JudikaturVfGH

E2149/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
28. November 2023

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16. Oktober 2020 wurde ihm der Status des Asylberechtigten aberkannt, der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt, kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt und gegen ihn eine Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem siebenjährigen Aufenthaltsverbot erlassen. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei und eine 14 tägige Frist für die freiwillige Ausreise gesetzt. Dieser Bescheid erwuchs mit Ablauf des 6. November 2020 in Rechtskraft.

2. Am 25. Jänner 2021 wurde der Beschwerdeführer von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes einer Identitätsfeststellung unterzogen. Dabei wies er sich mit einer Kopie eines österreichischen Konventionsreisepasses aus, der ihm mit Bescheid vom 23. Dezember 2020 entzogen wurde. Der Beschwerdeführer wurde auf Anordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl festgenommen und in ein Polizeianhaltezentrum überstellt.

3. Mit Mandatsbescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29. Jänner 2021 wurde über den Beschwerdeführer gemäß §76 Abs2 Z2 FPG iVm §57 Abs1 AVG die Schubhaft zum Zwecke der Sicherung seiner Abschiebung angeordnet.

4. Mit Schriftsatz vom 3. Februar 2021 erhob der Einschreiter Beschwerde gegen die Anhaltung vom 26. bis 29. Jänner 2021, gegen den Mandatsbescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29. Jänner 2021 und gegen seine fortdauernde Anhaltung.

5. Mit mündlich verkündetem Erkenntnis vom 10. Februar 2021 gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde hinsichtlich der Anhaltung vom 26. bis 29. Jänner 2021 statt und erklärte diese für rechtswidrig. Die Beschwerde gegen den Bescheid vom 29. Jänner 2021 und gegen die fortdauernde Anhaltung in Schubhaft wurde hingegen als unbegründet abgewiesen und festgestellt, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorgelegen seien. Dem Bund (Bundesminister für Inneres) wurde aufgetragen, dem Beschwerdeführer Barauslagen in Höhe von € 30,– binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen, während dem Beschwerdeführer aufgetragen wurde, dem Bund (Bundesminister für Inneres) Aufwendungen in Höhe von € 887,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Begründend wurde dazu im Wesentlichen das Folgende ausgeführt:

5.1. Einem dem Beschwerdeführer am 26. Jänner 2021 eigenhändig zugestellten, als "Mandatsbescheid" bezeichneten Schreiben, mit dem über den Beschwerdeführer die Schubhaft verhängt worden sei, fehle es mangels Unterschrift des genehmigenden Organs am Original im Akt an der erforderlichen Bescheidqualität. Sohin sei die Anhaltung des Beschwerdeführers in der Zeit vom 26. Jänner 2021 bis zur Erlassung des Schubhaftbescheides am 29. Jänner 2021 ohne Rechtsgrundlage erfolgt, weshalb die Rechtswidrigkeit dieser Anhaltung festzustellen gewesen sei.

5.2. Die Verhängung der Schubhaft ab dem 29. Jänner 2021 zur Sicherung der Abschiebung des Beschwerdeführers sei hingegen zu Recht erfolgt. So sei er bereits gegen Ende seines Asylaberkennungsverfahrens untergetaucht und habe dadurch nicht am Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen ihn mitgewirkt und folglich seine Abschiebung behindert. Wenngleich er in Österreich sozial verankert gewesen sei, habe er zuletzt keine legale Erwerbstätigkeit ausgeübt und habe es ihm an ausreichenden Existenzmitteln gefehlt. Zudem habe er über keinen gesicherten Wohnsitz verfügt. Schließlich habe ihn auch seine familiäre Verankerung in Österreich in der Vergangenheit nicht davon abgehalten unterzutauchen. Die Verhängung der Schubhaft sei vor dem Hintergrund mehrmaliger strafrechtlicher Verurteilungen des Beschwerdeführers zu Freiheitsstrafen wegen Vermögens- und Gewaltdelikten sowie wiederholter Verstöße gegen ein Betretungsverbot auch verhältnismäßig. Zudem sei innerhalb der höchstzulässigen Schubhaftdauer mit der Ausstellung eines Heimreisezertifikates und der Abschiebung des Beschwerdeführers zu rechnen gewesen. Insbesondere auf Grund seines strafrechtlich relevanten Fehlverhaltens und wiederholter Verstöße gegen ein Vertretungsverbot fehle es dem Beschwerdeführer an der für die Anwendung eines gelinderen Mittels erforderlichen Vertrauenswürdigkeit.

5.3. Vor dem Hintergrund der Aktualität und des Zukunftsbezuges der getroffenen Feststellungen zur Rechtmäßigkeit der Verhängung der Schubhaft über den Beschwerdeführer mit Bescheid vom 29. Jänner 2021 und ihrer rechtlichen Würdigung, seien keine, die Frage der Rechtmäßigkeit der weiteren Anhaltung in Schubhaft ändernden Umstände erkennbar.

6. Binnen offener Frist beantragte der Beschwerdeführer, vertreten durch die Deserteurs- und Flüchtlingsberatung, die schriftliche Ausfertigung des am 10. Februar 2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses.

7. Am 27. Februar 2021 wurde der Beschwerdeführer auf Grund mangelnder Haftfähigkeit durch einen seit dem 6. Februar 2021 andauernden Hungerstreik aus der Schubhaft entlassen.

8. Am 30. Mai 2023 erging die schriftliche Ausfertigung des am 10. Februar 2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses.

9. Am 15. September 2023 brachte der Beschwerdeführer eine auf Art144 B VG gestützte Beschwerde gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30. Mai 2023 ein, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973 behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird. Begründend wird dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass dem Beschwerdeführer auf Grund der beinahe 28 monatigen Ausfertigungsdauer des am 10. Februar 2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses effektiver Rechtsschutz verwehrt worden sei. Hinsichtlich der Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft sei auszuführen, dass keine Fluchtgefahr vorliege, die Anhaltung unverhältnismäßig sei und sehr wohl ein gelinderes Mittel hätte angewendet werden müssen.

10. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und unter Verweis auf die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt, der Verfassungsgerichtshof möge die Behandlung der Beschwerde ablehnen, in eventu abweisen. Eine Gegenschrift bzw Äußerung wurde nicht erstattet.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 13.836/1994, 14.650/1996, 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001, 20.374/2020; VfGH 14.3.2023, E3480/2022), oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001, 18.614/2008, 20.448/2021 und 20.478/2021).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001, 20.371/2020 und 20.405/2020).

3. Ein solcher, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 10. März 2021, E2059/2020 ua, im Hinblick auf die Beurteilung der Zeitspanne zwischen der das verwaltungsgerichtliche Verfahren abschließenden mündlichen Verkündung der Entscheidung und der Erlassung der schriftlichen Ausfertigung derselben Folgendes ausgesprochen:

"Nach der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ist bezüglich der Erlassung einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung der Zustellung einer Entscheidung ihre mündliche Verkündung gleichzuhalten (vgl VwGH 15.12.2014, Ro 2014/04/0068; 22.11.2017, Ra 2017/03/0082; s. auch VfSlg 19.965/2015, wonach der Verfassungsgerichtshof keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen §29 VwGVG hegt und sich auch der Verfassungsgerichtshof insofern der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes anschließt). Mit der mündlichen Verkündung wird die Entscheidung unabhängig von der Zustellung einer schriftlichen Ausfertigung (§29 Abs4 VwGVG) rechtlich existent (VwGH 27.6.2016, Ra 2016/11/0059; 14.9.2016, Fr 2016/18/0015; 4.4.2017, Ra 2017/02/0050), wenn sowohl der Inhalt einer Entscheidung als auch die Tatsache ihrer Verkündung in der Niederschrift festgehalten werden (VwGH 13.10.2015, Fr 2015/03/0007; 22.11.2017, Ra 2017/03/0082). Bereits an die Verkündung einer Entscheidung knüpfen sich daher deren Rechtswirkungen (vgl VfGH 11.6.2019, E671/2019; VwGH 23.9.2020, Ra 2019/14/0558). Daher kann die Entscheidung bereits nach der mündlichen Verkündung mit Beschwerde gemäß Art144 B VG angefochten werden, sofern mindestens ein hiezu Berechtigter einen Antrag auf schriftliche Ausfertigung der Entscheidung gemäß §29 Abs4 VwGVG gestellt hat (§82 Abs3b letzter Satz VfGG; siehe VfGH 20.6.2015, E163/2014; VwGH 15.12.2014, Ro 2014/04/0068; 22.11.2017, Ra 2017/03/0082).

Unabhängig von der Möglichkeit, die Entscheidung bereits nach der mündlichen Verkündung anzufechten, ist der Rechtsschutzsuchende in der Regel auf die – nähere und ausführliche – Begründung der Entscheidung in der schriftlichen Ausfertigung gemäß §29 Abs4 VwGVG angewiesen, um die Entscheidung auf Grund der maßgebenden Erwägungen gegebenenfalls mit einer Beschwerde gemäß Art144 B VG bekämpfen zu können. Aus der rechtsstaatlich gebotenen Pflicht zur Begründung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen folgt daher im Zusammenhang mit der Regelungssystematik des §29 VwGVG auch die Pflicht zu einer möglichst zeitnahen schriftlichen Ausfertigung der Entscheidung, weil andernfalls dem Rechtsschutzsuchenden effektiver Rechtsschutz verwehrt sein könnte (zum Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes siehe zB VfSlg 11.196/1986, 15.218/1998, 17.340/2004, 20.107/2016), was rechtsstaatlichen Anforderungen an die Erlassung gerichtlicher Entscheidungen widerspricht."

3.2. Im vorliegenden Fall erfolgte die vom Beschwerdeführer am 18. Februar 2021 beantragte schriftliche Ausfertigung der am 10. Februar 2021 mündlich verkündeten Entscheidung mit Datum vom 30. Mai 2023 beinahe 28 Monate nach der mündlichen Verkündung. Im Hinblick auf die Notwendigkeit einer zeitnahen schriftlichen Ausfertigung in Verfahren hinsichtlich Schubhaftbeschwerden wurde dem Beschwerdeführer auf Grund der langen Zeitspanne zwischen mündlicher Verkündung und schriftlicher Ausfertigung der Entscheidung ein effektiver Rechtsschutz verwehrt (vgl zB VfGH 10.3.2021, E2059/2020 ua; 23.6.2021, E720/2021; 7.10.2021, E837/2021).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

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