JudikaturVwGH

Ra 2024/08/0136 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
01. April 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Lehofer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin sowie den Hofrat Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des Mag. A L in S, vertreten durch Mag. dipl.iur. Tanja Cukon, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Zelinkagasse 6, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Oktober 2024, L523 2283970 1/6Z, betreffend Aussetzung eines Beschwerdeverfahrens (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen; weitere Partei: Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Die Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen hat dem Revisionswerber den Schriftsatzaufwand in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das auf den Ersatz der Eingabegebühr gerichtete Kostenbegehren wird abgewiesen.

1 Mit Bescheid vom 18. Oktober 2023 sprach die Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen (SVS) aus, der Revisionswerber sei in den Zeiträumen vom 1. Jänner 2011 bis zum 31. Dezember 2011 sowie vom 1. Jänner 2013 bis zum 31. Dezember 2017 der Pflichtversicherung in der Kranken- und Pensionsversicherung nach dem GSVG sowie der Unfallversicherung nach dem ASVG unterlegen. Außerdem stellte die SVS für die genannten Zeiträume die monatlichen Beitragsgrundlagen in der Kranken- und Pensionsversicherung nach dem GSVG fest und schrieb die monatlichen Beiträge zur Pensions-, Kranken- und Unfallversicherung vor.

2 Das Verfahren über die gegen diesen Bescheid vom Revisionswerber erhobene Beschwerde setzte das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Beschluss gemäß § 38 AVG „bis zum Abschluss des beim Verfassungsgerichtshof zum Verfahren L523 2261984 1 eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahrens“ aus. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG erklärte das Bundesverwaltungsgericht für nicht zulässig.

3 In der Begründung hielt das Bundesverwaltungsgericht fest, beim ausgesetzten Beschwerdeverfahren einerseits und dem „Verfahren L523 2261984 1“ andererseits handle es sich um „Annex-Verfahren (identer Beschwerdeführer und idente belangte Behörde)“. In beiden Verfahren seien Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 18 Abs. 1 letzter Satz und des § 18 Abs. 4 letzter Satz Selbständigen Sozialversicherungsgesetz (SVSG) sowie des § 2 Abs. 1 Z 4 GSVG vorgebracht worden. Das Bundesverwaltungsgericht habe am 16. Oktober 2024 im Verfahren L523 2261984 1 den Beschluss gefasst, „dem Verfassungsgerichtshof die Frage der Verfassungsmäßigkeit og. Gesetzesbestimmungen vorzulegen“. Diese Frage sei auch für das vorliegende Verfahren präjudiziell.

4 Gegen diesen Beschluss wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens (eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet) in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

5 Die Revision, die zu ihrer Zulässigkeit insbesondere die Abweichung von näher dargestellter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen einer Aussetzung nach § 38 AVG geltend macht, ist zulässig und begründet.

6 Gemäß § 38 AVG ist die Behörde (und gegebenenfalls iVm § 17 VwGVG das Verwaltungsgericht), sofern die Gesetze nicht anderes bestimmen, berechtigt, im Ermittlungsverfahren auftauchende Vorfragen, die als Hauptfragen von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten zu entscheiden wären, nach der über die maßgebenden Verhältnisse gewonnenen eigenen Anschauung zu beurteilen und diese Beurteilung ihrem Bescheid zugrunde zu legen. Die Behörde (bzw. das Verwaltungsgericht) kann aber auch das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage aussetzen, wenn die Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Verwaltungsbehörde bzw. beim zuständigen Gericht bildet oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht wird.

7 Dass eine gleichartige, ähnliche Rechtsfrage in einem anderen Verfahren zu klären ist, bedeutet noch nicht, dass eine Vorfrage im Sinne des § 38 AVG vorliegt. Vielmehr ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unter einer Vorfrage im Sinne des § 38 AVG eine für die Entscheidung der Verwaltungsbehörde präjudizielle Rechtsfrage zu verstehen, über die als Hauptfrage von anderen Verwaltungsbehörden, von den Gerichten oder auch von derselben Behörde, jedoch in einem anderen Verfahren, zu entscheiden ist. Präjudiziell und damit Vorfragenentscheidung im verfahrensrechtlich relevanten Sinn ist nur eine Entscheidung, die erstens eine Rechtsfrage betrifft, deren Beantwortung für die Hauptfragenentscheidung unabdingbar, das heißt eine notwendige Grundlage ist, und zweitens diese in einer die Verwaltungsbehörde bindenden Weise regelt. Dass es sich bei der Vorfrage um eine Frage handeln muss, über die von der anderen Behörde als Hauptfrage zu entscheiden ist, ergibt sich daraus, dass der besondere prozessökonomische Sinn der Vorschrift des § 38 AVG nur dann erreicht werden kann, wenn die andere Entscheidung, deren Ergehen abgewartet wird, in der Folge die Behörde bindet, wobei eine solche Bindungswirkung jedoch immer nur eine Entscheidung über eine Hauptfrage entfaltet (vgl. VwGH 19.6.2024, Ro 2023/03/0141, mwN).

8 Der vom Bundesverwaltungsgericht aus Anlass eines Verfahrens über eine Beschwerde des Revisionswerbers gegen einen anderen Bescheid der SVS an den Verfassungsgerichtshof gestellte Antrag im Sinne des Art. 140 B VG mag sich auf gesetzliche Bestimmungen beziehen, die auch im vorliegenden Beschwerdeverfahren anzuwenden (und in diesem Sinne präjudiziell) sind. Ein anhängiges Normenprüfungsverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof stellt aber keinen Grund für eine Aussetzung iSd § 38 AVG dar (vgl. VwGH 17.3.2006, 2005/05/0247, mwN).

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat vielmehr zu vergleichbaren Konstellationen bereits festgehalten, dass die betroffene Partei gegebenenfalls um die Anlassfallwirkung der Aufhebung einer generellen Norm durch den Verfassungsgerichtshof gebracht würde, wenn der Verfassungsgerichtshof im Fall der Aufhebung einer (in diesem Sinne) präjudiziellen Bestimmung keinen Ausspruch über die Ausdehnung der Anlassfallwirkung tätigt. Bei Normbedenken hätte das Verwaltungsgericht daher nicht sein Verfahren nach § 38 AVG auszusetzen, sondern diese durch Stellung eines weiteren Normprüfungsantrages auch im vorliegenden Beschwerdeverfahren gemäß Art. 140 Abs. 1 Z 1 lit. a B VG selbst an den Verfassungsgerichtshof heranzutragen (vgl. VwGH 30.9.2021, Ra 2021/09/0174, mwN). Dies gilt selbst dann, wenn wie in den vorliegenden Beschwerdefällen Identität der betroffenen Parteien gegeben ist (vgl. VwGH 28.3.2011, 2011/17/0015).

10 Der angefochtene Beschluss war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

11 Die Kostenentscheidung gründet auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014. Der Revisionswerber hat einen allgemeinen Antrag auf „pauschalen Ersatz der Kosten der Revision (Schriftsatzaufwand und Gebühren)“ gestellt. Dieser war im Hinblick auf den Ersatz der „Gebühren“ wegen der sachlichen Gebührenfreiheit (§ 12 SVSG) abzuweisen.

Wien, am 1. April 2025

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