Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Funk Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Salama, über die Revision des A A, vertreten durch DDr. Rainer Lukits, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf Dietrich Straße 19/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Mai 2022, W107 2179147 1/52E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 14. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er zusammengefasst damit begründete, dass er bei den afghanischen Sicherheitskräften Kommandant gewesen sei und im Innenministerium Bürotätigkeiten ausgeführt habe. Bei einer Rückkehr befürchte er, von den Taliban verfolgt zu werden.
2 Mit Erkenntnis vom 11. August 2021 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diesen Antrag nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Beschwerdeverfahren ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
3 Dieses Erkenntnis des BVwG wurde mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 15. November 2021, Ra 2021/20/0373, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben. Dem Erkenntnis des BVwG sei nicht einwandfrei zu entnehmen gewesen, ob der Revisionswerber überhaupt und gegebenenfalls in welcher Position als Polizist in seinem Heimatland tätig gewesen sei. Das BVwG habe es auch unterlassen, ausreichend aktuelle Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat des Revisionswerbers zu treffen.
4 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 11. Mai 2022 wies das BVwG ohne Durchführung einer erneuten mündlichen Verhandlung die Beschwerde hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten ab, erkannte dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu, erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung und behob die übrigen Spruchpunkte des angefochtenen Bescheides ersatzlos. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
5 Das BVwG stellte soweit für das vorliegende Revisionsverfahren von Relevanz fest, dass der Revisionswerber ab dem Alter von achtzehn Jahren im Innenministerium Bürotätigkeiten für circa zwölf bis neunzehn Monate ausgeführt habe. Er sei für reine Verwaltungsangelegenheiten und in der Abteilung für Logistik tätig gewesen. Dem Revisionswerber sei ein staatliches Grundstück in Kabul zugewiesen worden, auf dem er ein Haus errichtet und dort während seines Verwaltungsdienstes im Innenministerium für zwei Jahre gewohnt habe.
6 In der rechtlichen Beurteilung führte das BVwG aus, dass der Revisionswerber aufgrund der Bürotätigkeit nicht unter ein besonderes Risikoprofil, welches eine wohlbegründete Furcht im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention begründe, falle. In der Länderinformation werde ausgeführt, dass über zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte bislang keine fundierten Erkenntnisse vorliegen würden. Zum Verhältnis zu den bisherigen Streitkräften sei zu sagen, dass Angaben des amtierenden Oberbefehlshabers der Taliban zufolge die Taliban den Aufbau einer regulären Armee unter Einbeziehung bisheriger Sicherheitskräfte, deren gute Ausbildung man nutzen wolle, planen würde. Der Revisionswerber gehöre damit jedenfalls keiner Gruppe an, die von den Taliban gezielte Repressionen zu befürchten habe.
7 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der die Behandlung der Beschwerde mit Beschluss vom 28. Juni 2023, E 1612/2022 5, ablehnte und sie an den Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die daraufhin erhobene Revision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Die Revision wendet sich ausschließlich gegen den Spruchpunkt A) I. des angefochtenen Erkenntnisses, mit dem das BVwG den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigen im Beschwerdeverfahren abgewiesen hat. Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit u.a. vor, die Annahme des BVwG, dass dem Revisionswerber auf Grundlage der Länderberichte im Falle einer Rückkehr keine Verfolgung drohen würde, übergehe die getroffenen Länderfeststellungen, aus denen eine hohe Gefahr für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der ehemaligen afghanischen Regierung hervorgehe. Hätte das BVwG seine eigens getroffenen Länderfeststellungen bei der weiteren Beurteilung berücksichtigt, wäre es zum Ergebnis gelangt, dass dem Revisionswerber wegen seiner festgestellten Tätigkeit für das afghanische Innenministerium im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan die maßgebliche Gefahr einer Verfolgung durch die Taliban aufgrund seiner (tatsächlichen und unterstellten) talibanfeindlichen politischen Gesinnung drohe.
10 Die Revision ist zulässig und auch begründet.
11 Um den Status eines Asylberechtigten zu erhalten, muss nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dem Revisionswerber bei Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohen. Die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 3.8.2020, Ra 2020/20/0034, mwN).
12 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Erkenntnisses geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. VwGH 29.6.2023, Ra 2021/19/0460, mwN).
13 Das BVwG führte in seinen rechtlichen Erwägungen aus, der Revisionswerber sei im Innenministerium in Kabul für Verwaltungsangelegenheiten im Bereich der Logistik zuständig gewesen und habe seine Tätigkeit ausschließlich im Büro des Innenministeriums ausgeübt. Aufgrund dieser „Bürotätigkeit“ falle der Revisionswerber nicht unter ein besonderes Risikoprofil, welches eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung begründe. In der Länderinformation werde hiezu ausgeführt, dass über zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte bislang keine fundierten Erkenntnisse vorliegen würden.
14 Die Revision zeigt zutreffend auf, dass das BVwG mit diesen Ausführungen die in dem angefochtenen Erkenntnis getroffenen Länderfeststellungen, nach denen die Taliban in vielen Städten u.a. nach ehemaligen Beamten der früheren Regierung oder deren Familienangehörigen suchen, diese bedrohen und manchmal festnehmen oder hinrichten würden, begründungslos übergeht. Auch mit jenen Länderfeststellungen, nach denen die Taliban auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und diese bedrohten, hat sich das BVwG nicht auseinandergesetzt. Diese Länderberichte stehen mit der Einschätzung des BVwG, wonach der Revisionswerber keiner Gruppe angehöre, die von den Taliban gezielte Repressionen zu befürchten habe und eine individuelle Verfolgung des Revisionswerbers aus asylrelevanten Gründen nicht maßgeblich wahrscheinlich erscheine, in Widerspruch.
15 Das angefochtene Erkenntnis war schon im Hinblick auf die dargelegten für den Ausgang des Verfahrens relevanten Begründungsmängel gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
16 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
17 Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 28. Februar 2024