JudikaturVwGH

Ra 2023/08/0044 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
29. August 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Sasshofer, über die Revision der Österreichischen Gesundheitskasse, vertreten durch Dr. Haymo Modelhart, Mag. Dr. Elisabeth Humer Rieger und Mag. Katrin Riesenhuber, Rechtsanwälte in 4020 Linz, Museumstraße 25/Quergasse 4, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Februar 2023, L511 2247818 1/5E, betreffend Feststellung der Pflichtversicherung (mitbeteiligte Parteien: 1. C D B in L, 2. der im Insolvenzverfahren über die T GmbH zum Insolvenzverwalter bestellte Dr. Peter Shamiyeh, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Am Schillerpark, Rainerstraße 6 8), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

1 Mit Bescheid vom 23. April 2021 sprach die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) aus, dass der Erstmitbeteiligte hinsichtlich der für die T GmbH ausgeübten Tätigkeit als Eisenbieger „auch im Zeitraum von 25. Mai 2020 bis 8. Juni 2020 der Pflichtversicherung in der Vollversicherung (Kranken Unfall und Pensionsversicherung) sowie Arbeitslosenversicherung“ unterlegen sei.

2 Die ÖGK stütze ihre Feststellungen auf die Ergebnisse einer Kontrolle der Finanzpolizei am 9. Juni 2020 um 9:45 Uhr, bei welcher der Erstmitbeteiligte auf einer näher genannten Baustelle „als Eisenbieger arbeitend betreten“ worden sei. Als Beweismittel zog sie insbesondere die niederschriftliche Aussage des Poliers der Baustelle (wonach der Erstmitbeteiligte seit 25. Mai 2020, 8:00 Uhr, auf der Baustelle tätig sei, im Schnitt 10 Stunden pro Tag gearbeitet habe und eine anderslautende Aussage einer anderen Auskunftsperson nicht der Wahrheit entspreche), ein am 25. Mai 2020 unterfertigtes Unterweisungsformular gemäß § 14 AschG und § 154 BauV sowie die mündliche Bestätigung durch den (zur Zeit der Niederschrift nicht mehr anwesenden) Baustellenleiter im Beisein des Kontrollorgans heran. Weiters würdigte sie die Angabe des Erstmitbeteiligten im „Personenblatt“ (wonach er seit 9. Juni 2020, 8:00 Uhr, für die T GmbH auf dieser Baustelle tätig sei und täglich 10 Stunden arbeite), diverse den Erstmitbeteiligten betreffende Anmeldungen über ELDA sowie Stellungnahmen der steuerlichen Vertretung der T GmbH.

3 In der Beweiswürdigung führte die ÖGK unter anderem aus, dass der Erstmitbeteiligte mittels AVISO-Meldung am Sonntag, 24. Mai 2020, für 25. Mai 2020 gemeldet worden sei und der Polier sowie der Baustellenleiter anlässlich der Kontrolle bekanntgegeben hätten, dass der Erstmitbeteiligte durchgängig bis zum Kontrolltag ab 25. Mai 2020 tätig gewesen sei und täglich 10 Stunden gearbeitet habe. Diese Angaben seien „direkt bei der Kontrolle“ getätigt worden und es entspreche der Lebenserfahrung, dass Angaben ohne Kenntnis eines Verfahrens bzw. die ersten Angaben in einem laufenden Verfahren der Wahrheit am nächsten kämen (Hinweis auf VwGH 20.4.2006, 2005/15/0147). Darüber hinaus seien der Polier und der Baustellenleiter nicht vom Ausgang des Verfahrens betroffen. Der Erstmitbeteiligte habe „vermutlich auf Anweisung“ der T GmbH im Personenblatt angegeben, dass am Kontrolltag sein erster Tag auf der Baustelle gewesen sei. Er habe glaubwürdig angegeben, dass er „täglich 10 Stunden“ für die T GmbH arbeite.

4 Die T GmbH erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde und brachte dazu Folgendes vor: Die T GmbH sei im Bau-/Baunebengewerbe tätig. Ein näher bezeichnetes Unternehmen habe „eine Baustelle erhalten“, wobei am 25. Mai 2020 sämtliche Dienstnehmer, darunter auch der Erstmitbeteiligte, unterwiesen worden seien. Der Erstmitbeteiligte habe aber wegen einer persönlichen Angelegenheit die Baustelle verlassen und sei dann nicht mehr zugegen gewesen. Die T GmbH habe dem genannten Unternehmen vier namentlich genannte Dienstnehmer, welche eingesetzt worden seien, bekanntgegeben (darunter den Erstmitbeteiligten). Die Baustelle sei „überwiegend in Regie abgerechnet“ worden. In den Lieferscheinen (Regiezettel) seien im Zeitraum vom 25. Mai 2020 bis 8. Juni 2020 immer „drei Mann“ aufgelistet gewesen. Ebenso seien auch die Stundennachweise der vier genannten Dienstnehmer vorgelegt worden. Tatsache sei, dass der Erstmitbeteiligte erst am 9. Juni 2020 auf dieser Baustelle beschäftigt gewesen sei. Dies sei der Finanzpolizei gegenüber auch vom Prokuristen der T GmbH angegeben worden, ebenso vom Erstmitbeteiligten auf „seinem im Auftrag der Finanzpolizei ausgefüllten Auskunftsformular“.

5 Das erstinstanzliche Verfahren sei als reines „Urkundenverfahren“ geführt worden, ohne dass die belangte Behörde Zeugen, insbesondere auch den Erstmitbeteiligten, einvernommen und ihn unter Vorlage der an die Behörden übermittelten Unterlagen befragt hätte. Die Stundenaufzeichnungen beim Erstmitbeteiligten würden erst mit 9. Juni 2020 beginnen. Im Zeitraum ab Unterweisung bis 8. Juni 2020 seien drei Personen auf der Baustelle als Arbeiter geführt und deren Tätigkeit unter Angabe von drei Personen auf den Regiezetteln vermerkt worden. Bekanntgegeben worden seien vier Arbeiter, sodass die Abwesenheit einer Person dokumentiert sei. Auch wenn der Baustellenleiter ausführe, dass der Erstmitbeteiligte angeblich anwesend gewesen sei, sei zu hinterfragen, ob auch er tatsächlich in dieser Zeit immer auf der Baustelle anwesend gewesen sei und auch tatsächlich bei Rundgängen alle Mitarbeiter kontrolliert habe oder ob es sich dabei auch um eine Verwechslung hätte handeln können. Tatsache sei, dass ja „auch noch ein anderer Rumäne“ von der T GmbH auf die Baustelle entsendet worden sei.

6 Mit Beschluss des Landesgerichts Linz vom 2. Jänner 2023 wurde über das Vermögen der T GmbH das Insolvenzverfahren eröffnet.

7 Mit dem angefochtenen Beschluss hob das Bundesverwaltungsgericht den Bescheid der ÖGK gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG auf und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die ÖGK zurück.

8 Zur Begründung berief sich das Bundesverwaltungsgericht auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach die Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken in Betracht komme und führte dazu aus, dass Einvernahmen der am Verfahren beteiligten Personen nicht erfolgt seien, obwohl es „Hinweise“ darauf gegeben habe, dass ein Dienstverhältnis erst am 9. Juni 2020 begonnen habe. Ebensowenig sei der Bauleiter der T GmbH „niederschriftlich von der Finanzpolizei oder der ÖGK einvernommen“ worden, obwohl sich der Bescheid auf seine Aussage gestützt habe. Damit habe die ÖGK „jene Ermittlungstätigkeiten unterlassen, welche für die Beurteilung des Sachverhaltes unabdingbar“ seien. Es lägen „keine Ermittlungsergebnisse“ vor, welche das Bundesverwaltungsgericht allenfalls im Zusammenhalt mit einer durchzuführenden Verhandlung ergänzen und zu einer meritorischen Entscheidung heranziehen könne (Hinweise auf VwGH 9.3.2016, Ra 2015/08/0025, mwN; 10.9.2014, Ra 2014/08/0005), sondern es wäre „das gesamte erforderliche Ermittlungsverfahren zur Vorfrage des im Verfahren bestrittenen Bestehens eines Dienstverhältnisses“ erstmalig vom Bundesverwaltungsgericht durchzuführen.

9 Die Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht (unter Anführung von Rechtsprechungsnachweisen zu § 28 Abs. 3 VwGVG) gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.

10 Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende Amtsrevision der ÖGK, in der als Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung iSd. Art. 133 Abs. 4 B VG (sowie in den Revisionsgründen) geltend gemacht wird, dass das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Beschluss von der hg. Rechtsprechung zu § 28 Abs. 3 VwGVG abgewichen sei.

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat über diese Revision nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dem der im Insolvenzverfahren über das Vermögen der T GmbH bestellte Insolvenzverwalter eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

12 Die Revision ist unter dem Gesichtspunkt der in der Zulässigkeitsbegründung geltend gemachten Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 Abs. 3 VwGVG zulässig. Sie ist auch berechtigt.

13 Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte darstellt. Nach dem damit gebotenen Verständnis steht diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 VwGVG verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden. Selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, rechtfertigen keine Zurückverweisung der Sache, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer allenfalls durchzuführenden Verhandlung zu vervollständigen sind (vgl. VwGH 9.12.2021, Ro 2020/08/0007, mwN).

14 Die Revision weist zutreffend darauf hin, dass der vom Bundesverwaltungsgericht als Ermittlungsmangel hervorgehobene Umstand, dass die ÖGK keine weiteren Ermittlungen „zur Vorfrage des ... Bestehens eines Dienstverhältnisses“ durchgeführt habe, keinen tragfähigen Grund zur Aufhebung des angefochtenen Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die ÖGK darstellte, weil das festgestellte Vorliegen eines Dienstverhältnisses durch Ermittlungsergebnisse gedeckt und entgegen den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht strittig war. Strittig war demgegenüber (nur) der Zeitpunkt des Beginns dieses Dienstverhältnisses. Diesbezüglich hat sich der angefochtene Bescheid auf verschiedene Beweismittel gestützt, darunter vor allem die Niederschrift über eine Einvernahme des Poliers, welche die ÖGK (unter Berücksichtigung auch der weiteren Beweisergebnisse, einschließlich der Reaktionen der Partei auf Aufforderungen der ÖGK) ihrer Beweiswürdigung unterzogen hat. Es trifft daher entgegen der Begründung des angefochtenen Beschlusses auch nicht zu, dass „keine Ermittlungen“ vorgelegen wären, „welche das Verwaltungsgericht ... ergänzen könnte“. Dass im Lichte des Beschwerdevorbringens allenfalls noch ergänzende Ermittlungen oder Einvernahmen, gegebenenfalls im Rahmen der Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht notwendig gewesen wären, stellt für sich genommen keinen Grund für eine Aufhebung und Zurückverweisung dar (vgl. VwGH 27.12.2018, Ra 2015/08/0095; 6.12.2019, Ra 2019/18/0327, mwN; 15.3.2021, Ra 2020/20/0376).

15 Das Verwaltungsgericht hat daher zu Unrecht eine kassatorische Entscheidung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG getroffen, weshalb der angefochtene Beschluss gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben war.

Wien, am 29. August 2023

Rückverweise