Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger und den Hofrat Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Thaler, über die Revision des Ü Ü, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen das am 20. April 2021 mündlich verkündete und mit 22. Juni 2021 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, L510 2219161 1/13E, betreffend Erlassung einer Ausweisung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
1 Der 1986 geborene Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, stellte nach seiner Einreise im März 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Dezember 2015 wieder zurückzog. Am 25. Juli 2015 hatte er nämlich eine polnische Staatsangehörige geheiratet, weshalb ihm antragsgemäß eine Aufenthaltskarte als Angehöriger dieser EWR Bürgerin mit Gültigkeit vom 4. November 2015 bis 3. November 2020 ausgestellt wurde. Die Ehe, der keine Kinder entstammen, wurde am 3. Oktober 2016 wieder geschieden.
2 Am 24. August 2017 gab der Revisionswerber der Niederlassungsbehörde die Scheidung seiner Ehe bekannt und stellte einen „Zweckänderungsantrag“ auf Ausstellung einer „Rot Weiß Rot Karte plus“.
3 Daraufhin, nämlich mit Schreiben vom 12. September 2017, befasste die Niederlassungsbehörde gemäß § 55 Abs. 3 NAG das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), das mit Bescheid vom 15. April 2019 den Revisionswerber gemäß § 66 Abs. 1 FPG iVm § 55 Abs. 3 NAG aus dem österreichischen Bundesgebiet auswies und ihm gemäß § 70 Abs. 3 FPG einen Durchsetzungsaufschub von einem Monat erteilte.
4 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20. April 2021 verkündeten und mit 22. Juni 2021 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis als unbegründet ab und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die sich unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als unzulässig erweist.
6 Nach der genannten Verfassungsbestimmung ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
7 An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision unter dem genannten Gesichtspunkt nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
8 Rechtsgrundlage für die mit der gegenständlichen Revision bekämpfte aufenthaltsbeendende Maßnahme ist § 66 Abs. 1 FPG iVm § 55 Abs. 3 NAG, wonach eine Ausweisung unter anderem dann erlassen werden kann, wenn das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht mehr besteht. Liegen die Voraussetzungen für dieses Aufenthaltsrecht nicht mehr vor, hat die Niederlassungsbehörde gemäß der zuletzt genannten Bestimmung zunächst das BFA „hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung“ zu befassen. Unterbleibt eine Aufenthaltsbeendigung von Drittstaatsangehörigen, die Angehörige sind, aber diese Voraussetzungen nicht mehr erfüllen, ist diesen (ehemaligen) Angehörigen gemäß § 55 Abs. 5 NAG ein Aufenthaltstitel „Rot Weiß Rot Karte plus“ quotenfrei zu erteilen. In diesem Sinne ist der auf Ausstellung einer „Rot Weiß Rot Karte plus“ gerichtete „Zweckänderungsantrag“ des Revisionswerbers, der sich nach der Scheidung mangels Vorliegens der Voraussetzungen für dessen (ausnahmsweisen) Weiterbestand nach § 54 Abs. 5 NAG: zu Recht nicht mehr auf das aus der Ehe mit einer EWR Bürgerin abgeleitete unionsrechtliche Aufenthaltsrecht berufen hatte, zu deuten (siehe dazu, dass die auf eine Verlängerung oder Zweckänderung von Aufenthaltstiteln abstellenden §§ 24 bis 26 NAG bei Anträgen auf Erteilung von Aufenthaltstiteln im Anschluss an die Dokumentation eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nicht anzuwenden sind und in solchen Fällen gemäß § 55 NAG vorzugehen ist, bereits VwGH 17.11.2011, 2009/21/0378).
9 Das BVwG stellte im Hinblick auf das Beschwerdevorbringen des Revisionswerbers zum (behaupteten) Erwerb einer Berechtigung nach Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 fest, dass der Revisionswerber ab Februar 2016 mit Unterbrechungen immer wieder im Bundesgebiet beruflich tätig gewesen und seit 6. November 2017 somit im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses am 20. April 2021 mehr als drei Jahre lang beim selben Arbeitgeber beschäftigt sei. Ein aus Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 direkt ableitbares Aufenthaltsrecht verneinte das BVwG jedoch letztlich mit der Begründung, der Revisionswerber habe spätestens seit der Scheidung im Oktober 2016 das aus der Ehe mit einer EWR Bürgerin abgeleitete unionsrechtliche Aufenthaltsrecht in Österreich verloren, weshalb keine „ordnungsgemäße Beschäftigung“ iSd Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 vorliege.
10 Gegen diese Auffassung des BVwG wendet sich die Revision in der Zulässigkeitsbegründung mit dem Hinweis auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, der zufolge ein Fremder nach Wegfall des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts bis zum Abschluss des nach § 55 NAG vorgesehenen Verfahrens rechtmäßig aufhältig bleibe, und macht geltend, dass der Revisionswerber somit durch seine Beschäftigung während dieses Verfahrens ein Aufenthaltsrecht gemäß Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 erlangt habe.
11 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die „Ordnungsmäßigkeit“ einer während eines bestimmten Zeitraumes ausgeübten Beschäftigung, auf die Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 abstellt, anhand der Rechtsvorschriften des Aufnahmestaates zu prüfen, welche die Voraussetzungen regeln, unter denen der türkische Staatsangehörige in das nationale Hoheitsgebiet gelangt ist und dort eine Beschäftigung ausübt; die Beschäftigung ist daher nur dann „ordnungsgemäß“, wenn sie im Einklang mit den arbeitserlaubnisrechtlichen und aufenthaltsrechtlichen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaates steht. Die „Ordnungsmäßigkeit“ der Beschäftigung setzt eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats und damit das Bestehen eines nicht bestrittenen Aufenthaltsrechts voraus (vgl. etwa VwGH 9.7.2021, Ra 2021/22/0120, Rn. 16, unter Hinweis u.a. auf VwGH 24.3.2015, Ro 2014/09/0057, sowie auf näher genannte Judikatur des Gerichtshofs der Europäischen Union, u.a. auf EuGH 8.11.2012, C 268/11, Gülbahce , Rn. 39, wo bei der „Ordnungsmäßigkeit“ der Beschäftigung iSd Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 auch auf eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position und damit auf ein nicht bestrittenes Aufenthaltsrecht abgestellt wurde; so im Übrigen etwa auch EuGH 7.11.2013, C 225/12, Demir , Rn. 48).
12 Im vorliegenden Fall war der Revisionswerber wie durch die ihm erteilte Aufenthaltskarte auch dokumentiert wurde für die Dauer der Ehe mit einer in Österreich ihr Recht auf Freizügigkeit ausübenden EWR Bürgerin vom 25. Juli 2015 bis 3. Oktober 2016 gemäß dem Art. 7 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) umsetzenden § 54 Abs. 1 NAG zum Aufenthalt und daher gemäß § 1 Abs. 2 lit. l AuslBG ohne Weiteres auch zur Aufnahme einer unselbständigen Beschäftigung berechtigt. In diesem Zeitraum hatte der Revisionswerber daher eine „gesicherte Position“ entsprechend der in Rn. 11 angeführten Judikatur und war somit „ordnungsgemäß“ beschäftigt iSd Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80. Allerdings erfüllte er in diesem Zeitraum nicht (einmal) die Voraussetzungen nach dem ersten Spiegelstrich der genannten Bestimmung („ein Jahr ordnungsgemäße Beschäftigung bei dem gleichen Arbeitgeber“), sodass er insoweit keine Rechte aus dem ARB Nr. 1/80 ableiten kann.
13 Eine für die Verwirklichung des Tatbestandes nach dem ersten und zweiten Spiegelstrich des Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 durchgehende Beschäftigung von einem Jahr beim selben Arbeitgeber und insgesamt von drei Jahren im „gleichen Beruf“ lag erst aufgrund der festgestellten Tätigkeit des Revisionswerbers beim selben Arbeitgeber ab 6. November 2017, somit während des Verfahrens vor dem BFA nach § 55 Abs. 3 NAG „hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung“, vor.
14 In diesem Zeitraum verfügte der Revisionswerber nach der Scheidung der Ehe völlig unstrittig über kein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht mehr; damit war auch das Recht auf „Arbeitnehmerfreizügigkeit“ nicht mehr gegeben (vgl. VwGH 22.12.2020, Ro 2020/09/0011, Rn. 27, mwN). Nach der in der Revision angesprochenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bleibt zwar ein Fremder, für den eine Dokumentation eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts ausgestellt wurde, selbst bei Wegfall des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts bis zum Abschluss des nach § 55 NAG vorgesehenen Verfahrens gemäß § 31 Abs. 1 Z 2 FPG rechtmäßig aufhältig (vgl. etwa VwGH 15.3.2018, Ra 2017/21/0191, Rn. 17, mit Hinweis auf VwGH 18.6.2013, 2012/18/0005). Von einer „gesicherten Position“ im Sinne der in Rn. 11 referierten Judikatur kann jedoch in diesem Zeitraum trotzdem nicht gesprochen werden, weil in diesem Verfahren die Zulässigkeit der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme geprüft wird. Der Umstand, dass der Betroffene für die Dauer des nach § 55 NAG vorgesehenen Verfahrens vorläufig weiterhin über einen rechtmäßigen Aufenthalt verfügt, ändert somit nichts daran, dass seine Position ab dem Wegfall des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts bis zur endgültigen Entscheidung über die allfällige Zulässigkeit der Fortsetzung seines Aufenthalts unsicher ist und von einem unbestrittenen Aufenthaltsrecht keine Rede sein kann (vgl. dazu auch VwGH 22.8.2023, Ra 2021/21/0212, Rn. 13, wo unter Bezugnahme auf Vorjudikatur davon ausgegangen wurde, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen nach der Scheidung der mit einer EWR Bürgerin geschlossenen Ehe wegen des damit verbundenen Wegfalls des von der Ehefrau abgeleiteten Aufenthaltsrechts als „unsicher“ iSd § 9 Abs. 2 Z 8 BFA VG zu qualifizieren war). Jedenfalls mit der nach dem Wegfall des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts gemäß den Vorgaben des § 55 Abs. 3 NAG vorgenommenen Einleitung und Führung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendigenden Maßnahme (in Form einer Ausweisung) kommt ganz klar zum Ausdruck, dass dem Drittstaatsangehörigen aus behördlicher Sicht auch kein sonstiges Aufenthaltsrecht (etwa gestützt auf Art. 8 EMRK) zusteht, er somit über kein als Voraussetzung für die „Ordnungsmäßigkeit“ der Beschäftigung iSd Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 erforderliches (siehe dazu oben Rn. 11) unbestrittenes Aufenthaltsrecht (mehr) verfügt.
15 Ein nach nationalem Recht eingeräumtes vorläufiges Aufenthaltsrecht (lediglich) bis zum Abschluss des Verfahrens zur Klärung, ob eine aufenthaltsbeendende Maßnahme zu erlassen ist, stellt somit keine ausreichend gesicherte Grundlage für den Erwerb von Zeiten einer „ordnungsgemäßen Beschäftigung“ dar (siehe zu einer mit dem vorliegenden Fall vergleichbaren Konstellation auch EuGH 7.11.2013, C 225/12, Demir , Rn. 47/48 iVm der zweiten Vorlagefrage, wonach die Ausübung einer Beschäftigung durch einen türkischen Arbeitnehmer im Rahmen einer nach nationalem Recht eingeräumten Erlaubnis zum vorläufigen rechtmäßigen Aufenthalt, die nur bis zur endgültigen abschlägigen Entscheidung über sein Aufenthaltsrecht gilt, nicht als „ordnungsgemäß“ einzustufen sei; vgl. in diesem Sinn bereits EuGH 16.12.1992, C 237/91, Kus , Rn. 18). Andernfalls könnte die Entscheidung, eine aufenthaltsbeendende Maßnahme zu erlassen, dadurch unterlaufen werden, dass im Zeitraum bis zur endgültigen Klärung dieser Frage durch die bloße Ausübung einer Beschäftigung eine ansonsten nicht bestehende ARB Berechtigung erworben wird (siehe auch dazu EuGH 16.12.1992, C 237/91, Kus , nunmehr Rn. 15/16, wo die Auffassung, während eines Rechtsmittelverfahrens mit aufschiebender Wirkung zurückgelegte Beschäftigungszeiten seien nicht als „ordnungsgemäß“ anzusehen, damit begründet wurde, dass andernfalls einer Gerichtsentscheidung, durch die dem Betroffenen das Aufenthaltsrecht endgültig verweigert wird, jede Bedeutung genommen würde).
16 Angesichts dieser vor dem Hintergrund der schon bestehenden Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes und des Gerichtshofes der Europäischen Union eindeutigen Rechtslage kann dem Einwand des Revisionswerbers, er habe Rechte nach Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 erworben, die seiner Ausweisung entgegenstünden, nicht gefolgt werden. Mit der in Rn. 10 (zusammengefasst) wiedergegebenen Begründung der Zulässigkeit der Revision im Sinne eines (angeblichen) Abweichens von bisheriger Judikatur werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG mit Beschluss zurückzuweisen.
Wien, am 25. Oktober 2023