Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. August 2020, W131 2176335 1/31E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: Z T), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara aus der Provinz Ghazni, stellte am 21. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er damit begründete, er habe als Hilfsarbeiter für die afghanische Regierung gearbeitet und deshalb Drohbriefe von den Taliban erhalten, weshalb er aus Angst um sein Leben geflüchtet sei.
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 18. Oktober 2017 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Der dagegen gerichteten Beschwerde des Mitbeteiligten gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis statt, erkannte dem Mitbeteiligten den Status des Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Weiters sprach das BVwG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
4 Das BVwG stellte fest, der Mitbeteiligte habe „für die afghanische Regierung Brunnen gebaut“. Die Taliban hätten dem Mitbeteiligten wegen dieser Tätigkeit eine talibanfeindliche Gesinnung zugeschrieben, dies „jedenfalls in der Provinz Ghazni“, und zwei Drohbriefe an den Mitbeteiligten gerichtet. In der Beweiswürdigung führte das BVwG aus, nach den Länderberichten würden die Taliban Personen, die für die Regierung arbeiten, als politische Gegner betrachten. Die Tätigkeit des Revisionswerbers im Zusammenhang mit der Errichtung von Brunnen betreffe einen für die afghanische Regierung besonders wichtigen Infrastrukturbereich. Durch seine „authentische Aussage“ sei es dem Revisionswerber gelungen, eine ihm in der Gegend seiner früheren Berufstätigkeit drohende Verfolgung seiner Person durch die Taliban glaubhaft zu machen. In der rechtlichen Würdigung hielt das BVwG fest, der Revisionswerber wäre im Fall einer Rückkehr in seine Heimatregion Ghazni mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus politischen Gründen ausgesetzt. Da er bei seiner Arbeit für die Regierung keinen Taliban persönlich verletzt oder getötet habe, stelle er sicherlich kein „high profile target“ im Sinne der UNHCR Richtlinien dar. Daher sei dem Grunde nach von der Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative, um sich dem Zugriff der Taliban zu entziehen, auszugehen. Vor dem Hintergrund der weltweiten Corona-Pandemie sei die Lage auf dem afghanischen Arbeitsmarkt jedoch derzeit sehr angespannt. Der Revisionswerber werde zumindest anfänglich auf Hilfstätigkeiten verwiesen werden müssen. Genau diese Verweisung sei allerdings aufgrund der derzeitigen Arbeitsmarktlage sehr stark erschwert, sodass nicht mit der erforderlichen Sicherheit erwartet werden könne, dass es dem Revisionswerber gelingen werde, sich kurz- bis mittelfristig eine Existenz zu sichern. Die Ansiedlung in einem anderen Landesteil Afghanistans als in der Herkunftsprovinz Ghazni sei dem Revisionswerber daher nicht zumutbar.
5 Die Amtsrevision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative abgewichen. Mit seinen pauschalen Ausführungen zur Situation in Afghanistan in Bezug auf die Covid 19 Pandemie habe das BVwG nicht nachvollziehbar dargelegt, warum gerade dem Mitbeteiligten als gesundem und arbeitsfähigem Mann, der über Berufserfahrung und Schulbildung verfüge, eine Ansiedlung in Mazar e Sharif, Herat oder Kabul nicht zumutbar wäre.
6 Der Mitbeteiligte erstattete zu dieser Revision eine Revisionsbeantwortung.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die Revision ist zulässig und begründet.
9 Vorauszuschicken ist, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des BVwG gemäß § 41 VwGG auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses zu prüfen ist. Dementsprechend entziehen sich Änderungen der Sach- und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren (vgl. etwa VwGH 4.4.2022, Ra 2021/19/0227, mwN).
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner jüngeren Rechtsprechung bereits wiederholt erkannt, dass eine schwierige Lebenssituation (bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht), die ein Asylwerber bei Rückführung in ein als innerstaatliche Fluchtalternative geprüftes Gebiet vorfinden würde, für sich betrachtet nicht ausreicht, um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen. Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, reicht es aber auch nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. dazu grundlegend VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001, mwN).
11 In Bezug auf die Covid 19 Pandemie und subsidiären Schutz ist darauf hinzuweisen, dass in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bereits klargestellt wurde, dass für sich nicht entscheidungswesentlich ist, wenn sich für einen Asylwerber infolge der seitens afghanischer Behörden zur Verhinderung der Verbreitung des SARS CoV 2 Virus und von Erkrankungen an Covid 19 gesetzten Maßnahmen die Wiedereingliederung im Heimatland wegen schlechterer wirtschaftlicher Aussichten schwieriger als vor Beginn dieser Maßnahmen darstellte, weil es darauf bei der Frage, ob im Fall seiner Rückführung eine Verletzung des Art. 3 EMRK zu gewärtigen ist, nicht ankommt, solange diese Maßnahmen nicht dazu führen, dass die Sicherung der existenziellen Grundbedürfnisse als nicht mehr gegeben anzunehmen wäre. Das gilt auch für die Beurteilung der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative (vgl. VwGH 18.3.2021, Ra 2020/18/0294, mwN).
12 Die vorliegende Amtsrevision macht zu Recht geltend, dass das BVwG keine ausreichenden Feststellungen über die konkret für den Mitbeteiligten zu erwartende Lage bei einer Ansiedlung in solchen Gebieten Afghanistans, die zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG als innerstaatliche Fluchtalternative in Frage gekommen wären, getroffen hat. Vielmehr hat das BVwG die Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative allein auf der Basis der ganz pauschalen Annahme geprüft (und verneint), vor dem Hintergrund der weltweiten Covid 19 Pandemie sei die Lage auf dem afghanischen Arbeitsmarkt derzeit „sehr angespannt“, weshalb nicht mit der erforderlichen Sicherheit erwartet werden könne, dass es dem Revisionswerber gelingen werde, sich kurz- bis mittelfristig eine Existenz zu sichern. Um der oben referierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gerecht zu werden, hätte das BVwG die Lage in bestimmten, zu diesem Zeitpunkt als innerstaatliche Fluchtalternativen in Frage kommenden Gebieten Afghanistans (etwa in der Stadt Mazar e Sharif) genauer feststellen müssen, um beurteilen zu können, ob für den Mitbeteiligten bei einer Ansiedlung in diesen Gebieten die Sicherung der existenziellen Grundbedürfnisse als nicht mehr gegeben anzunehmen gewesen wäre.
13 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 20. Mai 2022
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