JudikaturVwGH

Ra 2020/08/0145 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
17. Februar 2022

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer und die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen sowie den Hofrat Dr. Bodis als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Sasshofer, über die Revision der Dr. V L in W, vertreten durch Dr. Thomas Majoros, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Walfischgasse 12/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Juli 2020, W266 2232931 1/3E, betreffend Verlust des Anspruchs auf Notstandshilfe (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien Laxenburger Straße), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Mit Bescheid vom 27. August 2019 stellte die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien Laxenburger Straße (AMS) fest, dass die Revisionswerberin gemäß § 10 iVm. § 38 AlVG den Anspruch auf Notstandshilfe für den Zeitraum von 3. Juli 2019 bis 13. August 2019 verloren habe. Der angeführte Zeitraum verlängere sich um die in ihm liegenden Zeiträume, während derer Krankengeld bezogen worden sei. Eine Nachsicht werde nicht erteilt. Die Revisionswerberin habe sich auf eine ihr zugewiesene zumutbare Beschäftigung bei der Firma M nicht beworben. Dem Bescheid vorangegangen war eine niederschriftliche Einvernahme der Revisionswerberin.

2 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde der Revisionswerberin vom 29. August 2019, in der sie u.a. vorbrachte, der Vermittlungsvorschlag sei nicht zu öffnen gewesen bzw. „untergegangen“, legte das AMS mit Schreiben vom 10. Juli 2020 ohne Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - die Beschwerde als unbegründet ab und sprach aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

4 Das Bundesverwaltungsgericht stellte im Wesentlichen fest, der Revisionswerberin seien am 24. Juni 2019 vier Vermittlungsvorschläge, darunter auch das verfahrensgegenständliche Stellenangebot als Hausbesorgerin bei der Firma M, elektronisch über ihr eAMS Konto übermittelt worden. Im Vermittlungsvorschlag sei angeführt worden, dass die Besetzung der Stelle über ein an mehreren, näher genannten Tagen abgehaltenes Vorauswahlverfahren des AMS stattfinden werde und möglicher Arbeitsbeginn der 3. Juli 2019 sei. Die Revisionswerberin habe das Stellenangebot am 24. Juni 2019 um 13:27 „auf ihrem eAMS-Konto“ empfangen und am 25. Juni 2019 um 21:34 gelesen. Am 4. Juli 2019 habe die Revisionswerberin über ihr eAMS Konto rückgemeldet, dass ihr keine Stellenanzeige übermittelt worden sei. Am 9. Juli 2019 habe sie mit einer weiteren Nachricht über ihr eAMS Konto um die neuerliche Zusendung des Stellenangebots gebeten. Die Revisionswerberin sei in Folge nicht zur Vorauswahl erschienen und die angebotene Beschäftigung sei nicht zustande gekommen.

5 Beweiswürdigend führte das Bundesverwaltungsgericht zusammengefasst aus, das Vorbringen der Revisionswerberin, das Stellenangebot sei eingegangen, aber nicht zu lesen bzw. öffnen gewesen oder sei in der Menge der am selben Tag eingegangenen Vermittlungsvorschläge „untergegangen“, sei widersprüchlich und daher nicht glaubhaft. Nicht plausibel erscheine auch das Vorbringen, sie habe sich bereits vor Ablauf der 8 Tagesfrist beim AMS gemeldet und nicht erst am 4. Juli 2019. Dieses Vorbringen sei erstmalig in der Beschwerde erstattet worden und nicht bereits in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem AMS am 12. August 2019, womit eine Schutzbehauptung anzunehmen sei. Vor diesem Hintergrund sei davon auszugehen, dass die Revisionswerberin das Stellenangebot samt Anhang erhalten und gelesen, es in Folge jedoch verabsäumt habe, zur Vorauswahl zu erscheinen, womit sie das Nichtzustandekommen der Beschäftigung in Kauf genommen habe.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem das AMS eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

7 Zur Zulässigkeit und Begründung der außerordentlichen Revision wird auf das Wesentliche zusammengefasst u.a. geltend gemacht, das Bundesverwaltungsgericht sei von (näher genannter) Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, indem es zur Klärung des entscheidungswesentlichen Sachverhalts keine mündliche Verhandlung durchgeführt habe.

8 Die Revision ist aus den dargelegten Gründen zulässig. Sie ist auch begründet.

9 Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.

10 Bei Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung handelt es sich um „civil rights“ im Sinn des Art. 6 EMRK (vgl. VwGH 2.11.2021, Ra 2020/08/0124, mwN). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gehört es im Fall widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts, dem auch in § 24 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen und sich als Gericht im Rahmen einer bei der Geltendmachung von „civil rights“ in der Regel auch von Amts wegen durchzuführenden (vgl. VwGH 25.2.2019, Ra 2018/08/0251, mwN) mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen (vgl. etwa VwGH 3.12.2021, Ra 2020/08/0108, mwN).

11 Im vorliegenden Fall ist insbesondere die Frage strittig, ob das Nichterscheinen der Revisionswerberin zur Vorauswahl für die zugewiesene Stelle als qualifiziertes Verschulden in Form von (zumindest bedingtem) Vorsatz und damit als Vereitelung im Sinn des § 10 Abs. 1 Z 1 AlVG gewertet werden kann (vgl. etwa VwGH 27.4.2020, Ra 2016/08/0051, mwN). Die Beantwortung dieser Frage hängt fallbezogen entscheidend davon ab, ob der Revisionswerberin der auf ihr eAMS Konto zugewiesene gegenständliche Vermittlungsvorschlag zur Kenntnis gelangt ist und welche weiteren Veranlassungen sie in Bezug darauf getroffen hat, um ihre Teilnahme an der Vorauswahl sicherzustellen.

12 Die Revisionswerberin brachte in der Beschwerde, ebenso wie bei ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor dem AMS am 12. August 2019, u.a. vor, sie habe den Vermittlungsvorschlag nicht lesen bzw. öffnen können. Daraufhin habe sie noch innerhalb der vereinbarten achttägigen Frist dem AMS geantwortet. Mit diesem Vorbringen widersprach die Revisionswerberin den Annahmen des AMS, dass ihr der Vermittlungsvorschlag zur Kenntnis gelangt sei, womit widersprechende prozessrelevante Behauptungen vorlagen.

13 Das Bundesverwaltungsgericht beurteilte das Vorbringen der Revisionswerberin als widersprüchlich und daher nicht glaubhaft bzw. nicht plausibel und gelangte daher zur Ansicht, die Revisionswerberin habe das Nichtzustandekommen der Beschäftigung jedenfalls in Kauf genommen und daher mit bedingtem Vorsatz gehandelt. Eine derartige Würdigung durfte das Bundesverwaltungsgericht jedoch nicht vornehmen, ohne sich zuvor im Rahmen einer mündlichen Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit der Revisionswerberin zu verschaffen.

14 Das Bundesverwaltungsgericht hätte daher eine mündliche Verhandlung durchführen müssen, um durch unmittelbare Beweisaufnahme eine zuverlässige Klärung des relevanten Sachverhalts herbeizuführen. Indem das Bundesverwaltungsgericht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterließ, belastete es daher seine Entscheidung mit einem Verfahrensmangel.

15 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

16 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 17. Februar 2022

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