Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick sowie die Hofrätinnen Dr. Pollak und MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision des C E in W, vertreten durch die Nitsch Pajor Zöllner Rechtsanwälte OG in 2340 Mödling, Hauptstraße 48, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. April 2020, Zl. W261 2227478 1/7E, betreffend Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Mit Bescheid vom 2. Dezember 2019 wies die belangte Behörde den Antrag des Revisionswerbers vom 7. August 2019 auf Feststellung seiner Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten gemäß §§ 2 und 14 Abs. 1 und 2 BEinstG ab. Unter einem sprach die Behörde aus, der Grad der Behinderung des Revisionswerbers betrage 30 %.
2 In seiner dagegen erhobenen Beschwerde brachte der Revisionswerber vor, es sei nicht nachvollziehbar, aus welchem Grund der Sachverständige den Grad der Behinderung mit 30 v.H. festgesetzt habe. Das neurologisch-psychiatrische Gutachten sei zudem unschlüssig und stelle keine geeignete Grundlage für die Entscheidung der belangten Behörde dar. Es wäre jedenfalls ein weiteres psychiatrisches Gutachten einzuholen gewesen. Der Revisionswerber leide zudem an Schädigungen im Bereich des Stütz und Bewegungsapparates, wobei sehr wohl Bewegungseinschränkungen im Bereich der Wirbelsäule sowie der Hüftgelenke vorlägen. Aus dem eingeholten Gutachten gehe zwar hervor, dass eine neurologische Untersuchung der oberen und unteren Extremitäten stattgefunden habe. Ob Bewegungseinschränkungen im Bereich der Lendenwirbelsäule bestünden, sei jedoch nicht geprüft worden. Es wäre somit ein weiteres orthopädisches Sachverständigengutachten einzuholen gewesen. Überdies wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab und bestätigte den Bescheid vom 2. Dezember 2019 mit der Maßgabe, dass die Anführung des Grades der Behinderung im Spruch entfalle. Gleichzeitig wurde gemäß § 25a VwGG ausgesprochen, dass eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B VG unzulässig sei.
4 Gestützt auf das von der belangten Behörde eingeholte Sachverständigengutachten vom 31. Oktober 2019 führte das Bundesverwaltungsgericht begründend aus, beim Revisionswerber liege kein Grad der Behinderung von mindestens 50 v.H. vor. Auch sei er dem medizinischen Sachverständigengutachten nicht ausreichend und insbesondere nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten. Es bestünden keine Zweifel an der Richtigkeit, Vollständigkeit und Schlüssigkeit des eingeholten nervenfachärztlichen Sachverständigengutachtens. Dieses werde daher der Entscheidung zu Grunde gelegt.
5 Die Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das Bundesverwaltungsgericht dahin, der maßgebliche Sachverhalt ergebe sich aus dem Akt der belangten Behörde und insbesondere aus dem von der belangten Behörde eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten, welches auf einer persönlichen Untersuchung des Revisionswerbers beruhe, sowie auf alle Einwände und die im Verfahren vorgelegten Atteste in fachlicher Hinsicht eingehe. Die strittige Tatsachenfrage, genauer die Art und das Ausmaß der Funktionseinschränkungen des Revisionswerbers seien einem Bereich zuzuordnen, der von einem Sachverständigen zu beurteilen sei. All dies lasse die Einschätzung zu, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lasse, und eine Entscheidung ohne vorherige Verhandlung nicht nur mit Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC kompatibel sei, sondern der Zweckmäßigkeit, Raschheit, Einfachheit und Kostenersparnis diene, aber gleichzeitig das Interesse der materiellen Wahrheit und der Wahrung des Parteiengehörs nicht verkürze.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die Revision ist zulässig, weil sie zutreffend vorbringt, das Verwaltungsgericht habe entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von einer mündlichen Verhandlung abgesehen. Die Revision ist auch begründet.
9 Nach der ständigen hg. Rechtsprechung geht es bei der Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten um ein „civil right“ im Sinn des Art. 6 EMRK, sodass die Durchführung einer Verhandlung essenziell ist (vgl. etwa VwGH 18.8.2020, Ra 2020/11/0087, 10.5.2022, Ra 2021/11/0135, jeweils mwN). Gerade die mündliche Verhandlung, deren Durchführung nicht im Belieben, sondern im pflichtgemäßen Ermessen des Verwaltungsgerichts steht (siehe VwGH 8.7.2015, Ra 2015/11/0036), ermöglicht es, im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit eines Parteienvorbringens zum körperlichen Befinden, insbesondere zu Schmerzzuständen, einerseits ergänzende Fragen an die beigezogenen Sachverständigen zu stellen und andererseits auch den für die Entscheidungsfindung wesentlichen persönlichen Eindruck vom Betroffenen zu gewinnen (VwGH 23.2.2022, Ra 2019/11/0057, mwN). Die Einschätzung des Grades der Behinderung auf der Grundlage eines medizinischen Sachverständigengutachtens stellt auch keine Frage bloß technischer Natur dar (vgl. auf die Judikatur des EGMR Bezug nehmend VwGH 8.7.2015, Ra 2015/11/0036).
10 Weiters haben Einwendungen gegen die Schlüssigkeit eines Gutachtens einschließlich der Behauptung, die Befundaufnahme sei unzureichend bzw. der Sachverständige gehe von unrichtigen Voraussetzungen aus, ebenso wie Einwendungen gegen die Vollständigkeit des Gutachtens auch dann Gewicht, wenn sie nicht auf gleicher fachlicher Ebene angesiedelt sind, also insbesondere auch ohne Gegengutachten erhoben werden. Die unvollständige und unrichtige Befundaufnahme vermag auch ein Laie nachvollziehbar darzulegen. Das Verwaltungsgericht ist in diesem Fall verpflichtet, sich mit diesen der Sachverhaltsebene zuzurechnenden Einwendungen in einer Verhandlung auseinanderzusetzen (vgl. etwa VwGH 10.5.2022, Ra 2021/11/0135, mwN).
11 In der vorliegenden Konstellation war das Bundesverwaltungsgericht somit gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG gehalten, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, zumal in Anbetracht des Beschwerdevorbringens und der dort gegen das Gutachten erhobenen Einwendungen der Sachverhalt nicht als geklärt zu betrachten war.
12 Das angefochtene Erkenntnis, mit dem das Verwaltungsgericht die Rechtslage insbesondere in Bezug auf die Erfordernisse der Durchführung einer mündlichen Verhandlung verkannte, war daher schon aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
13 Die Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG unterbleiben.
14 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff. VwGG iVm. der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 2. November 2022