Bürgers durch die NAG Behörde entschieden worden.
8 Gegen begünstigte Drittstaatsangehörige könne eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG nicht erlassen werden. Dies ordne das Gesetz im Fall des (hier gegenständlichen) § 52 Abs. 2 FPG auch ausdrücklich an. Die Ehefrau des Mitbeteiligten sei als bulgarische Staatsangehörige EWR Bürgerin, die sich unter Inanspruchnahme ihres unionsrechtlichen Aufenthaltsrechtes rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte. Durch seine Eheschließung komme dem Mitbeteiligten die Stellung eines „begünstigten Drittstaatsangehörigen“ im Sinne des § 2 Abs. 4 Z 11 FPG und damit potentiell ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zu.
9 Die mit Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides erlassene Rückkehrentscheidung habe somit aufgrund der zwischenzeitlich geänderten Verhältnisse keinen rechtlichen Bestand mehr, wodurch die rechtlich darauf aufbauenden Aussprüche über die Zulässigkeit der Abschiebung (Spruchpunkt V.) sowie die Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.) nach der näher angeführten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ebenfalls ihre Grundlage verlören. Der angefochtene Bescheid sei daher im spruchgemäßen Umfang aufzuheben gewesen. Im fortgesetzten Verfahren werde die belangte Behörde allenfalls das Vorliegen der Voraussetzungen für eine gegen den Mitbeteiligten gerichtete Ausweisung gemäß § 66 FPG zu prüfen haben.
10 Gegen Spruchpunkt A) II. dieses Erkenntnisses d.h. die Behebung des Bescheides des BFA im Umfang der Spruchpunkte IV., V. und VI. wendet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision, die zu ihrer Zulässigkeit geltend macht, das BVwG weiche von der (näher angeführten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungspflicht verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen ab, da es dem angefochtenen Erkenntnis keine konkreten Feststellungen zur rechtlichen Schlussfolgerung, der Ehefrau des Mitbeteiligten komme ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zu, zugrunde gelegt habe. Nähere Feststellungen und beweiswürdigende Ausführungen sowie eine rechtliche Auseinandersetzung mit der Vorfrage, ob die Ehefrau des Mitbeteiligten ihr unionsrechtliches Aufenthaltsrecht tatsächlich in Anspruch genommen habe, wären jedoch zur Nachvollziehbarkeit der Subsumtion von grundlegender Bedeutung, weshalb der Verfahrensfehler wesentlich sei.
11 Nach der (näher zitierten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hänge es von der tatsächlichen und effektiven Inanspruchnahme des Freizügigkeitsrechts durch einen EWR Bürger ab, ob der Ehepartner dieser Ankerperson begünstigter Drittstaatsangehöriger sei oder nicht. Dabei entfalte nicht jede auch noch so geringfügige Ausübung des Freizügigkeitsrechts Relevanz, sondern es sei erforderlich, dass die Ankerperson mit einer „gewissen Nachhaltigkeit“ von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht habe. Die tatsächliche und nachhaltige Verwirklichung eines unionsrechtlichen Freizügigkeitssachverhalts in Österreich durch die bulgarische Ehefrau des Mitbeteiligten als Ankerperson sei damit eine wesentliche Vorfrage für die Qualifikation des Mitbeteiligten als begünstigter Drittstaatsangehöriger. Von ihr hänge es nämlich ab, ob gegen den Mitbeteiligten eine Rückkehrentscheidung ergehen hätten dürfen oder (im Falle des Vorliegens sämtlicher Voraussetzungen des § 2 Abs. 4 Z 11 FPG) nicht. In diesem Zusammenhang hätte sich das BVwG jedenfalls mit der aktenkundigen Sachverhaltsdarstellung hinsichtlich des Verdachts der Aufenthaltsehe auseinandersetzen müssen, in welcher dargelegt worden sei, dass die Ehefrau des Mitbeteiligten bis dahin nicht gearbeitet habe und auch über keine Krankenversicherung verfügt habe. Ausgehend von diesen Tatsachen liege es nämlich nahe, dass die bulgarische Ehefrau als Ankerperson des Mitbeteiligten „von der nach der zitierten höchstgerichtlichen Rechtsprechung geforderten Nachhaltigkeit der Inanspruchnahme ihrer Freizügigkeit nicht Gebrauch gemacht“ habe.
12 Der Mitbeteiligte erstattete nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
13 Die Revision ist zulässig und begründet.
14 Nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 4 Z 11 FPG ist (unter anderem) der Ehegatte einer EWR Bürgerin, die ihr unionsrechtliches Aufenthaltsrecht in Anspruch genommen hat, ein begünstigter Drittstaatsangehöriger.
15 § 51 NAG regelt in Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie) Fälle der Freizügigkeit von EWR Bürgern aus anderen EWR Staaten, die ihr Recht auf Freizügigkeit in Anspruch nehmen und sich länger als drei Monate in Österreich aufhalten. Demnach sind gemäß § 51 Abs. 1 NAG auf Grund dieser Richtlinie EWR Bürger zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind (Z 1), für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, sodass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen (Z 2), oder als Hauptzweck ihres Aufenthalts eine Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung an einer öffentlichen Schule oder einer rechtlich anerkannten Privatschule oder Bildungseinrichtung absolvieren und die Voraussetzungen der Z 2 erfüllen (Z 3; vgl. VwGH 12.12.2017, Ra 2015/22/0149 unter Hinweis auf die Materialien zum Fremdenrechtspaket 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, ErläutRV 952 BlgNR 22. GP 141; siehe auch § 51 Abs. 2 NAG zu jenen Fällen, in denen die Erwerbstätigeneigenschaft als Arbeitnehmer oder Selbständiger gemäß Abs. 1 Z 1 leg. cit. dem EWR Bürger erhalten bleibt, obwohl keine Erwerbstätigkeit mehr ausgeübt wird).
16 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entfaltet wie die Amtsrevision zutreffend hervorhebt nicht jede auch noch so geringfügige Ausübung des Freizügigkeitsrechts Relevanz. Vielmehr ist es erforderlich, dass mit einer gewissen Nachhaltigkeit von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht wird. Was die Festlegung der Nachhaltigkeitsgrenze anlange, so liegt es nahe, auf die Rechtsprechung des EuGH zum Arbeitnehmerbegriff abzustellen. Der EuGH verlangt für die Qualifikation als Arbeitnehmer im Sinn von Art. 45 AEUV jenseits des Erfordernisses einer abhängigen Beschäftigung gegen Entgelt in einem anderen Mitgliedstaat einschränkend eine „tatsächliche und echte Tätigkeit“, die keinen so geringen Umfang hat, dass es sich um eine „völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit“ handelt. Dieser Maßstab lässt sich allgemein dergestalt auf alle Freizügigkeitsrechte übertragen, dass eine „tatsächliche und effektive“ Ausübung derselben vorliegen muss. In der erwähnten Rechtsprechung zum Arbeitnehmerbegriff hat der EuGH zum Ausdruck gebracht, dass die Höhe der Vergütung, die der Arbeitnehmer erhält, ebenso wenig von alleiniger Bedeutung ist wie das Ausmaß der Arbeitszeit und die Dauer des Dienstverhältnisses (vgl. z.B. VwGH 13.2.2024, Ra 2023/22/0030, mwN; in diesem Sinne auch VwGH 15.4.2020, Ra 2019/18/0270, mwN; sowie grundlegend VwGH 29.9.2011, 2009/21/0386).
17 Im Revisionsfall legte das BVwG seiner Annahme, die Ehefrau des Mitbeteiligten halte sich unter Inanspruchnahme ihres unionsrechtlichen Aufenthaltsrechtes rechtmäßig im Bundesgebiet auf, lediglich die Feststellung zugrunde, der Mitbeteiligte habe mit seiner (jetzigen) Ehefrau, einer bulgarischen Staatsbürgerin und damit EWR Bürgerin, eine Lebensgemeinschaft sowie einen gemeinsamen Haushalt begründet und sei mit dieser seit 9. November 2024 verheiratet.
18 Die Amtsrevision macht daher zurecht geltend, dass das angefochtene Erkenntnis keine Feststellungen enthält, die als Grundlage für die Annahme dienen könnten, die Ehefrau des Mitbeteiligten habe von ihrem Recht auf Freizügigkeit „tatsächlich und effektiv“ Gebrauch gemacht. Dies bildet aber nach den zuvor getroffenen Erwägungen bei Drittstaatsangehörigen, die Ehegatten von EWR Bürgern sind, die essentielle Voraussetzung für die Erlangung der Stellung als begünstigte Drittstaatsangehörige (in diesem Sinne bereits VwGH 21.12.2021, Ra 2020/21/0164, betreffend Drittstaatsangehörige, die Ehegatten von Österreichern sind).
19 Vor diesem Hintergrund erweist sich der vom BVwG ohne entsprechende Prüfung dieser Frage gezogene rechtliche Schluss, der Mitbeteiligte sei als begünstigter Drittstaatsangehöriger im Sinne des § 2 Abs. 4 Z 11 FPG zu qualifizieren, weshalb gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 FPG nicht erlassen werden dürfe, als unzutreffend.
20 Da somit die Begründung des BVwG die ersatzlose Behebung der Rückkehrentscheidung und der damit zusammenhängenden Aussprüche nicht zu tragen vermag, war das angefochtene Erkenntnis im angefochtenen Umfang [Spruchpunkt A) II.] vorrangig wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 9. Oktober 2025
Keine Verweise gefunden