JudikaturVwGH

Ra 2023/20/0308 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
14. Dezember 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel, den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Rossmeisel als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Herrmann Preschnofsky, über die Revision des A A in W, vertreten durch Mag. Ludwig Redtensteiner, Rechtsanwalt in 3340 Waidhofen an der Ybbs, Unterer Stadtplatz 27, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. März 2023, W103 2218667 1/43E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

I. zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird in den Aussprüchen über die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbotes, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung sowie die Festlegung einer Frist für die freiwillige Ausreise wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

II. den Beschluss gefasst:

Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

1 Der im Jahr 1988 geborene Revisionswerber, ein aus Tschetschenien stammender russischer Staatsangehöriger, hält sich seit Juli 2003 im Bundesgebiet auf. Im August 2004 wurde ihm aufgrund eines von ihm gestellten Asylantrags vom (damals zuständigen) Bundesasylamt nach den früheren Bestimmungen des Asylgesetzes 1997 durch Erstreckung abgeleitet von seiner Mutter Asyl gewährt.

2 Ab dem 1. Jänner 2006 dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Asylgesetzes 2005 AsylG 2005 (§ 73 Abs. 1 AsylG 2005) galt dem Revisionswerber gemäß § 75 Abs. 5 Asyl 2005 der Status des Asylberechtigten als zuerkannt.

3 Der Revisionswerber wurde in Österreich straffällig und mehrfach rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt.

4 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sprach mit Bescheid vom 25. März 2019 aus, dass dem Revisionswerber der ihm mit Bescheid vom 11. August 2004 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 festgestellt werde, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme. Unter einem wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 nicht zuerkannt, ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gegen ihn gestützt auf § 52 Abs. 2 Z 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 und § 9 BFA Verfahrensgesetz (BFA VG) eine Rückkehrentscheidung sowie gemäß § 53 Abs. 1 und Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen, gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, und die Frist für die freiwillige Ausreise nach § 55 Abs. 1 bis Abs. 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt.

5 Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht, das von der Durchführung der vom Revisionswerber beantragten Verhandlung Abstand genommen hatte, als unbegründet abgewiesen. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

6 Das Bundesverwaltungsgericht legte die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision samt den Verfahrensakten dem Verwaltungsgerichtshof vor. Vom Verwaltungsgerichtshof wurde das Vorverfahren eingeleitet. Es wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:

8 Die Revision erweist sich teilweise und zwar in Bezug auf die Erlassung einer Rückkehrentscheidung sowie die rechtlich davon abhängenden Aussprüche als zulässig und begründet.

9 Zur Zurückweisung:

10 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

11 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist gemäß § 34 Abs. 3 VwGG in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.

12 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

13 Zu jenen Aussprüchen, mit denen dem Revisionswerber der Status des Asylberechtigten aberkannt, ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt und ihm ein Aufenthaltstitel nach § 57 AsylG 2005 von Amts wegen nicht erteilt wurde, enthält die Revision überhaupt kein Vorbringen.

14 Somit werden in der Revision in Bezug auf diese Aussprüche keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Soweit (bloß formal) auch diese Aussprüche angefochten wurden, war die Revision sohin gemäß § 34 Abs. 1 und Abs. 3 VwGG zurückzuweisen.

15 Zur Aufhebung:

16 Der Revisionswerber macht geltend, dass das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen sei, weil es die im Erkenntnis vom 15. Dezember 2021, Ra 2021/20/0372, aufgestellten Leitlinien zur Interessenabwägung bei Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen gegen Fremde, die auf Grund des ihnen früher zuerkannten Status des Asylberechtigten langjährig niedergelassen waren, missachtet habe. Die strafbaren Handlungen seien auf die Drogenabhängigkeit des Revisionswerbers zurückzuführen gewesen. Er habe sich aber einer „gesundheitsbezogenen Maßnahme“ unterzogen und sei nicht mehr drogenabhängig. Er sei zudem erwerbstätig. Es seien daher keine weiteren Straftaten mehr zu erwarten. Es gehe von ihm keine Gefahr mehr aus.

17 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass bei Erlassung einer auf § 52 Abs. 2 Z 3 FPG gestützten Rückkehrentscheidung gegen einen Fremden, dem bis dahin von Gesetzes wegen ein Aufenthaltsrecht aufgrund des ihm zuvor zuerkannten Status als Asylberechtigten zugekommen ist, im Rahmen der nach § 9 Abs. 1 BFA VG vorzunehmenden Beurteilung (auch) auf die Wertungen Bedacht zu nehmen ist, die sich aus jenen Vorschriften ergeben, nach denen eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nach langjähriger rechtmäßiger Niederlassung in Österreich für nicht zulässig erklärt oder an besondere Voraussetzungen geknüpft wird (vgl. VwGH 15.12.2021, Ra 2021/20/0372; dem folgend etwa VwGH 27.6.2023, Ra 2023/20/0094).

18 Aus den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts ergibt sich, dass die vom Bundesverwaltungsgericht als maßgeblich herangezogenen Straftaten des Revisionswerbers zu einer Zeit gesetzt wurden, als er bereits mehr als zehn Jahre im Bundesgebiet aufgrund des ihm zuerkannten Status des Asylberechtigten rechtmäßig niedergelassen war.

19 Im vorliegenden Fall war es ausgehend von den bisherigen Feststellungen jedenfalls geboten, im Rahmen der Interessenabwägung zu prüfen, ob durch den Aufenthalt des Revisionswerbers im Bundesgebiet eine Gefährdung im Sinn der in § 52 Abs. 5 FPG genannten Voraussetzungen vorliegt, ob also die Annahme gerechtfertigt ist, dass der weitere Aufenthalt des Revisionswerbers eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde (vgl. VwGH 15.12.2021, Ra 2021/20/0328, dort auch mit dem Hinweis zu den in VwGH 7.10.2021, Ra 2020/21/0363, enthaltenen Ausführungen zum mit § 52 Abs. 5 FPG festgelegten Gefährdungsmaßstab; vgl. weiters nochmals VwGH Ra 2023/20/0094).

20 Eine solche Prüfung hat das Bundesverwaltungsgericht aber auch bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Erlassung des Einreiseverbots nicht vorgenommen.

21 Der Verwaltungsgerichtshof hat zudem in seiner Rechtsprechung dargelegt, dass ungeachtet des Außerkrafttretens des (mit dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2018, BGBl. I Nr. 56, mit Ablauf des 31. August 2018 aufgehobenen) § 9 Abs. 4 BFA VG die Wertungen dieser ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG weiter beachtlich sind, ohne dass es aber einer ins Detail gehenden Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Anwendung des ehemaligen § 9 Abs. 4 BFA VG bedarf. Es ist also weiterhin darauf Bedacht zu nehmen, dass für die Fälle des früheren § 9 Abs. 4 BFA VG allgemein unterstellt wurde, diesfalls habe die Interessenabwägung trotz einer vom Fremden ausgehenden Gefährdung regelmäßig zu seinen Gunsten auszugehen und eine aufenthaltsbeendende Maßnahme dürfe in diesen Konstellationen grundsätzlich nicht erlassen werden. Durch die Aufhebung dieser Bestimmung wollte der Gesetzgeber (angesichts der diesbezüglichen Materialien) erkennbar nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen einen fallbezogenen Spielraum einräumen. Dazu zählen jedenfalls die schon bisher in § 9 Abs. 4 Z 1 BFA VG normierten Ausnahmen bei Erfüllung der Einreiseverbotstatbestände nach den Z 6, 7 und 8 des § 53 Abs. 3 FPG, aber auch andere Formen gravierender Straffälligkeit (vgl. auch dazu VwGH 15.12.2021, Ra 2021/20/0328; 27.6.2023, Ra 2023/20/0094).

22 Die bisher vom Bundesverwaltungsgericht getroffenen Feststellungen und getätigten Ausführungen, im Besonderen zur Dauer des als rechtmäßig niedergelassen einzustufenden Aufenthalts des Revisionswerbers sowie zu den Zeitpunkten der vom Bundesverwaltungsgericht als entscheidungserheblich eingestuften Straftaten, legen nun nahe, dass im Fall des Revisionswerbers überdies auch diese Prüfung, ob also die Begehung besonders verwerflicher Straftaten und eine daraus abzuleitende spezifische Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen vorliegt, vorzunehmen gewesen wäre.

23 Das Bundesverwaltungsgericht hat sohin in Verkennung der Rechtslage bei Erlassung der Rückkehrentscheidung im Rahmen der Interessenabwägung nicht geprüft, ob vom Revisionswerber eine solche im Gesetz zum Ausdruck kommende Gefahr ausgeht, die es nach so langem rechtmäßigen als Niederlassung einzustufenden Aufenthalt noch erlaubt, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen. Infolge dessen hat es auch die dafür erforderlichen (umfänglichen) Feststellungen nicht getroffen.

24 Da sich der Sachverhalt als unvollständig erhoben präsentiert und mithin in für die Entscheidung wesentlicher Weise einer Ergänzung bedarf, stellt es sich auch als rechtswidrig dar, dass das Bundesverwaltungsgericht von der Durchführung einer Verhandlung Abstand genommen hat (vgl. zu den Voraussetzungen des hier maßgeblichen ersten Falles des § 21 Abs. 7 erster Satz BFA VG ausführlich VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018). Es sei in diesem Zusammenhang im Übrigen erwähnt, dass der Revisionswerber auch die Richtigkeit der Annahme des Bundesverwaltungsgerichts bestreitet, er sei immer noch suchtmittelabhängig. Dass fallbezogen Gründe vorhanden gewesen wären, wonach das Verwaltungsgericht im Zeitpunkt der Erlassung seiner Entscheidung vom 9. März 2023 mit gutem Grund davon hätte ausgehen dürfen, dass der von der Behörde im Bescheid vom 25. März 2019 festgestellte Sachverhalt in Bezug auf die persönlichen Verhältnisse des Revisionswerbers trotz der langen Dauer des Beschwerdeverfahrens von 4 Jahren immer noch die für die Entscheidung gebotene Aktualität aufgewiesen hätte, ist nicht zu sehen (vgl. VwGH 10.9.2013, 2013/18/0068, in diesem Fall wurde vom Verwaltungsgerichtshof gleichfalls ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es im Hinblick auf die Dauer des [damals] Berufungsverfahrens von etwas mehr als vier Jahren und drei Monaten zur Verbreiterung der Entscheidungsgrundlage geboten gewesen wäre, dem betroffenen Fremden vor Erlassung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme Gelegenheit zu geben, etwaige für die Gefährdungsprognose und den persönlichen Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet maßgebliche Änderungen seiner aktuellen Situation vorzutragen).

25 Das angefochtene Erkenntnis war daher im Ausspruch über die Erlassung einer Rückkehrentscheidung wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat aufzuheben. Damit verlieren die davon rechtlich abhängenden Aussprüche ihre Grundlage, weshalb auch diese aus dem selben Grund der Aufhebung zu verfallen hatten.

26 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1 und Z 4 VwGG abgesehen werden.

27 Die Zuerkennung von Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff, insbesondere § 50 VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 14. Dezember 2023

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