Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Vonier, über die Revision der H H, vertreten durch Mag. Ralf Niederhammer, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hahngasse 25/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. April 2023, L519 2269591 1/3E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Die im September 2021 in Österreich geborene minderjährige Revisionswerberin ist wie ihre Eltern Staatsangehörige des Irak. Ihre Mutter stellte im Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, der im Beschwerdeweg mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 25. November 2022 verbunden mit einer Rückkehrentscheidung zur Gänze abgewiesen wurde, wobei ihre Rückkehrbefürchtung, von ihrer Familie getötet zu werden, weil sie ohne deren Einwilligung geheiratet habe, nicht als glaubwürdig erachtet wurde.
2 Bereits vor dem rechtskräftigen Abschluss dieses Verfahrens hatte die Mutter der Revisionswerberin am 17. November 2021 als gesetzliche Vertreterin für ihre Tochter einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, den sie damit begründete, dass sie von ihrem mittlerweile in den Irak zurückgekehrten Ehemann noch nicht geschieden worden und ihre nach dessen Heimkehr geborene Tochter ein uneheliches Kind sei. Aufgrund dieses Umstands würden sie und ihre Tochter bei einer Rückkehr in den Irak von ihrem Stamm getötet werden.
3 Dem Vater der Revisionswerberin (und Lebensgefährten ihrer Mutter) war nach teilweiser Zurückziehung seiner Beschwerde gegen die Abweisung seines Antrags auf internationalen Schutz mit dem am 17. Februar 2020 mündlich verkündeten und mit 3. März 2020 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis des BVwG zunächst eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 und in der Folge von der Niederlassungsbehörde eine „Rot Weiß Rot Karte plus“ erteilt worden.
4 Mit Bescheid vom 21. Februar 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag der Revisionswerberin ab, erteilte ihr keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte ohne Nennung eines Zielstaats fest, dass ihre Abschiebung zulässig sei, und legte die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest. Beweiswürdigend führte das BFA aus, dass die von der Mutter für die Revisionswerberin geltend gemachten Rückkehrbefürchtungen „auf den gleichen Tatsachen“, die bereits im negativ abgeschlossenen Asylverfahren der Mutter vorgebracht worden seien, beruhen würden.
5 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das BVwG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
7 Die Revision bringt zur Darlegung ihrer Zulässigkeit mit näherer Begründung unter anderem vor, das BVwG habe entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen. Außerdem sei das BVwG von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungspflicht abgewichen.
8 Aus diesen Gründen ist die Revision zulässig und auch begründet.
9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein Absehen von der mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA VG dann gerechtfertigt, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet worden sein, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. VwGH 9.10.2023, Ra 2023/19/0197, mwN).
10 Diesen Grundsätzen hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht entsprochen:
11 Wie bereits in der Beschwerde aufgezeigt wurde, hatte sich das BFA mit der geltend gemachten Rückkehrbefürchtung, dass die Revisionswerberin als uneheliches Kind gefährdet sei, nicht auseinandergesetzt. Das BVwG erachtete dieses Vorbringen in seiner Beweiswürdigung mit näherer Begründung als unglaubwürdig und unterzog damit den zentralen Aspekt des Antragsvorbringens erstmals einer Würdigung. Diese nicht bloß unwesentliche Ergänzung der Beweiswürdigung des BFA schließt schon für sich genommen den Entfall der beantragten Verhandlung aus (vgl. VwGH 6.10.2023, Ra 2023/19/0279, mwN).
12 Wie die Revision überdies zutreffend ausführt, konnte das BVwG auch im Hinblick auf die Frage der Zulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung nicht von einem geklärten Sachverhalt ausgehen:
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA VG vorzunehmenden Interessenabwägung betont (vgl. VwGH 6.10.2020, Ra 2019/19/0332, mwN). Ein Kind hat grundsätzlich Anspruch auf „verlässliche Kontakte“ zu beiden Elternteilen (vgl. VwGH 25.1.2022, Ra 2021/19/0146 bis 0149, mwN). In diesem Zusammenhang hat der Verwaltungsgerichtshof auch ausgesprochen, dass die Aufrechterhaltung des Kontaktes mittels moderner Kommunikationsmittel mit einem Kleinkind kaum möglich ist und dem Vater eines Kindes (und umgekehrt) grundsätzlich das Recht auf persönlichen Kontakt zukommt. Der Verweis auf die Kontaktmöglichkeiten via soziale Medien vermag daher nicht dem Interesse der Kinder an einem stabilen Kontakt zum Vater Rechnung zu tragen (vgl. erneut VwGH Ra 2021/19/0146 bis 0149).
14 Demgemäß kam für die Interessenabwägung nach § 9 BFA VG im vorliegenden Fall der Frage, ob das gemeinsame Familienleben der Revisionswerberin und ihrer Eltern im Herkunftsstaat fortgeführt werden könnte, maßgebliche Bedeutung zu. Das BVwG ging zwar von der Fortsetzung des Familienlebens im Irak aus, begründete diese Annahme jedoch lediglich mit dem Hinweis auf den rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens der Mutter der Revisionswerberin sowie ferner damit, ihr Vater habe vor dem BVwG bekannt gegeben, dass er „selbstverständlich“ die Revisionswerberin und deren Mutter in den Irak „freiwillig“ begleiten werde. Dies greift schon deshalb zu kurz, weil sich das BVwG offensichtlich auf eine Aussage des Vaters der Revisionswerberin als Zeuge im Verfahren ihrer Mutter in der Verhandlung vom 29. November 2021 bezog, die somit im Zeitpunkt des angefochtenen Erkenntnisses bereits längere Zeit zurücklag und im Übrigen die Annahme des BVwG in dieser Form auch nicht zu stützen vermochte (S. 14 der Niederschrift: „Ja, sicher. Ich habe aber selbst Probleme. Wenn Sie das so entscheiden würden, dann schicken Sie uns in den Tod...“). Zudem betonte auch die Mutter der Revisionswerberin in ihrer Einvernahme vor dem BFA im gegenständlichen Verfahren, dass ihr Lebensgefährte nicht in den Irak wolle.
15 Unter diesen Umständen konnte von einem geklärten Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA VG keine Rede sein, weshalb die oben dargestellten Voraussetzungen für die Abstandnahme von der Durchführung einer Verhandlung nicht vorlagen.
16 Im Hinblick auf eine im fortgesetzten Verfahren allenfalls erforderliche Prüfung der Auswirkungen einer Rückkehrentscheidung auf das Familienleben der Revisionswerberin ist darauf hinzuweisen, dass die Annahme der Führung eines gemeinsamen Familienlebens im Herkunftsstaat eine ausreichende Auseinandersetzung mit der Frage voraussetzt, ob es für den im Bundesgebiet aufenthaltsberechtigten Elternteil nicht nur möglich, sondern auch zumutbar ist, die anderen Familienmitglieder in ihre Heimat zu begleiten (vgl. erneut VwGH Ra 2019/19/0332, mwN).
17 Daher war das Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben. Auf die weiteren in der Revision geltend gemachten Begründungsmängel braucht bei diesem Ergebnis nicht mehr eingegangen zu werden.
18 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 29. Dezember 2023