JudikaturVwGH

Ra 2022/14/0343 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
11. April 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl sowie die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr. in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Prendinger, über die Revision des A A, vertreten durch Dr. Eva Jana Messerschmidt, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Freyung 6/7/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Juli 2022, W212 2241748 1/9E, betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Syrien, stellte nach unrechtmäßiger Einreise am 21. Dezember 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), den er im Wesentlichen damit begründete, dass in Syrien Krieg herrsche und eine schlechte Sicherheitslage bestehe.

2 Mit Bescheid vom 22. März 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den vom Revisionswerber gestellten Antrag, soweit er damit die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten begehrt hatte, gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ab. Allerdings wurde ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte mit der Gültigkeit für ein Jahr erteilt.

3 Begründend führte es aus, dass der Revisionswerber bereits 47 Jahre alt sei und aufgrund des Umstandes, dass er lediglich ein einfacher Soldat (Telefondienst) bei der Ableistung des regulären Militärdienstes gewesen sei, ausgeschlossen werde können, dass er bei einer Rückkehr nach Syrien für den Reservemilitärdienst herangezogen werden würde.

4 In der gegen die Versagung der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gerichteten Beschwerde, in der er auch die Durchführung einer Verhandlung beantragte, machte der Revisionswerber geltend, er laufe Gefahr bei einer Rückkehr als Reservist eingezogen zu werden, zumal in der Praxis auch Männer im Alter von bis zu 55 Jahren einberufen werden. Auch sei aus näher genannten Berichten zu entnehmen, dass die Altersgrenze für den Reservedienst bei Vorliegen besonderer Qualifikationen angehoben werde.

5 In einer ergänzenden Stellungnahme vom 28. Juni 2022 brachte der Revisionswerber weiters vor, dass er bei der Ableistung seines Militärdienstes für die Herstellung von Funkverbindungen in der Luftabwehr zuständig gewesen sei und ihm somit aufgrund dieser Qualifikation auch weiterhin die Einziehung als Reservist drohe.

6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht, das von der Durchführung einer Verhandlung abgesehen hatte, die Beschwerde als unbegründet ab. Unter einem sprach es aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

7 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - aus, das Vorbringen in der Beschwerde, wonach auch Männer im Alter von bis zu 55 Jahren als Reservisten einberufen werden, setze eine besondere Qualifikation voraus. Für den Revisionswerber ergäbe sich hieraus jedoch keine Gefährdung, weil er einfacher Soldat ohne besondere Kenntnisse und ohne Dienstgrad gewesen sei. Das in der Stellungnahme erstattete weitere Vorbringen, dass der Revisionswerber während der Ableistung seines Militärdienstes für die Herstellung von Funkverbindungen in der Luftabwehr zuständig gewesen sei, stehe im Widerspruch zu seinen Angaben in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und sei folglich nicht glaubhaft. Zudem werde aufgrund seiner Angabe, wonach er keinen Dienstgrad hatte, nicht davon ausgegangen, dass der Revisionswerber über außerordentliche Kenntnisse oder Spezialwissen verfüge, aufgrund derer ein besonderes Interesse an seinem Einzug als Reservist bestehe.

8 Dagegen erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, deren Behandlung mit Beschluss vom 19. September 2022, E 2334/2022 6, abgelehnt und die dem Verwaltungsgerichtshof über nachträglichen Antrag des Revisionswerbers mit Beschluss vom 2. November 2022, E 2334/2022 8, gemäß Art. 144 Abs. 3 B VG zur Entscheidung abgetreten wurde.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die daraufhin eingebrachte außerordentliche Revision nach Einleitung des Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10 Die Revision ist in Bezug auf ihr Zulässigkeitsvorbringen zum Abweichen des Verwaltungsgerichts von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen für ein Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA Verfahrensgesetz (BFA VG) zulässig und begründet.

11 Gemäß dem im vorliegenden Fall anzuwendenden § 21 Abs. 7 BFA VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.

12 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:

13 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 7.11.2022, Ra 2022/14/0048, mwN).

14 Schließt das Bundesverwaltungsgericht sich nicht nur der Beweiswürdigung der Verwaltungsbehörde an, sondern zeigt darüber hinaus in seiner Beweiswürdigung noch weitere bedeutsame Aspekte auf, mit welchen es die Widersprüchlichkeit des Vorbringens begründet, nimmt es damit eine zusätzliche Beweiswürdigung vor, die dazu führt, dass das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung nicht bloß unwesentlich ergänzt. Eine solche (ergänzende) Beweiswürdigung hat jedoch regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung, in der auch ein persönlicher Eindruck von der betroffenen Person gewonnen werden kann, zu erfolgen (vgl. aus vielen VwGH 28.5.2021, Ra 2021/20/0159, mwN).

15 Im vorliegenden Fall nahm das Bundesverwaltungsgericht das vom Revisionswerber (erstmals) in der Beschwerde bzw. Stellungnahme erstattete Vorbringen zu seiner Tätigkeit während der Ableistung seines Militärdienstes zum Anlass, sich beweiswürdigend damit auseinander zu setzen und ergänzte die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung damit nicht bloß unwesentlich.

16 Die Revision zeigt somit zutreffend auf, dass das Bundesverwaltungsgericht die Beweiswürdigung des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl zur Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens des Revisionswerbers durch über die Beweiswürdigung der Behörde hinausgehende nicht bloß unwesentliche eigenständige Überlegungen ergänzt hat.

17 Sohin lagen die oben dargestellten Voraussetzungen für die Abstandnahme von der Durchführung einer Verhandlung nicht vor.

18 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und wie hier gegeben des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. erneut VwGH 7.11.2022, Ra 2022/14/0048, mwN).

19 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

20 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 11. April 2023

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