Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie Hofrat Dr. Schwarz und Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Thaler, über die Revision des S S, vertreten durch Rast Musliu, Rechtsanwälte in 1080 Wien, Alser Straße 23/14, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. November 2022, W296 1424276 2/8E, betreffend Ausweisung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 26. April 2022 wurde der Revisionswerber, ein indischer Staatsangehöriger, unter Erteilung eines einmonatigen Durchsetzungsaufschubs gemäß § 66 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) iVm. § 55 Abs. 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die dagegen gerichtete Beschwerde des Revisionswerbers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG erklärte das Verwaltungsgericht für nicht zulässig.
3 Das Bundesverwaltungsgericht legte seiner Entscheidung zugrunde, der Revisionswerber sei im Jänner 2012 illegal nach Österreich eingereist und sein Antrag auf internationalen Schutz sei mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom 28. Februar 2012 rechtskräftig negativ erledigt worden. Unter einem sei er aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden. Seiner Ausreiseverpflichtung sei er jedoch nicht nachgekommen. Im Oktober 2016 sei ihm infolge seiner Eheschließung vom 3. Oktober 2016 mit einer rumänischen Staatsangehörigen eine Aufenthaltskarte mit Gültigkeit von 14. November 2016 bis 14. November 2021 ausgestellt worden. Die rumänische Ehegattin habe sich jedoch ab 1. April 2018 nicht mehr im Bundesgebiet aufgehalten, wobei das Scheidungsverfahren am 27. Februar 2020 eingeleitet worden und die Scheidung der Ehe am 25. Jänner 2021 erfolgt sei.
Der strafgerichtlich unbescholtene Revisionswerber, der in Österreich diversen Erwerbstätigkeiten (meist als Arbeiter) nachgegangen sei sowie selbsterhaltungsfähig und krankenversichert sei, verfüge im Bundesgebiet über einen Freundeskreis, der sich allerdings ausschließlich aus Personen seines Kulturkreises zusammensetze. In seiner Freizeit besuche er regelmäßig einen Sikh Tempel. Lediglich im Rahmen seiner Arbeit habe er Kontakt zu Personen außerhalb seines Kulturkreises. Zu einer Deutschprüfung auf A2 Niveau sei er erst am 3. November 2022 angetreten, weshalb lediglich eine spärliche sprachliche Integration anzunehmen sei. Auch in beruflicher Hinsicht liege nur eine geringfügige Integration vor.
4 In rechtlicher Hinsicht hielt das Verwaltungsgericht fest, das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht des Revisionswerbers sei durch den Wegzug seiner Ehegattin aus Österreich im April 2018, somit vor Einleitung des Scheidungsverfahrens, weggefallen. Die Voraussetzungen für die Erlassung einer Ausweisung gemäß § 66 FPG lägen gegenständlich vor.
Eine Interessenabwägung im Sinn von Art. 8 EMRK falle zu Lasten des Revisionswerbers aus. In diesem Zusammenhang sei zwar der mehr als zehnjährige Inlandsaufenthalt zu berücksichtigen. Das private Interesse des Revisionswerbers an einem Verbleib in Österreich werde aber dadurch beträchtlich geschmälert, dass er bereits im Jahr 2012 eine Ausweisungsentscheidung des Asylgerichtshofs missachtet und sich anschließend bis zu seiner Eheschließung mit einer rumänischen Staatsangehörigen im Oktober 2016 illegal im Bundesgebiet aufgehalten habe. Zudem falle ins Gewicht, dass er die Behörde nicht über die Ausreise seiner rumänischen Ehegattin informiert habe und sein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht seit geraumer Zeit weggefallen sei. Sein Aufenthalt in Österreich sei zum weitaus überwiegenden Teil als unrechtmäßig zu betrachten. Im Übrigen lebten Familienangehörige des nicht lebensbedrohlich erkrankten und arbeitsfähigen Revisionswerbers, der mit der Sprache und den Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut sei, in Indien. Vor diesem Hintergrund habe dessen privates Interesse an einem weiteren Aufenthalt in Österreich gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung zurückzutreten.
5 Das Absehen von einer mündlichen Verhandlung begründete das Verwaltungsgericht unter Hinweis auf § 21 Abs. 7 BFA Verfahrensgesetz (BFA VG) iVm. § 24 VwGVG.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, die sich in ihrer Zulässigkeitsbegründung gegen die im angefochtenen Erkenntnis vorgenommene Interessenabwägung sowie gegen das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung wendet.
7 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die Revision ist zulässig und begründet, weil das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zur Verhandlungspflicht abgewichen ist.
9 Gemäß § 21 Abs. 7 BFA VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Bei der Beurteilung, ob in vom BFA VG erfassten Verfahren von der Durchführung einer Verhandlung abgesehen werden kann, ist neben § 24 Abs. 1 bis 3 und 5 VwGVG in seinem Anwendungsbereich allein die Bestimmung des § 21 Abs. 7 BFA VG, nicht aber die bloß als subsidiär anwendbar ausgestaltete Norm des § 24 Abs. 4 VwGVG, als maßgeblich heranzuziehen (vgl. zu den Kriterien für die Abstandnahme von der Durchführung einer Verhandlung grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018).
10 Der Verwaltungsgerichtshof betont in seiner ständigen Rechtsprechung im Zusammenhang mit den Voraussetzungen für ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA VG, dass die Frage der Intensität der privaten und familiären Bindungen in Österreich nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen reduziert werden kann, sondern der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besondere Bedeutung zukommt (vgl. VwGH 17.6.2019, Ra 2018/22/0195, Rn. 9, mwN). Nur in eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann eine Verhandlung unterbleiben (vgl. VwGH 9.9.2021, Ra 2020/22/0193 bis 0196, Rn. 15, mwN).
11 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zudem bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. dazu grundlegend VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, Rn. 13 bis 16, mwN).
12 Nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts hielt sich der Revisionswerber im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses bereits mehr als zehn Jahre in Österreich auf. Er ging auch einer Erwerbstätigkeit nach, die es ihm erlaubte, sich selbst zu erhalten und verfügte über gewisse Deutschkenntnisse.
13 Es trifft zu, dass trotz derartiger integrationsbegründender Faktoren dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses eines Fremden auszugehen wäre, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren.
14 In diesem Sinne hob das Verwaltungsgericht die jahrelange Unrechtmäßigkeit des Aufenthaltes des Revisionswerbers nach dem rechtskräftigen negativen Abschluss seines Asylverfahrens im Jahr 2012 (das nur knapp zwei Monate in Anspruch genommen hatte) sowie den Wegfall seines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts bereits im April 2018 und die hinsichtlich des Wegzugs der Ehegattin unterbliebene Information der Behörde hervor, die indes gemäß § 54 Abs. 6 NAG hätte unverzüglich erstattet werden müssen. Diese Aspekte waren zweifelsohne zu Lasten des Revisionswerbers zu veranschlagen, allerdings kam ihnen für sich genommen kein derartiges Gewicht zu, dass sich das Ergebnis der Interessenabwägung als eindeutig dargestellt hätte. Dabei gilt es zudem anzumerken, dass der Aufenthalt des Revisionswerbers während der fünfjährigen Gültigkeitsdauer der ihm ausgestellten Aufenthaltskarte (formal) nicht unrechtmäßig war (VwGH 9.9.2020, Ro 2020/22/0010, Rn. 11).
15 Ausgehend davon erweist sich der Vorwurf, das Bundesverwaltungsgericht hätte sich einen persönlichen Eindruck verschaffen müssen, um eine Gesamtabwägung aller maßgeblichen Umstände umfassend vornehmen zu können, als zutreffend. Auch wenn der rechtsanwaltlich vertretene Revisionswerber im Beschwerdeschriftsatz keinen Verhandlungsantrag gestellt hatte und folglich da auch keine diesem Verständnis entgegenstehende Beweisanträge gestellt worden waren von einem (schlüssigen) Verzicht auf den sich aus Art. 47 Abs. 2 GRC ergebenden Anspruch auf Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung auszugehen war (VwGH 3.9.2015, Ra 2015/21/0054), war in der vorliegenden Konstellation gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG, und zwar insbesondere in Anbetracht des keineswegs eindeutigen Falls (mehr als zehnjähriger Aufenthalt im Bundesgebiet sowie Erwerbstätigkeit und Selbsterhaltungsfähigkeit des unbescholtenen Revisionswerbers), die Durchführung einer Verhandlung in Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens des Verwaltungsgerichts geboten (vgl. VwGH 6.7.2016, Ra 2015/01/0207, Rn. 15 ff., mwN; 4.3.2020, Ra 2019/21/0214, Rn. 18).
16 § 21 Abs. 7 BFA VG berechtigte das Verwaltungsgericht nicht zum Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung, weil in Bezug auf die Interessenabwägung wie bereits ausgeführt kein eindeutiger Fall und somit kein geklärter Sachverhalt im Sinne der zuletzt genannten Bestimmung vorlag (vgl. dazu etwa VwGH 27.1.2015, Ra 2014/19/0085). Die Relevanz des gegenständlichen Verfahrensfehlers wird in der Revision auch dargelegt (zur erforderlichen Relevanzdarstellung außerhalb des Anwendungsbereiches des Art. 6 EMRK sowie des Art. 47 GRC siehe etwa VwGH 19.10.2016, Ra 2016/12/0073, Rn. 48; 18.10.2021, Ra 2018/22/0067, Pkt. 5.2. der Entscheidungsgründe).
17 Da das Verwaltungsgericht aus den dargelegten Erwägungen zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absah, belastete es das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften. Dieses war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
18 Die Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG unterbleiben.
19 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 15. März 2023