JudikaturVwGH

Ra 2021/21/0362 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
29. August 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger und den Hofrat Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des A S, vertreten durch Mag. Hermann Stenitzer Preininger, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Radetzkystraße 29/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. November 2021, I403 2246181 1/20E, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbots (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der Revisionswerber, ein kroatischer Staatsangehöriger, wurde 1989 geboren und hält sich seit seinem dritten Lebensjahr rechtmäßig in Österreich auf. Neben seinen Eltern und seinen drei erwachsenen Geschwistern leben auch sein im Jahr 2014 geborener Sohn sowie die ehemalige Lebensgefährtin des Revisionswerbers und Kindesmutter, die beide die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen, im Bundesgebiet.

2 Im Laufe seines Aufenthaltes wurde der Revisionswerber wiederholt rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt. Zunächst wurde er dreimal wegen Jugendstraftaten verurteilt, und zwar mit Urteil des Bezirksgerichts Knittelfeld vom 30. Jänner 2006 wegen der Vergehen der Sachbeschädigung nach § 125 StGB, des Diebstahls nach § 127 StGB und des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen nach § 136 Abs. 1 StGB, wobei unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren die Verhängung einer Strafe vorbehalten wurde. Mit einem weiteren Urteil des Bezirksgerichts Knittelfeld vom 16. April 2007 wurde der Revisionswerber wegen der Vergehen des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB sowie der Hehlerei nach § 164 Abs. 2 StGB zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von zehn Wochen verurteilt. Mit Urteil des Landesgerichts Leoben vom 6. August 2007 wurde der Revisionswerber wegen des Verbrechens des teils versuchten, teils vollendeten schweren gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch nach den §§ 127, 128 Abs. 1 Z 4, 129 Abs. 1 und 2, 130 zweiter Satz, zweiter Fall und 15 StGB sowie wegen des Vergehens der dauernden Sachentziehung nach § 135 Abs. 1 StGB zu einer teilweise bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt (unbedingter Strafteil sechs Monate).

3 In der Folge wurde der Revisionswerber als junger Erwachsener zunächst mit Urteil des Landesgerichts Leoben vom 23. November 2007 wegen des Verbrechens des teils versuchten, teils vollendeten gewerbsmäßigen Diebstahls durch Einbruch nach den §§ 127, 129 Abs. 1 und 2, 130 zweiter Satz, zweiter Fall und 15 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt. Mit einem weiteren Urteil des Landesgerichts Leoben vom 7. Juli 2009 wurde der Revisionswerber wegen des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB sowie wegen des Verbrechens des Diebstahls durch Einbruch nach den §§ 127, 129 Abs. 1 erster Fall StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 20 Monaten verurteilt.

4 Mit Urteil des Bezirksgerichts Graz Ost vom 29. November 2017 wurde der Revisionswerber wegen der Vergehen des Betrugs nach § 146 StGB, der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB und der Sachbeschädigung nach § 125 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt.

5 Mit Urteil des Bezirksgerichts Weiz vom 28. April 2021 wurde der Revisionswerber neuerlich wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt.

6 Zuletzt wurde der Revisionswerber mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 25. Juni 2021 wegen der Mitte Mai 2021 begangenen Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB, der Nötigung nach § 105 Abs. 1 StGB, der Sachbeschädigung nach § 125 StGB sowie der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt. Diesem Schuldspruch lag zugrunde, dass der Revisionswerber seine ehemalige Lebensgefährtin zur Herbeiholung des gemeinsamen Sohnes genötigt habe, indem er angekündigt habe, er werde sonst ihre Türe eintreten. Überdies habe er sie derart fest an den Haaren gezogen, dass er ihr ein Haarbüschel ausgerissen habe. Weiters habe er seiner ehemaligen Lebensgefährtin sinngemäß damit gedroht, ihrem neuen Partner die Beine brechen zu wollen. Die Sachbeschädigung sei dadurch erfolgt, dass der Revisionswerber seiner ehemaligen Lebensgefährtin eine Kette vom Hals gerissen und eine Kaffeetasse gegen die Eingangstür geworfen sowie ihr Fernsehgerät und ein Bild beschädigt habe. Mildernd wertete das Strafgericht die großteils geständige Verantwortung des Revisionswerbers, erschwerend hingegen das Zusammentreffen von vier Vergehen, den äußerst raschen Rückfall und die sieben einschlägigen Vorstrafen.

7 Am 2. Juni 2021 hatte das Bezirksgericht Graz Ost gegen den Revisionswerber eine einstweilige Verfügung erlassen, mit der ihm für den Zeitraum von einem Jahr unter anderem die Kontaktaufnahme mit der früheren Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Sohn untersagt worden war.

8 Wegen der vom Revisionswerber begangenen Straftaten erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 11. August 2021 gegen ihn gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein einjähriges Aufenthaltsverbot, gewährte ihm in Anwendung des letzten Halbsatzes des § 70 Abs. 3 FPG keinen Durchsetzungsaufschub und erkannte einer Beschwerde gegen dieses Aufenthaltsverbot gemäß § 18 Abs. 3 BFA VG die aufschiebende Wirkung ab.

9 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 10. November 2021 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

10 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen hat:

11 Die Revision erweist sich wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.

12 Das BVwG hat nämlich wie die Revision in ihrem Zulässigkeitsvorbringen zu Recht geltend macht dem Umstand, dass der Revisionswerber von klein auf in Österreich aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist, weshalb der frühere Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA VG erfüllt wurde, bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG nicht die gebotene Bedeutung zugemessen.

13 Der genannte § 9 Abs. 4 Z 2 BFA VG normierte bis zu seiner Aufhebung durch das FrÄG 2018, dass gegen einen aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen bei Vorliegen der erwähnten Voraussetzungen eine Rückkehrentscheidung (überhaupt) nicht erlassen werden dürfe. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind die Wertungen der ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 BFA VG, die auch auf (rechtmäßig aufhältige) Unionsbürger anzuwenden waren (vgl. dazu VwGH 15.12.2020, Ra 2020/21/0484, Rn. 17, mwN), im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG insofern weiterhin beachtlich, als in diesen Fällen nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen ein fallbezogener Spielraum für die Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen besteht (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 17.11.2022, Ra 2020/21/0015, Rn. 9, mwN).

14 Eine demnach für die Verhängung aufenthaltsbeendender Maßnahmen in einem solchen Fall erforderliche besonders gravierende bzw. schwere Straffälligkeit im Sinn der Begehung besonders verwerflicher Straftaten und eine daraus abzuleitende spezifische Gefährdung, die in der vorliegenden Konstellation eine Durchbrechung des in solchen Fällen typischerweise anzunehmenden Überwiegens der privaten und familiären Interessen erlaubt (vgl. etwa VwGH 30.11.2023, Ra 2022/21/0133, Rn. 20, mwN), lässt sich aus der eingangs dargestellten Straffälligkeit des Revisionswerbers aber selbst in einer Gesamtschau (vgl. dazu der Sache nach VwGH 30.3.2023, Ra 2021/21/0344, Rn. 23/24, und darauf Bezug nehmend VwGH 30.3.2023, Ra 2021/21/0172, Rn. 10) nicht ableiten.

15 Das BVwG gab zwar die in Rn. 13/14 erwähnte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unter Berufung auf zahlreiche Judikate in seiner Begründung referierend wieder und ordnete in der Folge die verübten Taten in ihrer Gesamtheit als besonders schweres Verbrechen ein. Es hätte bei der Beurteilung des vorliegenden Falles jedoch auf die Art und Schwere der Straftaten abstellen und dabei zugunsten des Revisionswerbers zunächst darauf Bedacht nehmen müssen, dass die von ihm (bezogen auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses) bereits vor mehr als dreizehn Jahren verübten Vergehen und Verbrechen als Jugendlicher und junger Erwachsener begangen wurden und sich der Revisionswerber in der Folge nach der Entlassung Anfang Mai 2012 für einen Zeitraum von immerhin mehr als fünf Jahren wohlverhielt. Dem wurde was die Revision zu Recht ins Treffen führt mit der an mehreren Stellen des angefochtenen Erkenntnisses zugrunde gelegten Annahme, der Revisionswerber habe über einen Zeitraum „von etwa 16 Jahren“ ein „qualifiziertes, strafrechtswidriges Fehlverhalten“ gesetzt, nicht ausreichend Rechnung getragen. Soweit das BVwG weiters eine sich steigernde kriminelle Energie des Revisionswerbers annimmt, übersieht es, dass den drei Verurteilungen seit dem Jahr 2017 jeweils ausschließlich Vergehen zugrunde lagen und zwei dieser Verurteilungen durch ein Bezirksgericht zu nicht einmal sechs Monate erreichenden Freiheitsstrafen erfolgten.

16 Die strafgerichtlichen Verurteilungen des Revisionswerbers ab dem Jahr 2017 können zwar insbesondere mit Blick auf das Fehlverhalten gegenüber der Mutter seines Sohnes und den raschen Rückfall nicht verharmlost werden. Allerdings ergibt sich auch in Kombination mit den als Jugendlicher bzw. junger Erwachsener begangenen, im Zeitraum bis November 2008 verübten, somit schon länger zurückliegenden Straftaten und den vom BVwG festgestellten Tatumständen keine aus „besonders verwerflichen Straftaten“ abzuleitende „spezifische Gefährdung“ (vgl. dazu etwa VwGH 11.11.2021, Ra 2021/21/0243, Rn. 14, mit Hinweis auf VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0238, Rn. 12, mwN), die es erlaubt hätte, gegen den von klein auf in Österreich aufgewachsenen, im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt 32 jährigen Revisionswerber, der nahezu sein gesamtes bisheriges Leben in Österreich verbracht hat und hier über familiäre Bindungen verfügt, aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu erlassen.

17 Das angefochtene Erkenntnis war daher schon deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

18 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 29. August 2024

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