JudikaturVwGH

Ra 2021/21/0196 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
22. Februar 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger und den Hofrat Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Thaler, über die Revision der A M, vertreten durch Mag. Sonja Scheed, Rechtsanwältin in 1220 Wien, Brachelligasse 16, gegen das am 1. März 2021 mündlich verkündete und mit 21. April 2021 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, L518 1414129 3/7E, betreffend Abweisung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 und Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

1 Die ihren Angaben zufolge 1981 geborene Revisionswerberin, eine armenische Staatsangehörige, reiste im Dezember 2009 illegal nach Österreich ein. Sie und ihr mitgereister so ihre Behauptungen, von denen im Folgenden ausgegangen wird 1999 geborener Adoptivsohn sowie ihr damaliger (angeblicher) Lebensgefährte stellten Anträge auf internationalen Schutz, die letztlich der Asylgerichtshof im Beschwerdeweg (jeweils) mit Erkenntnis vom 21. Juni 2011 in Verbindung mit einer Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Armenien rechtskräftig abwies.

2 Danach verblieb die Revisionswerberin (ebenso wie ihr Adoptivsohn und ihr damaliger Lebensgefährte) in Österreich. Mehreren Ladungsbescheiden des Bundesasylamtes mit dem Ziel der Effektuierung ihrer Ausreise leistete die Revisionswerberin keine Folge, weshalb am 3. Mai 2012 ein Festnahmeauftrag gegen sie erlassen wurde. Bemühungen um die Ausstellung eines Heimreisezertifikates für die Revisionswerberin blieben erfolglos, weil wie die Konsularabteilung der armenischen Botschaft am 20. November 2013 mitteilte eine Klärung der Identität der Revisionswerberin mit den von ihr gemachten Angaben zu ihrer Person nicht möglich gewesen sei.

3 Am 20. August 2018 stellten die Revisionswerberin und ihr Adoptivsohn jeweils einen Antrag gemäß § 55 AsylG 2005 auf Erteilung eines „Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK“. Auf dem Antragsformular gab die Revisionswerberin nunmehr an, aserbaidschanische Staatsangehörige zu sein. Unter einem wurde ein Antrag auf Heilung gemäß § 4 Abs. 1 Z 3 AsylG DV 2005 mit der Begründung gestellt, dass „mangels endgültig geklärter Staatsangehörigkeit“ ein Reisedokument nicht vorgelegt werden könne.

4 Noch am selben Tag erteilte das BFA der Revisionswerberin einen Verbesserungsauftrag mit der Aufforderung, entsprechend § 8 Abs. 1 Z 1 und 2 AsylG DV 2005 ein gültiges Reisedokument und eine Geburtsurkunde oder ein dieser gleichzuhaltendes Dokument zum Nachweis der Identität vorzulegen. Daraufhin verwies die Revisionswerberin auf ihren Antrag auf Mängelheilung.

5 Mit Mandatsbescheid vom 21. Juni 2019 verhängte das BFA gemäß § 57 Abs. 1 FPG über die Revisionswerberin eine Wohnsitzauflage, wobei sie der darin ausgesprochenen Verpflichtung nicht nachkam.

6 Mit Bescheid vom 2. Dezember 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag der Revisionswerberin auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 ab, erließ gegen die Revisionswerberin gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Armenien zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gewährt. Unter einem wies das BFA den Antrag der Revisionswerberin auf Heilung eines Mangels gemäß § 4 Abs. 1 iVm § 8 Abs. 1 Z 1 und 2 AsylG DV 2005 ab. Der Antrag des Adoptivsohnes blieb ebenfalls erfolglos.

7 Die dagegen erhobene Beschwerde der Revisionswerberin und ihres Adoptivsohnes wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen, in der mündlichen Verhandlung am 1. März 2021 mündlich verkündeten und mit 21. April 2021 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis als unbegründet ab und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

8 In seiner Begründung stellte das BVwG unter anderem die Dauer des Aufenthalts in Österreich von elfeinhalb Jahren, wovon jedoch lediglich der Aufenthalt während des Asylverfahrens (allerdings nur aufgrund einer vorläufigen asylrechtlichen Aufenthaltsberechtigung) rechtmäßig gewesen sei, fest. Die unbescholtene Revisionswerberin habe 2016 die Deutsch Prüfung auf dem Niveau B1 absolviert, gehe einer ehrenamtlichen Tätigkeit im Ausmaß von rund 30 Stunden pro Monat nach, habe aber bislang noch keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen. Sie lebe von der Grundversorgung, wobei eine Einstellungszusage für eine Tätigkeit als Kindergartenassistentin vorliege. Jedoch könne die Identität der Revisionswerberin nicht festgestellt werden, weil sie von ihr verschleiert werde; lediglich deshalb halte sich die Revisionswerberin noch in Österreich auf. Dies begründete das BVwG beweiswürdigend damit, dass die Revisionswerberin keinerlei taugliche Versuche unternommen habe, Reisedokumente zu erlangen, und zwecks Vereitelung ihrer Abschiebung versucht habe, ihre Identität, Herkunft und das Vorhandensein von Dokumenten zu verheimlichen, was sich insbesondere aus ihrem widersprüchlichen Aussageverhalten zu ihrer Staatsangehörigkeit, zur Existenz eines Reisepasses und einer Geburtsurkunde für den Adoptivsohn sowie aus ihren vagen Angaben über ihre Herkunftsregion ableiten lasse. Die Revisionswerberin habe seit 2011 die Mitwirkung im „fremdenrechtlichen Verfahren“ (gemeint: zur Außerlandesbringung) verweigert.

9 Rechtlich verwies das BVwG im Rahmen der Interessenabwägung auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend vom Überwiegen persönlicher Interessen am Verbleib in Österreich auszugehen sei, wenn dem Umstände entgegen stünden, welche die Aufenthaltsdauer im Inland relativierten. Im vorliegenden Fall seien die integrationsbegründenden Schritte erst einige Jahre nach der Einreise und im Laufe eines großteils unrechtmäßigen Aufenthalts erfolgt, in dem sich die Revisionswerberin der Unsicherheit ihres Aufenthaltsstatus bewusst gewesen sei. Überdies habe sie über ihre Staatsangehörigkeit zu täuschen versucht, unberechtigte Anträge gestellt sowie an der Feststellung ihrer Identität und an der Ausstellung eines Heimreisezertifikates nicht mitgewirkt. Deshalb überwiege das private Interesse der Revisionswerberin an einem Verbleib in Österreich nicht die öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung.

10 Gegen dieses Erkenntnis, soweit es die Revisionswerberin betrifft, richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die sich unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als unzulässig erweist.

11 Nach der genannten Verfassungsbestimmung ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

12 An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision unter dem genannten Gesichtspunkt nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).

13 Unter dem Gesichtspunkt ihrer Zulässigkeit wendet sich die Revision gegen die für die Beurteilung der Voraussetzungen nach § 55 AsylG 2005 und der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung nach § 9 BFA VG gleichermaßen maßgebliche Interessenabwägung und macht das Abweichen des BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen sei, geltend. Die bei der Interessenabwägung nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes sonst noch zu berücksichtigenden Aspekte seien auch nicht entsprechend gewichtet worden. Da das BVwG der Revisionswerberin „alltagstaugliche“ Deutschkenntnisse und ferner zugestanden habe, dass die Revisionswerberin einer ehrenamtlichen Tätigkeit nachgehe sowie über eine Einstellungszusage und über mehrere Empfehlungsschreiben verfüge, könne von einem völligen Fehlen jeglicher Integration keine Rede sein.

14 Nach der auch in der Revision ins Treffen geführten ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zwar bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an seinem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurde eine aufenthaltsbeendende Maßnahme ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte erachtete der Verwaltungsgerichtshof was in der Revision auch eingeräumt wird allerdings ein Überwiegen des persönlichen Interesses eines Fremden an einem Verbleib im Inland dann nicht als zwingend, wenn dem Umstände entgegen stehen, die das gegen diesen Verbleib sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (vgl. etwa VwGH 2.3.2023, Ra 2021/21/0158, Rn. 22, mwN).

15 Entgegen dem Revisionsvorbringen setzte sich das BVwG mit dieser Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes auseinander und nahm überdies auch auf die in der Revision hervorgehobenen Aspekte allerdings mit dem zutreffenden Hinweis auf die relativierende Wertung des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA VG (Integration während bloß unsicheren Aufenthaltsstatus) ausreichend Bedacht. Dem in der Revision wiederholt ins Treffen geführten Familienleben mit dem Adoptivsohn kommt dabei ungeachtet dessen, dass die gegen ihn erlassene Rückkehrentscheidung mit dem Erkenntnis VwGH 29.1.2024, Ra 2021/17/0149, wegen Begründungsmängeln aufgehoben wurde keine maßgebliche Bedeutung zu, war er doch im Entscheidungszeitpunkt des BVwG bereits erwachsen und seit mehr als drei Jahren volljährig. Das BVwG durfte nämlich fallbezogen vor allem von einer entscheidenden Relativierung der Aufenthaltsdauer im Sinne der erwähnten Rechtsprechung ausgehen, weil dieser Aufenthalt zunächst nur auf einem unberechtigten Asylantrag beruhte, die Revisionswerberin nach Beendigung des Asylverfahrens im Juni 2011 trotz der ihr rechtskräftig auferlegten Ausreiseverpflichtung unrechtmäßig im Bundesgebiet verblieb und - im vorliegenden Fall besonders maßgeblich - die Revisionswerberin ihre Identität verschleiert und damit, aber auch durch die Nichtbefolgung von Ladungen mangels Durchführbarkeit einer Außerlandesbringung ihren Aufenthalt im Bundesgebiet verlängert hat. Dieser Einschätzung wird in der Revision nichts Stichhaltiges entgegengehalten. Vielmehr bezog sich die Revision ebenfalls auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (Hinweis auf VwGH 4.8.2016, Ra 2015/21/0249 bis 0253), wonach zu den relativierenden Umständen (unter anderem) unrichtige Identitätsangaben zählen, soweit sie für die lange Aufenthaltsdauer kausal waren (siehe in diesem Sinn auch das grundlegende Erkenntnis VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, Rn. 13, mwN). Die Revisionswerberin bestreitet dann zwar noch pauschal eine solche Kausalität im vorliegenden Fall, vermag aber mit diesen unsubstantiierten Ausführungen die gegenteilige Annahme des BVwG nicht zu erschüttern.

16 Insgesamt gelingt es der Revision somit nicht, eine Unvertretbarkeit der unter Verwertung des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks von der Revisionswerberin an Hand der Kriterien des § 9 Abs. 2 BFA VG vorgenommenen Interessenabwägung aufzuzeigen.

17 Die unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommene Interessenabwägung ist aber im Allgemeinen wenn sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde nicht revisibel (vgl. dazu erneut VwGH 2.3.2022, Ra 2021/21/0158, Rn. 30, mwN).

18 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Sie war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

Wien, am 22. Februar 2024

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