Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Lehofer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin sowie den Hofrat Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des N R in W, vertreten durch die Jirovec Partner RechtsanwaltsGesmbH in 1010 Wien, Bauernmarkt 24, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Juni 2023, W198 2230217 1/57E, betreffend Zurückweisung einer Beschwerde wegen Verspätung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen; weitere Partei: Bundesministerin für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Die Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.
1 Mit Bescheid vom 13. Februar 2020 sprach die Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen (im Folgenden: SVS) aus, dass der Revisionswerber verpflichtet sei, einen noch offenen Betrag an rückständigen Sozialversicherungsbeiträgen samt Verzugszinsen und Nebengebühren zu zahlen. Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde.
2 Zur weiteren Vorgeschichte wird auf das hg. Erkenntnis vom 24. November 2022, Ra 2021/08/0053, verwiesen, mit dem der Verwaltungsgerichtshof einen die Beschwerde des Revisionswerbers als verspätet zurückweisenden Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben hatte, weil das Bundesverwaltungsgericht gegen die Verhandlungspflicht verstoßen hatte.
3 Im fortgesetzten Verfahren führte das Bundesverwaltungsgericht eine Verhandlung durch, in der eine bei der vom Revisionswerber bevollmächtigten Rechtsanwaltskanzlei tätige Sekretärin als Zeugin unter anderem zusammengefasst aussagte, sie habe das Poststück mit dem Beschwerdeschriftsatz am 16. März 2020 „vor 18:00 Uhr“ in einen Postkasten eingeworfen, welcher zwischen 18:05 Uhr und 18:15 Uhr täglich von der Post ausgehoben werde, und dass der Umstand, dass der Postkasten täglich um diese Uhrzeit ausgehoben werde, auf dem Postkasten angeschrieben sei. Mit Schriftsatz vom 23. Juni 2023 erstattete der Revisionswerber ein weiteres auf diese Aussagen Bezug nehmendes Vorbringen.
4 Mit dem angefochtenen Beschluss wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Revisionswerbers (neuerlich) wegen Verspätung zurück.
5 In dem mit „Feststellungen“ überschriebenen Abschnitt des Beschlusses führte das Bundesverwaltungsgericht unter anderem aus, der mit 13. Februar 2020 datierte Bescheid der SVS sei dem Revisionswerber (zu Handen seines Vertreters) am Montag, 17. Februar 2020, zugestellt worden. Die vierwöchige Frist zur Beschwerdeeinbringung habe daher am Montag, 16. März 2020, geendet. Die Sekretärin des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers habe das Schriftstück mit der Beschwerde am 16. März 2020 vor 18:00 Uhr in den Postkasten vor dem Postamt am Fleischmarkt eingeworfen. Es habe „nicht festgestellt werden“ können, „wann die am 16.03.2020 in den Postkasten eingeworfene Beschwerde von einem Postbeamten tatsächlich ausgehoben wurde“. In seiner rechtlichen Würdigung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass sich die Beschwerde, „welche mittels Frankiermaschine (Absenderfreistempelmaschine) mit 16.03.2020 freigemacht, am 16.03.2020 vor 18:00 Uhr in den Postkasten eingeworfen wurde und am 25.03.2020 bei der SVS einlangte“ als verspätet eingebracht erweise und daher „als verspätet zurückzuweisen“ sei.
6 Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG erklärte das Bundesverwaltungsgericht für nicht zulässig.
7 Gegen diesen Beschluss wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
8 In der Zulässigkeitsbegründung beruft sich der Revisionswerber unter anderem auf Ermittlungs und Feststellungsmängel, behauptet die Abweichung von Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes und führt unter anderem das hg. Erkenntnis VwGH 22.4.2010, 2008/09/0247, ins Treffen. Die Revision ist aus den in der Zulässigkeitsbegründung der Revision angeführten Gründen zulässig; sie ist auch begründet.
9 Das Bundesverwaltungsgericht legte dem angefochtenen Beschluss die Annahme zugrunde, dass die fristauslösende Zustellung des angefochtenen Bescheides am 17. Februar 2020 erfolgt sei und die vierwöchige Frist zur Beschwerdeeinbringung am Montag, 16. März 2020 geendet habe. Die Postsendung mit dem Beschwerdeschriftsatz sei „am 16.03.2020 vor 18:00 Uhr in den Postkasten vor dem Postamt am Fleischmarkt eingeworfen“ worden.
10 Für den Beginn des Postlaufes ist maßgeblich, wann das Schriftstück von der Post in Behandlung genommen wird (vgl. VwGH 25.3.1994, 92/17/0298; 8.8.1996, 95/10/0206, mwN). Wer am letzten Tag einer Frist die befristete Eingabe im Wege der Post aufgeben will, muss dabei das Schriftstück entweder selbst beim Postamt innerhalb der Amtsstunden aufgeben oder es zumindest rechtzeitig vor der planmäßigen Aushebung desselben Tages in den Postkasten einwerfen, sodass durch die Aushebung das Schriftstück in postalische Behandlung genommen wird (vgl. VwGH 7.3.1997, 96/19/0095; 24.6.1993, 93/15/0031, 0032; 95/10/0206; 24.9.2009, 2009/18/0110; 22.4.2010, 2008/09/0247; 23.10.2017, Ro 2017/17/0008, mwN). Durch den Einwurf in einen Briefkasten noch vor Ende des Tages, aber nach der letzten Aushebung, wird die Übergabe an die Post nicht an diesem Tag bewirkt (vgl. das hg. Erkenntnis vom 8. August 1996, 95/10/0206). Ein Einwurf in den Postkasten vor der Uhrzeit, die darauf als Zeit vermerkt ist, zu der der Postkasten täglich ausgehoben wird, im Vertrauen auf diese Ankündigung, ist als Postaufgabe an jenem Tag zu rechnen, an dem dieser Einwurf erfolgte (vgl. VwGH 16.1.1996, 94/20/0224, 24.9.2009, 2009/18/0110, 22.4.2010, 2008/09/0247, jeweils mwN).
11 Der Revisionswerber hat unter Hinweis auf entsprechende Beweismittel vorgebracht, in welchen Postkasten der Beschwerdeschriftsatz am letzten Tag der Frist eingeworfen worden sei, dass der Einwurf vor 18:00 Uhr erfolgt sei und dass es sich dabei um jene Uhrzeit gehandelt habe, die auf dem Postkasten als Zeitpunkt der Aushebung dieses Postkastens vermerkt gewesen sei. Das Bundesverwaltungsgericht hat es unterlassen, das Vorbringen und die ihm vorliegenden Beweismittel zu der (vor dem Hintergrund der vorzierten Rechtsprechung relevanten) Frage, ob auf dem Postkasten die Uhrzeit 18:00 Uhr als Zeitpunkt der Aushebung dieses Postkastens vermerkt gewesen sei, in seine Beweiswürdigung einzubeziehen. Es hat in den Feststellungen des angefochtenen Beschlusses die Aussage getroffen, es habe „nicht festgestellt“ werden können, „wann die am 16.03.2020 in den Postkasten eingeworfene Beschwerde von einem Postbeamten tatsächlich ausgehoben wurde“, und diese Aussage im Rahmen seiner Beweiswürdigung ausschließlich damit begründet, dass die im Verfahren als Zeugin einvernommene Sekretärin des Rechtsvertreters des Revisionswerbers den Vorgang der Aushebung des Postkastens durch einen „Postbeamten“ am selben Tag nicht selbst gesehen und darüber sohin nur eine „Vermutung“ angestellt habe. Diese Beweiswürdigung leidet an einem vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Mangel schon deswegen, weil ein auf dem Postkasten angebrachter Vermerk der Post betreffend den Zeitpunkt der Aushebung dieses Postkastens einen zentralen Anhaltspunkt für die Frage liefert, wann eine vor diesem Zeitpunkt eingeworfene Sendung nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge von der Post in Behandlung genommen wird und sohin auch dazu, ob derjenige, der ein Poststück zeitgerecht einwirft, darauf vertrauen kann. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass es im Allgemeinen nicht Aufgabe eines Verwaltungsgerichtes ist, Aussagen zu treffen, etwas könne nicht festgestellt werden. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht unter Bedachtnahme auf das im Grunde des § 17 VwGVG auch für die Verwaltungsgerichte maßgebliche Prinzip der Amtswegigkeit regelmäßig ein Ermittlungsverfahren zu führen und nach Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Beweismittel in seiner Entscheidung zu den fallbezogen wesentlichen Sachverhaltsfragen eindeutig Stellung zu nehmen (vgl. VwGH 29.5.2018, Ra 2018/21/0060).
12 Da das Bundesverwaltungsgericht insofern die Rechtslage unzutreffend beurteilt und es aus diesem Grund unterlassen hat, die relevanten Beweise zu erheben und in seine Beweiswürdigung einzubeziehen, war der angefochtene Beschluss gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen prävalierender Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.
13 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014. Der begehrte Zuspruch der Umsatzsteuer war zu versagen, weil diese in den Pauschalbeträgen nach der genannten Verordnung bereits enthalten ist. Eine Eingabengebühr war im Hinblick auf die sachliche Abgabenfreiheit gemäß § 12 SVSG nicht zu entrichten.
Wien, am 27. März 2025