Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Röder, über die Revision des N R, vertreten durch Dr. Thomas Trentinaglia, Rechtsanwalt in 6370 Kitzbühel, Kirchgasse 5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 18. Jänner 2021, W123 2238018 1/2E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von 1.346,40 € binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein serbischer Staatsangehöriger, wurde im August 1974 in Österreich geboren und hält sich seither im Bundesgebiet auf. Ihm wurden wiederholt Aufenthaltstitel, zuletzt der unbefristete Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“, erteilt.
2 Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Innsbruck als Geschworenengericht vom 12. Jänner 2018 wurde der Revisionswerber insbesondere wegen des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB (begangen am 2. Februar 2017 an seiner Schwiegertochter) zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren verurteilt. Die Freiheitsstrafe ist unter Anrechnung verschiedener Vorhaftzeiten derzeit in Vollzug; der errechnete Entlassungszeitpunkt fällt auf den 26. April 2037.
3 Im Hinblick auf diese Straffälligkeit erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber mit Bescheid vom 11. November 2020 gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung. Es stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Serbien zulässig sei, und erließ gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot. Gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA VG erkannte es einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung ab und gewährte gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise.
4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 18. Jänner 2021 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
5 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit dem Beschluss VfGH 18.3.2022, E 741/2021, ablehnte und die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
6 Über die in der Folge fristgerecht ausgeführte außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen:
7 Die Revision erweist sich entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG wie in der Zulässigkeitsbegründung im Ergebnis zutreffend aufgezeigt wird infolge Abweichens des BVwG von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes als zulässig und auch als berechtigt.
8 Der Verwaltungsgerichtshof judiziert nämlich in ständiger Rechtsprechung, dass für die Frage, ob ein Einreiseverbot erlassen werden dürfe, auf den Zeitpunkt der hypothetischen Ausreise bzw. der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung abzustellen ist (vgl. etwa VwGH 19.11.2020, Ra 2020/21/0088, Rn. 12, mit dem Hinweis auf VwGH 15.12.2011, 2011/21/0237, Punkt 2.2. der Entscheidungsgründe). In dem zuletzt genannten Erkenntnis wurde diese Auffassung für die insoweit noch aktuelle Rechtslage mit § 53 Abs. 4 FPG begründet, wonach die Frist des Einreiseverbotes mit Ablauf des Tages der Ausreise des Drittstaatsangehörigen beginnt. Für die Dauer des Freiheitsentzuges, auf den wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung erkannt wurde, ist der Eintritt der Durchsetzbarkeit der Rückkehrentscheidung allerdings gemäß § 59 Abs. 4 FPG aufgeschoben. Vor allem bei der Gefährdungsprognose wäre daher vom BVwG auf den Zeitpunkt der (hypothetischen) Entlassung des Revisionswerbers aus der Strafhaft abzustellen gewesen (siehe auch dazu VwGH 19.11.2020, Ra 2020/21/0088, Rn. 12, sowie sinngemäß zu einem Aufenthaltsverbot VwGH 29.9.2020, Ra 2020/21/0297, Rn. 9, mwN, und daran anknüpfend VwGH 9.6.2022, Ra 2021/21/0238, Rn. 13). Das gilt umso mehr für die Annahme im Sinne des § 18 Abs. 2 Z 1 BFA VG, nach der Entlassung des Revisionswerbers aus der Strafhaft sei seine sofortige Ausreise erforderlich (vgl. zu den diesbezüglich noch erhöhten Voraussetzungen aus der ständigen Rechtsprechung zuletzt etwa VwGH 10.11.2022, Ra 2022/21/0094, Rn. 15, mwN) und ihm sei deshalb gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise einzuräumen (siehe in diesem Zusammenhang zur vergleichbaren Bestimmung des § 70 Abs. 3 iVm Abs. 1 zweiter Satz FPG des Näheren auch schon VwGH 12.9.2013, 2013/21/0094, mwN).
9 Dessen ungeachtet und trotz der erst seit dem Jahr 2017 in Vollzug befindlichen 20 jährigen Haftstrafe legte das BVwG seiner Prüfung verfehlt die aktuell vom Revisionswerber ausgehende Gefährlichkeit zugrunde, deren Fortbestehen am Ende des Vollzuges der Strafhaft derzeit jedoch kaum absehbar ist. Bei der dem Revisionswerber zur Last liegenden Straftat handelt es sich zwar um ein Kapitalverbrechen, bei dem auch nach dem Vollzug einer langjährigen Freiheitsstrafe das weitere Vorliegen einer maßgeblichen Gefährdung öffentlicher Interessen indiziert sein kann (vgl. in diesem Sinn auch die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach für die Frage des Eintritts eines Gesinnungswandels und des Wegfalls einer aus dem bisherigen Verhalten ableitbaren Gefährlichkeit in erster Linie das Wohlverhalten in Freiheit nach dem Vollzug einer Freiheitsstrafe maßgeblich ist, etwa VwGH 22.2.2021, Ra 2020/21/0537, Rn. 9, mwN). Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, dass schon der Vollzug einer derart langen Freiheitsstrafe selbst im Fall einer früheren bedingten Entlassung zu einer maßgeblichen Gefährdungsminderung führen könnte, die es dann nicht mehr erlaubt, gegen den 1974 in Österreich geborenen, hier durchgehend aufhältigen, bisher beruflich und überdies familiär verankerten Revisionswerber aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu erlassen. Bei dieser Beurteilung käme es einerseits auf die Hintergründe und Begleitumstände der dem Revisionswerber vor allem angelasteten Straftat des Mordes an, wozu das BVwG allerdings keine Feststellungen traf. Andererseits wäre aber auch die Entwicklung des Revisionswerbers während der langen Strafhaft einzubeziehen und bei der Prognosebeurteilung zu berücksichtigen, dass er vor der gegenständlichen Verurteilung unbescholten war, es sich also um eine bisher einmalige, wenn auch äußerst gravierende Straftat handelte.
10 Im Übrigen rügt die Revision unter anderem noch zu Recht, dass dem BVwG insofern eine Aktenwidrigkeit unterlaufen ist, indem es bei seiner Interessenabwägung darauf abstellte, beim Revisionswerber handle es sich um einen „jungen“ Mann „ohne Obsorgeverpflichtungen“, der „über Familienanschluss und über die notwendigen Sprachkenntnisse in Afghanistan verfügt“. Zudem unterstellte das BVwG, der Aufenthalt des Revisionswerbers „im Gebiet der Mitgliedstaaten“ sei „lediglich zum Zweck der Begehung von schweren Eigentumsdelikten“ erfolgt und wegen „der nicht vorhandenen familiären und sozialen Anknüpfungspunkte im Gebiet der Mitgliedstaaten“ sei das Einreiseverbot im angemessenen Ausmaß festgelegt worden. Diese Ausführungen stehen mit der Aktenlage eklatant im Widerspruch, aus der hervorgeht, dass die Eltern, die Ehefrau, eine Tochter und der Sohn sowie die Enkelkinder des aus Serbien stammenden Revisionswerbers, ebenso wie er selbst seit seiner Geburt, in Österreich leben. Mag es sich dabei zwar jeweils nur um nicht passende, irrtümlich eingefügte „Textbausteine“ handeln, denen andere tragende und aktenkonforme Überlegungen gegenüberstehen, so beweisen sie jedoch auch, dass sich das BVwG mit den fallbezogenen Besonderheiten nicht ausreichend auseinandergesetzt hat.
11 Das angefochtene Erkenntnis war aber schon aus den zuvor genannten Gründen (vorrangig) gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
12 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 10. November 2022