JudikaturVwGH

Ra 2021/17/0185 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
Europarecht
19. Dezember 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie die Hofräte Dr. Schwarz und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revisionen der 1. F V, der 2. mj. A V, des 3. mj. A V und der 4. mj. B V, die Zweit bis Viertrevisionswerber vertreten durch die Erstrevisionswerberin, alle in W, alle vertreten durch Rast Musliu Rechtsanwälte in 1080 Wien, Alser Straße 23/14, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. September 2021, 1. W105 2246101 1/2E, 2. W105 2246099 1/2E, 3. W105 2246102 1/2E und 4. Zl. W105 2246104 1/2E, jeweils betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 und Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

1 Die Revisionswerber, alle Staatsangehörige Nordmazedoniens, stellten am 30. Oktober 2019 (Erst bis Drittrevisionswerber) und am 9. Jänner 2020 (Viertrevisionswerberin) jeweils einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 Abs. 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der minderjährigen Zweit bis Viertrevisionswerber.

2 Diese Anträge wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheiden vom 13. August 2021 (Erst bis Drittrevisionswerber) und mit Bescheid vom 17. August 2023 (Viertrevisionswerberin) ab (jeweils Spruchpunkt I.). Unter einem erließ es gegen die Revisionswerber gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 eine Rückkehrentscheidung (jeweils Spruchpunkt II.) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) fest, dass ihre Abschiebung „nach Mazedonien“ zulässig sei (jeweils Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG legte es eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise der Revisionswerber fest (jeweils Spruchpunkt IV.).

3 Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) mit dem angefochtenen Erkenntnis unbegründet ab. Es sprach weiters aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

Das Verwaltungsgericht traf Feststellungen zum Aufenthalt der Revisionswerber in Österreich, ihrem Privat und Familienleben sowie der Situation in ihrem Heimatstaat, und führte im Wesentlichen aus, die Erstrevisionswerberin lebe zwar schon seit ungefähr sieben Jahren in W, sie habe aber keine wesentlichen Integrationsschritte gesetzt und sie könne nur rudimentäre Deutschkenntnisse vorweisen. Sonstige Angehörige der Revisionswerber würden nicht in Österreich leben. Die Erstrevisionswerberin habe sich nie um einen legalen Aufenthalt für sich und die Mitrevisionswerber bemüht. Eine mündliche Verhandlung habe unterbleiben können, weil der Sachverhalt anhand der Verwaltungsakten der belangten Behörde hinreichend geklärt sei.

4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

5 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8 Aus § 21 Abs. 7 BFA VG ergibt sich, dass die Unterlassung einer Verhandlung nur dann einen relevanten, zur Aufhebung führenden Verfahrensmangel begründet, wenn ein entscheidungswesentlicher Sachverhalt klärungsbedürftig ist; dieser ist in der Revision dazutun (vgl. VwGH 9.3.2023, Ra 2023/17/0035, mwN), was vorliegend nicht der Fall ist.

9 Eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist im Allgemeinen wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG (vgl. VwGH 19.4.2023, Ra 2022/17/0232, mwN).

Das persönliche Interesse des Fremden an einem Verbleib in Österreich nimmt grundsätzlich mit der Dauer des bisherigen Aufenthalts des Fremden zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist freilich nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles vor allem zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren. Bei der Einschätzung des persönlichen Interesses ist auch auf die Auswirkungen, die eine Aufenthaltsbeendigung auf die familiären oder sonstigen Bindungen des Fremden hätte, Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 3.1.2023, Ra 2022/17/0198, mwN).

10 Die konkrete Gewichtung des Kindeswohls im Rahmen der nach § 9 BFA VG vorzunehmenden Gesamtbetrachtung hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Das gilt sinngemäß auch für die mit der Interessenabwägung im Zusammenhang stehende Frage der Verhältnismäßigkeit einer Abschiebung. Wie auch bei anderen einzelfallbezogenen Beurteilungen liegt eine grundsätzliche Rechtsfrage iSd. Art. 133 Abs. 4 B VG nur dann vor, wenn diese Einschätzung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Weise, also krass fehlerhaft, vorgenommen wurde (vgl. erneut VwGH 19.4.2023, Ra 2022/17/0232, mwN).

Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung weist die Interessenabwägung des Bundesverwaltungsgerichts auch unter Berücksichtigung des Schutzes des Kindeswohls keinen im Revisionsverfahren aufzugreifenden Mangel auf. Das Verwaltungsgericht berücksichtigte fallbezogen vielfältige Aspekte des Kindeswohls wie zunächst, dass keine Trennung der Kinder von der Mutter erfolge. Die Erstrevisionswerberin spreche mit den Kindern Albanisch. Angesichts der von den Revisionswerbern bezogenen monatlichen Leistungen der PVA von € 1.170, , was fast den dreifachen Betrag eines Durchschnittseinkommens in Nordmazedonien darstelle, sei den Revisionswerbern dort „ein Überleben“ zumutbar. Außerdem bestünden familiäre Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat. Mit Blick auf diese Erwägungen gelangte das Verwaltungsgericht auch unter Berücksichtigung des Kindeswohls anhand der in § 138 ABGB niedergelegten Gesichtspunkte zutreffend zum Ergebnis, dass die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung die privaten Interessen der Revisionswerber an einem Verbleib im Inland überwiegen würden, zumal auch das Kindeswohl lediglich einen Aspekt einer anzustellenden Gesamtbetrachtung darstellt (vgl. wiederum VwGH 19.4.2023, Ra 2022/17/0232, mwN).

11 Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. wiederum VwGH 19.4.2023, Ra 2022/17/0232, mwN). Mit dem bloß pauschal gehaltenen Zulässigkeitsvorbringen, das Verwaltungsgericht habe ihre tiefgreifende Integration nicht gewürdigt, zeigen die Revisionswerber einen derartigen Fehler nicht auf.

12 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 19. Dezember 2023

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