Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr. in Oswald sowie den Hofrat Mag. M. Mayr als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Herrmann Preschnofsky, über die Revision des I K, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Goldschmiedgasse 6/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. April 2023, W156 2261093 1/12E, betreffend Abweisung einer Säumnisbeschwerde in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der aus Syrien stammende Revisionswerber stellte nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 16. November 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Das Asylverfahren wurde am 17. November 2021 im Sinn des § 28 AsylG 2005 zugelassen.
2 Da das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Entscheidung über diesen Antrag nicht innerhalb von sechs Monaten erlassen hatte, brachte der Revisionswerber am 28. September 2022 eine Säumnisbeschwerde ein, die von der Behörde mit Schreiben vom 14. Oktober 2022 dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt wurde. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies unter einem darauf hin, dass es ihm nicht möglich sei, vor dem Ende des ersten Quartales des Jahres 2023 eine Entscheidung über den vom Revisionswerber gestellten Antrag zu fällen. Eine Begründung dafür ist im Schreiben vom 14. Oktober 2022 nicht enthalten.
3 Mit verfahrensleitender Anordnung vom 21. Dezember 2022 forderte das Bundesverwaltungsgericht das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl auf, diverse Fragen zwecks Schaffung einer Entscheidungsgrundlage für die Beurteilung des Verschuldens an der Verzögerung betreffend die Entscheidung über den vom Revisionswerber gestellten Antrag zu beantworten. Daraufhin übersendete die Behörde dem Verwaltungsgericht die Stellungnahme vom 31. Jänner 2023. Weiters langte beim Bundesverwaltungsgericht eine vom Bundesministerium für Inneres mit Schreiben vom 28. Februar 2023 erstattete Stellungnahme ein. Diese Stellungnahmen wurden in der Folge dem Revisionswerber zur Kenntnis gebracht und ihm die Gelegenheit eingeräumt, sich dazu zu äußern.
4 Davon machte der Revisionswerber mit Schriftsatz vom 28. März 2023 Gebrauch. Er erstattete damit (u.a.) auch sachverhaltsbezogenes Vorbringen und darauf bezogene Beweisanbote. Weiters beantragte er zur Klärung des maßgeblichen Sachverhalts die Durchführung einer Verhandlung.
5 In der Folge wies das Bundesverwaltungsgericht, ohne weitere Verfahrensschritte zu setzen, die Säumnisbeschwerde mit dem angefochtenen Erkenntnis gemäß § 8 Abs. 1 letzter Satz VwGVG ab. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
6 Das Bundesverwaltungsgericht gelangte zum Ergebnis, dass im Sinn des § 8 Abs. 1 VwGVG die Verzögerung an der Entscheidung über den vom Revisionswerber gestellten Antrag nicht auf ein überwiegendes Verschulden des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl zurückzuführen sei. Es führte aus, dass in den Jahren 2021 und 2022 solche exzeptionelle Verhältnisse gegeben gewesen seien, die jenen vergleichbar seien, wie sie in den Jahren 2015 und 2016 geherrscht hätten. Der Verwaltungsgerichtshof sei davon ausgegangen, dass wegen der damaligen extrem hohen Zahl von innerhalb kurzer Zeit anhängig gewordenen Verfahren sowie der damals gegebenen Rahmenbedingungen samt der (personellen) Ausstattung des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl eine extreme Belastungssituation gegeben gewesen sei, die sich in ihrer Exzeptionalität von sonst allenfalls bei (anderen) Behörden auftretenden, herkömmlichen Überlastungszuständen ihrem Wesen nach und somit grundlegend unterschieden habe. „Im Ergebnis seien nach Ansicht des VwGH mit dieser außergewöhnlichen Belastungssituation im Rahmen der Verschuldensbeurteilung hinreichende Gründe für das Vorliegen unüberwindlicher Hindernisse dargelegt worden und die Verletzung der sechsmonatigen Entscheidungsfrist alleine auf diese Belastungssituation zurückzuführen gewesen“. Die zur Situation in den Jahren 2015 und 2016 ergangenen Entscheidungen seien auf die im hier maßgeblichen Zeitraum gegebene Situation übertragbar.
7 Zum Entfall der Verhandlung merkte das Bundesverwaltungsgericht an, der EGMR habe das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, unter denen eine Verhandlung unterbleiben dürfe, angenommen, wenn das Verfahren ausschließlich rechtliche oder „hoch-technische Fragen“ betreffe, und im Zusammenhang mit Verfahren betreffend „ziemlich technische Angelegenheiten“ auch auf das Bedürfnis der nationalen Behörden nach zweckmäßiger und wirtschaftlicher Vorgangsweise, das angesichts der sonstigen Umstände des Falles zum Absehen von einer mündlichen Verhandlung berechtige, hingewiesen. Gemäß § 24 Abs. 1 und Abs. 4 VwGVG habe die Verhandlung hier entfallen können, weil der Sachverhalt aufgrund der Aktenlage geklärt gewesen sei. Auf die Bestimmung des § 24 Abs. 2 Z 2 VwGVG nahm das Verwaltungsgericht nicht Bezug.
8 Den Ausspruch über die Unzulässigkeit der Erhebung einer Revision begründete das Bundesverwaltungsgericht (lediglich) damit, dass die Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht gegeben seien.
9 Die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision wurde samt den Verfahrensakten vom Bundesverwaltungsgericht dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt. Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision das Vorverfahren eingeleitet. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:
11 Der Revisionswerber wendet sich in der Begründung für die Zulässigkeit der Revision gegen die Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, die Verzögerung sei nicht auf ein überwiegendes Verschulden der Behörde zurückzuführen. Weiters macht er geltend, dass dem Bundesverwaltungsgericht gravierende Verfahrensfehler unterlaufen seien und es deshalb für die Entscheidung wesentliche Feststellungen nicht getroffen habe. Auch der Entfall der beantragten Verhandlung sei rechtswidrig.
12 Die Revision ist zulässig und begründet.
13 Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass im hier relevanten Zeitraum der Jahre 2021 und 2022 eine Situation vorgelegen sei, wie sie im Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 24. Mai 2016, Ro 2016/01/0001 bis 0004, für die Jahre 2015 und 2016 beschrieben wurde. Nach den in diesem Erkenntnis getätigten Ausführungen war damals das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit einem spätestens im Jahr 2015 in voller Intensität einsetzenden als massenhaft zu bezeichnenden Neuanfall an Asylverfahren sowie mit einer außergewöhnlich hohen Gesamtzahl an offenen Asyl- und Fremdenrechtsangelegenheiten konfrontiert. In einem Zeitraum von acht Monaten stiegen die monatlichen Antragszahlen um 318%. Diese für die Behörde bisher nie dagewesene und sohin völlig unerwartet aufgetretene Situation veranlasste den Gesetzgeber zur (vorübergehenden) Verlängerung der Entscheidungsfristen sowohl für das Verfahren vor der Behörde als auch dem Bundesverwaltungsgericht. Weiters wurde aufgrund der Ereignisse in den Jahren 2015 und 2016 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl eine Personalaufstockung in nicht bloß geringer Zahl vorgenommen.
14 Dass eine der damaligen Ausgangssituation vergleichbare Lage nun auch im hier maßgeblichen Zeitraum vorgelegen wäre, kann anhand der Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht nachvollzogen werden. Dass es der Gesetzgeber auch unter den zu dieser Zeit sich dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl darbietenden Ausgangsvoraussetzungen für erforderlich erachtet hätte, die Entscheidungsfristen zu verlängern, um einer Belastungssituation zu begegnen, die sich in ihrer Exzeptionalität von sonst allenfalls bei Behörden auftretenden, herkömmlichen Überlastungszuständen ihrem Wesen nach, und sohin grundlegend, unterschieden hätte, ist nicht zu sehen. Das blendet das Bundesverwaltungsgericht in seinen Überlegungen völlig aus. Es mag sein, dass die im hier fraglichen Zeitraum bestehende Situation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl aufgrund der ihm zur Vollziehung zugewiesenen Verfahrensmaterien sich mit jener Lage, in der sich andere Behörden üblicherweise befinden, nicht vergleichbar ist. Das trifft aber in diesem Rechtsbereich wie sich aus den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts ergibt schon auf den regelmäßigen Dienstbetrieb dieser Behörde zu. Anders als früher rechnete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aber auch selbst mit wiederkehrend erhöhten Antragszahlen. Den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts zufolge stellte diese Behörde bereits im Jahr 2019 Überlegungen zur Arbeitsbewältigung im Fall eines zukünftigen starken (Wieder-)Anstiegs der Asylantragszahlen an und setzte sich im Jahr 2021 in diesem Zusammenhang „einen flexiblen Personaleinsatz als wesentliches Ziel“. Weiters konstatierte das Bundesverwaltungsgericht dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Rahmen der Feststellungen, die Entscheidungsfristen bis zum vierten Quartal 2021 im Regelfall eingehalten zu haben. Das Verwaltungsgericht stellte nämlich fest, dass die durchschnittliche Erledigungsdauer dieser Behörde zu dieser Zeit etwa vier Monate betragen habe.
15 Vor diesem Hintergrund greift es zu kurz, wenn das Bundesverwaltungsgericht in seinen Überlegungen in zentraler Weise bloß auf die hohe Zahl der in den Jahren 2021 und 2022 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gestellten Anträge und die aber gegenüber der aufgrund der Ereignisse der Jahre 2015 und 2016 erfolgten massiven Aufstockung des beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl tätigen Personals bloß geringe Fluktuation in dessen Personalstand abstellt. Es ist zwar anzuerkennen, dass die Behörde Maßnahmen verfolgt hat, um den Einsatz des bei ihr tätigen Personals effizient zu gestalten. Dennoch kann aus den vom Bundesverwaltungsgericht getroffenen Feststellungen nicht abgeleitet werden, dass die im hier maßgeblichen Zeitraum sich darbietende Lage im Besonderen vor dem Hintergrund der anderen Ausgangssituation jene Exzeptionalität aufgewiesen hätte, die im Fall des oben erwähnten Erkenntnisses Ro 2016/01/0001 bis 0004 gegeben war.
16 Dass auf den konkreten Einzelfall bezogene, vom Revisionswerber zu vertretende Gründe vorhanden gewesen wären, wonach die Verzögerung an der Entscheidung über den von ihm gestellten Antrag gerechtfertigt gewesen wäre, wurde vom Bundesverwaltungsgericht selbst verneint.
17 Somit steht der vom Bundesverwaltungsgericht aus seinen Feststellungen gezogene Schluss, die Behörde treffe im Sinn des § 8 Abs. 1 VwGVG an der Säumnis kein überwiegendes Verschulden, nicht mit dem Gesetz im Einklang.
18 Infolge dessen war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben. Auf das weitere Vorbringen in der Revision war nicht mehr einzugehen.
19 Die Zuerkennung von Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
20 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 5 und Z 6 VwGG abgesehen werden.
Wien, am 20. Dezember 2023