Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie die Hofrätin Dr. Funk-Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Seiler, in der Revisionssache des S S, vertreten durch Mag. Kurt Jelinek, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Nonntaler Hauptstraße 1a, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. Juni 2022, W272 2250531 1/14E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation aus Grozny, stellte am 30. September 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, Gegner des tschetschenischen Präsidenten Kadyrow zu sein und aufgrund seiner politischen Einstellung sehr viele Probleme in seinem Heimatstaat gehabt zu haben.
2 Mit Bescheid vom 1. Dezember 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als „unzulässig“ (gemeint wohl: unbegründet) ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
4 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, der Revisionswerber habe nicht glaubwürdig dargelegt, dass er von den tschetschenischen Behörden aufgrund des Verfassens oder Abonnierens von regimekritischen Beiträgen verfolgt werde. Dem gesunden und arbeitsfähigen Revisionswerber, der über eine universitäre Ausbildung, Berufserfahrung und ein familiäres Netzwerk in der Russischen Föderation verfüge, drohe bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat keine reale Gefahr der Verletzung seiner durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte. Die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung würden die privaten und familiären Interessen des Revisionswerbers an einem Verbleib im Bundesgebiet überwiegen. Zwar lebe in Österreich auch die an psychischen und physischen Erkrankungen leidende Mutter des Revisionswerbers, jedoch sei es dieser auch vor der Einreise des Revisionswerbers möglich gewesen, für sich selbst zu sorgen und könne diese die medizinischen Einrichtungen Österreichs in Anspruch nehmen.
5 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
8 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG habe die Beweiswürdigung unvertretbar vorgenommen, obwohl der Revisionswerber seine Fluchtgründe stets konsistent und nachvollziehbar geschildert habe. Dass sich der Revisionswerber im Rahmen seiner Erstbefragung auch zum Gesundheitszustand seiner Eltern geäußert habe, könne nicht zu seinen Lasten ausgelegt werden. Dem Revisionswerber würden bei einer Rückkehr aus Europa zudem rechtlich nicht gedeckte Befragungen durch die russischen Behörden drohen.
9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist dieser als Rechtsinstanz zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. etwa VwGH 8.6.2022, Ra 2022/19/0047, mwN).
10 Das BVwG befragte den Revisionswerber in der mündlichen Verhandlung umfassend zu seinen Fluchtgründen und erachtete sein Fluchtvorbringen als nicht glaubhaft. Beweiswürdigend stützte sich das BVwG dabei tragend auf die teils vagen, teils unplausiblen und gesteigerten, sowie widersprüchlichen Angaben des Revisionswerbers vor dem BFA und in der mündlichen Verhandlung zu den vorgebrachten Verfolgungshandlungen durch die tschetschenische Polizei und den Umständen der Ausreise des Revisionswerbers aus der Russischen Föderation.
11 Der Revision gelingt es mit ihren pauschal gehaltenen Ausführungen nicht, aufzuzeigen, dass das BVwG eine die Rechtssicherheit beeinträchtigende, unvertretbare Beweiswürdigung vorgenommen hätte.
12 Die Revision wendet sich auch gegen die Erlassung der Rückkehrentscheidung und bringt dazu vor, das BVwG habe nicht berücksichtigt, dass die in Österreich lebende Mutter des Revisionswerbers auf die Hilfe und Pflege ihres Sohnes angewiesen sei. Die Abschiebung des Revisionswerbers würde einen Eingriff in das Familienleben darstellen, weil damit die weitere Pflege der Mutter unmöglich gemacht werde. Das BVwG habe zudem den Freundeskreis des Revisionswerbers in Österreich nicht in seine Abwägung miteinbezogen.
13 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen wenn kein revisibler Verfahrensmangel aufgezeigt wird und sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde nicht revisibel (vgl. VwGH 4.4.2022, Ra 2021/19/0227, mwN). Es kommt daher darauf an, ob die vom Bundesverwaltungsgericht nach § 9 BFA VG vorgenommene Interessenabwägung im Ergebnis vertretbar war und keinen maßgeblichen Begründungsmangel erkennen lässt; trifft dies zu, so liegt nämlich nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes keine grundsätzliche Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG vor (vgl. auch VwGH 30.4.2021, Ra 2021/21/0112, mwN).
14 Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nur dann unter den Schutz des Art. 8 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. VwGH 5.10.2020, Ra 2020/19/0308, mwN).
15 Ein Eingriff in das Recht auf Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK kann auch vorliegen, wenn nicht der hier aufhältige pflegebedürftige Fremde selbst außer Landes geschafft wird, sondern dessen weitere Pflege durch die Verhinderung des Verbleibs des die Pflege übernehmenden Angehörigen unmöglich gemacht wird. In diesem Fall erfordert Art. 8 Abs. 2 EMRK eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Ausweisung nach § 8 Abs. 2 AsylG und verlangt somit eine fallbezogene Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen (vgl. VwGH 24.3.2011, 2008/23/1134; 26.1.2010, 2009/22/0022, jeweils mwN).
16 Das BVwG berücksichtigte bei seiner Interessenabwägung alle entscheidungswesentlichen auch die zugunsten des Revisionswerbers sprechenden Umstände und bezog entgegen dem Vorbringen der Revision insbesondere die Bindung des Revisionswerbers zu seiner in Österreich lebenden Mutter in die Abwägung mit ein. Es gelangte jedoch zu dem Ergebnis, dass die Mutter des Revisionswerbers zwar an psychischen und physischen Erkrankungen leide und mit dem Revisionswerber im gemeinsamen Haushalt lebe, die für eine Schutzbedürftigkeit erforderliche Abhängigkeit der Mutter vom Revisionswerber jedoch zu verneinen sei. So sei die nicht lebensbedrohlich erkrankte Mutter des Revisionswerbers auch bereits vor dessen Einreise in der Lage gewesen, für sich selbst zu sorgen und ihren mittlerweile verstorbenen Ehemann zu pflegen. Der Mutter stehe es weiterhin offen, sich in Österreich behandeln zu lassen, die medizinischen Einrichtungen in Anspruch zu nehmen und bei Notwendigkeit pflegerisch betreut zu werden. Aus dem vom Revisionswerber vorgelegten Attest, aus welchem hervorgehe, dass die Mutter die pflegerische Unterstützung ihres Sohnes benötige, erschließe sich nicht, weshalb die Unterstützung ausschließlich durch den Revisionswerber zu erfolgen habe. Auch eine finanzielle Abhängigkeit bestehe nicht. Im Ergebnis würden die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung die privaten Interessen, insbesondere das familiäre Interesse des Revisionswerbers in Bezug auf seine pflegebedürftige Mutter am Verbleib im Bundesgebiet überwiegen.
17 Dass diese Beurteilung des BVwG fallbezogen unvertretbar wäre, vermag die Revision im Ergebnis nicht aufzuzeigen.
18 Wenn die Revision in diesem Zusammenhang schließlich die unterlassene Einvernahme der Mutter des Revisionswerbers von Amts wegen rügt, ist darauf hinzuweisen, dass die Frage, ob auf Basis eines konkret vorliegenden Standes eines Ermittlungsverfahrens ein ausreichend ermittelter Sachverhalt vorliegt oder ob weitere amtswegige Erhebungen erforderlich sind, regelmäßig keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, sondern eine jeweils einzelfallbezogen vorzunehmende Beurteilung darstellt (vgl. VwGH 28.11.2019, Ra 2019/19/0494, mwN). Gründe dafür, dass die unterbliebene Einvernahme der Mutter des Revisionswerbers nach Lage des vorliegenden Falles einen krassen, die Rechtssicherheit beeinträchtigenden und daher eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufwerfenden Verfahrensfehler darstellen könnte, werden von der Revision nicht dargelegt.
19 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.
Wien, am 1. August 2022