Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofräte Dr. Pürgy und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Seiler, über die Revision der R H D, vertreten durch Mag. Nadja Lindenthal, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Siebensterngasse 23/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. August 2022, W232 2204332 1/19E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Die Revisionswerberin, eine syrische Staatsangehörige der kurdischen Volksgruppe, stellte am 26. April 2018 einen Antrag auf internationalen Schutz, den sie unter anderem mit dem zweimaligen Bombardement des Hauses ihrer Familie in Rakka und der Ausbreitung des Islamischen Staates in der Region, in der sie mit ihrer Familie in der Folge Zuflucht gesucht habe, begründete.
2 Mit Bescheid vom 25. Juli 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag der Revisionswerberin hinsichtlich des Status der Asylberechtigten ab, erkannte ihr den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihr eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung.
3 Die gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten erhobene Beschwerde der Revisionswerberin wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
4 In seiner Begründung stellte das BVwG insbesondere fest, dass die Revisionswerberin ledig sei und keine Kinder habe. Als Minderjährige habe sie Syrien 2014 verlassen und anschließend mit ihrer Kernfamilie vier Jahre lang in der Türkei gelebt. In Syrien habe die Revisionswerberin keine Verwandten. Rechtlich ging das BVwG unter anderem davon aus, dass der Revisionswerberin auch angesichts des Umstandes, dass es sich bei ihr um eine alleinstehende Frau ohne familiäres Netzwerk in Syrien handle, vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit bestehende asylrelevante Verfolgung drohe.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
6 Die Revision bringt zur Zulässigkeit mit näherer Begründung unter anderem vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es sich mit den Erwägungen des UNHCR zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, nicht auseinandergesetzt habe. Bei deren Berücksichtigung wäre das BVwG zum Schluss gekommen, dass die Revisionswerberin als „Frau ohne echte familiäre Unterstützung“ nichtstaatlichen Akteuren schutzlos ausgeliefert sei und ihr somit aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe asylrelevante Verfolgung drohe.
7 Die Revision erweist sich aus diesem Grund als zulässig und auch berechtigt.
8 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist den Richtlinien des UNHCR besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung“). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden in Bindung an entsprechende Empfehlungen des UNHCR internationalen Schutz gewähren müssten. Allerdings haben die Asylbehörden (und dementsprechend auch das BVwG) sich mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen des UNHCR auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind (vgl. VwGH 8.6.2021, Ra 2019/19/0190, mwN).
9 Diesen Anforderungen wurde im vorliegenden Fall nicht entsprochen:
10 In den Erwägungen von UNHCR zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen (Stand: März 2021, S. 184), wird ausgeführt, dass Frauen, die in ihrer (erweiterten) Familie keine männliche Unterstützung erhalten, einschließlich alleinstehender Frauen, Witwen und geschiedener Frauen, besonders gefährdet seien, Opfer von Missbrauch, Ausbeutung und Menschenhandel zu werden. Deshalb sei UNHCR der Auffassung, dass Frauen und Mädchen ohne echte familiäre Unterstützung wahrscheinlich internationalen Schutz benötigen würden. Diese Einschätzung findet sich bereits in den Erwägungen des UNHCR zum Schutzbedarf von syrischen Staatsangehörigen vom November 2017.
11 Das BVwG zog zwar im Gegensatz zu den (aktuellen) Erwägungen vom März 2021 die Erwägungen des UNHCR vom November 2017 im vorliegenden Verfahren als Länderberichtsmaterial heran und gab in der mündlichen Verhandlung der Revisionswerberin auch Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen. Es setzte sich jedoch weder mit den Erwägungen des UNHCR vom November 2017 noch mit jenen vom März 2021 auseinander, obwohl die Revisionswerberin noch in der mündlichen Verhandlung eine Verfolgung als unverheiratete Frau ohne familiäre Unterstützung geltend gemacht hatte. Damit hat das BVwG die fallbezogen gebotene Auseinandersetzung mit den UNHCR Erwägungen unterlassen.
12 Soweit das BVwG die Annahme der Verfolgungsfreiheit der Revisionswerberin als alleinstehende Frau bloß mit dem Hinweis auf ihre Herkunft aus einem kurdisch kontrollierten Gebiet, wo die Situation für Frauen besser sei, begründete, ist im Übrigen darauf hinzuweisen, dass auch nach den Feststellungen des BVwG die Lage für Frauen in Nordsyrien großteils von persönlichen und familiären Einstellungen abhängt.
13 Da nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass die Entscheidung des BVwG bei Vermeidung dieses Verfahrensmangels, dessen Relevanz in der Revision aufgezeigt wird, anders hätte ausfallen können, war das angefochtene Erkenntnis in Bezug auf die Abweisung der Beschwerde gegen die Nichtgewährung von Asyl gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
14 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 11. Dezember 2023