Rückverweise
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick sowie die Hofrätinnen Dr. Pollak und MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision des W N in I, vertreten durch Mag. Mathias Kapferer, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Burggraben 4/4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Oktober 2019, Zl. W261 2193221 1/31E, betreffend Hilfeleistung nach dem Verbrechensopfergesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice Landesstelle Salzburg), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
1 Der 1958 geborene Revisionswerber stellte am 21. Juli 2016 einen Antrag auf Gewährung von Hilfeleistung nach dem Verbrechensopfergesetz (VOG) in Form von Ersatz des Verdienstentgangs. Begründend gab er dazu an, er sei im Schuljahr 1966/1967 im Kinderheim B untergebracht und dort Opfer von seelischer, körperlicher und sexueller Gewalt gewesen. Unter anderem sei er im Heim auf den Toiletten bis zu zweimal wöchentlich von Patern im Genitalbereich berührt worden, von den Erzieherinnen ebenso wie seine Mitbewohner sehr oft mit Haselweiden geschlagen und wegen Kleinigkeiten gezüchtigt worden. Der Revisionswerber habe dort Suizidgedanken gehabt und in der Folge Konzentrationsstörungen, mangelnde Belastbarkeit und Aggressionen gegen sich und andere entwickelt. Mit 17 Jahren sei bei ihm eine hebephrene Schizophrenie und mit 30 Jahren nach einem Nervenzusammenbruch eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert worden. Seit 1994 sei der Revisionswerber besachwaltert und arbeitsunfähig.
2 Mangels einer Entscheidung der belangten Behörde über seinen Antrag erhob der Revisionswerber am 17. April 2018 Säumnisbeschwerde an das Verwaltungsgericht und beantragte, das Verwaltungsgericht möge seinem Antrag auf Ersatz des Verdienstentgangs gemäß § 2 Z 1 iVm. § 3 VOG stattgeben.
3 Wie aus dem Akt des Verwaltungsgerichts hervorgeht, holte dieses ein psychiatrisches Sachverständigengutachten ein, welches nach Untersuchung des Revisionswerbers am 4. Oktober 2018 von Dr. C K erstellt wurde. Mit Schreiben vom 19. April 2019 ersuchte das Verwaltungsgericht die Sachverständige um eine (näher genannte) Ergänzung ihres Gutachtens, in welchem die Kausalität der Erlebnisse im Kinderheim für die festgestellten Gesundheitsschädigungen tendenziell bejaht, jedoch nicht abschließend beantwortet wurde. Das Gutachten samt der Ergänzung vom 24. Mai 2019 wurde dem Vertreter des Revisionswerbers mit Schreiben vom 3. Juni 2019 zur Stellungnahme übermittelt. Dieser äußerte sich dazu mit Schreiben vom 24. Juni 2019, in dem er auf eine Konkretisierung des Gutachtens abzielende Fragen formulierte und beantragte, das Gutachten diesbezüglich schriftlich ergänzen zu lassen und nach Übermittlung der Ergänzung eine mündliche Verhandlung unter Beiziehung der Sachverständigen anzuberaumen.
4 Daraufhin verständigte das Verwaltungsgericht mit E-Mail vom 31. Juli 2019 den Vertreter des Revisionswerbers von seiner Absicht, den Revisionswerber am 4. Oktober 2019 „durch eine medizinische Sachverständige aus dem Fachgebiet der Neurologie/Psychiatrie“ untersuchen zu lassen und für denselben Tag eine mündliche Verhandlung anzuberaumen. Der Vertreter des Revisionswerbers stimmte diesem Termin zu. Mit Schreiben vom 7. August 2019 beauftragte das Verwaltungsgericht Dr. G mit der Erstellung eines Gutachtens (vornehmlich zu Fragen der Kausalität der Erlebnisse im Kinderheim für die festgestellten Gesundheitsschädigungen) nach Untersuchung des Revisionswerbers in den Räumen des Verwaltungsgerichts am 4. Oktober 2019 zwischen 11 und 12 Uhr. Für 13 Uhr desselben Tages wurde eine mündliche Verhandlung anberaumt.
5 In der Verhandlung wurde das von Dr. G unmittelbar vor Verhandlungsbeginn fertiggestellte Gutachten, in dem die Kausalität der Erlebnisse im Kinderheim für die festgestellten Gesundheitsschädigungen eindeutig verneint wurde, in Anwesenheit des Revisionswerbers, seines Sachwalters und seiner Rechtsvertretung mit der Sachverständigen erörtert. Die Rechtsvertreterin beantragte die Einholung eines Obergutachtens aus dem Bereich der klinischen Psychologie bzw. Psychiatrie, „da die Ausführungen beider bestellter Gutachterinnen sowohl hinsichtlich der getroffenen Diagnosen als auch der anzuwendenden Methodik bzw. Theorie wesentlich voneinander abweichen, sich widersprechen, sodass nur unter Zuziehung eines Obergutachtens festgestellt werden kann, von welchen Annahmen nun tatsächlich auszugehen ist“. Die Verhandlung wurde geschlossen, ohne dass auf diesen Antrag eingegangen oder dem Revisionswerber eine Frist zur Stellungnahme eingeräumt wurde.
6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 7. Oktober 2019 gab das Verwaltungsgericht der Säumnisbeschwerde statt (Spruchpunkt A.I) und wies den Antrag des Revisionswerbers auf Ersatz des Verdienstentgangs gemäß § 2 Z 1 iVm. § 3 VOG ab (Spruchpunkt A.II). Gleichzeitig erklärte es gemäß § 25a VwGG eine ordentliche Revision für nicht zulässig.
7 Begründend führte das Verwaltungsgericht zu Spruchpunkt A.II zusammengefasst aus, die die Arbeitsunfähigkeit des Revisionswerbers begründende „chronisch paranoide Schizophrenie“ sei nicht mit der im Sinn des VOG erforderlichen Wahrscheinlichkeit auf die unbestritten stattgefundenen Vorsatztaten, deren Opfer der Revisionswerber gewesen sei, zurückzuführen. Dem Beweisantrag auf Einholung eines Obergutachtens werde „keine Folge geleistet“, weil das ursprünglich eingeholte Gutachten weder schlüssig noch nachvollziehbar sei. Hinzu komme, dass beide Gutachterinnen zum Ergebnis gekommen seien, die festgestellte Gesundheitsbeeinträchtigung sei nicht auf die traumatischen Erlebnisse im Heim zurückzuführen. Daran vermöge auch nichts zu ändern, dass laut dem ersten Gutachten „dennoch mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen sei, [dass] die Heimunterbringung die psychische Resilienz so geschwächt hat, dass die Krankheit zum Ausbruch gekommen ist“. Es seien nämlich (wie sich aus dem Verwaltungsakt ergebe) schon unmittelbar vor der Heimunterbringung Hinweise darauf vorgelegen, dass beim Revisionswerber eine frühkindliche zerebrale Störung bestanden habe. Überdies sei der Revisionswerber dem Gutachten Dris. G nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten.
8 Gegen Spruchpunkt A.II dieses Erkenntnisses richtet sich die vorliegende, unter Anschluss der Verfahrensakten vorgelegte außerordentliche Revision, zu der die belangte Behörde eine Revisionsbeantwortung erstattet hat.
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10 In der Revision wird zu deren Zulässigkeit unter anderem eine Verletzung des Parteiengehörs nach § 45 Abs. 3 AVG vorgebracht. Der Revisionswerber sei erstmals am Freitag, dem 4. Oktober 2019, davon in Kenntnis gesetzt worden, dass eine neue Gutachterin bestellt werde. Das Gutachten Dris. G sei dem Revisionswerber am selben Tag erstmals vorgelegt und in der Verhandlung vom selben Tag erstmals erörtert worden. Die Verhandlung sei am 4. Oktober 2019 geschlossen worden und das angefochtene Erkenntnis am Montag, dem 7. Oktober 2019, ergangen. Schon aus Zeitgründen hätte der Revisionswerber dem Gutachten Dris. G nicht durch Beibringung eines Gegengutachtens auf gleicher fachlicher Ebene entgegentreten können. Überdies sei ihm das Gutachten Dris. G weder vorab zur Durchsicht übermittelt worden noch sei ihm eine Frist zur Einbringung einer entsprechenden (fachlichen) Stellungnahme eingeräumt worden. Bei Einholung eines weiteren Gutachtens wäre (aus näher dargestellten Gründen) die Kausalität der Heimerfahrungen des Revisionswerbers für seine Schizophrenie hervorgekommen.
11 Die Revision ist aus den genannten Gründen zulässig und begründet.
12 Die Wahrung des Parteiengehörs, das zu den fundamentalen Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit der Hoheitsverwaltung gehört, ist von Amts wegen, ausdrücklich, in förmlicher Weise und unter Einräumung einer angemessenen Frist zu gewähren. Das Parteiengehör besteht nicht nur darin, den Parteien im Sinn des § 45 Abs. 3 AVG Gelegenheit zu geben, vom Ergebnis einer Beweisaufnahme Kenntnis zu erlangen und dazu Stellung zu nehmen, sondern ihnen ganz allgemein zu ermöglichen, ihre Rechte und rechtlichen Interessen geltend zu machen, mithin Vorbringen zu gegnerischen Behauptungen zu erstatten, Beweisanträge zu stellen und überhaupt die Streitsache zu erörtern (VwGH 9.5.2017, Ro 2014/08/0065; 28.3.2018, Ra 2016/11/0085, 0086, jeweils mwN).
13 Eine genügende Möglichkeit zur Stellungnahme besteht für die Partei nur dann, wenn ihr hiefür auch eine ausreichende Frist für die Einholung fachlichen Rats bzw. zur Vorlage eines entsprechenden Gutachtens eingeräumt wird. Die Frist zur Stellungnahme muss dazu ausreichen, um ein Gutachten durch ein Gegengutachten entkräften zu können, weshalb dabei die erforderliche Zeit für die Auswahl eines entsprechenden Sachverständigen und seine Beauftragung einerseits und der für die Ausarbeitung eines Gutachtens erforderliche Zeitraum andererseits zu berücksichtigen ist. Für das Gutachten eines Sachverständigen erweist es sich zur Wahrung des Parteiengehörs seitens einer Verwaltungsbehörde daher zumindest als notwendig, den Schriftsatz samt Gutachten mit einem Hinweis darauf zu übermitteln, dass der zu erlassende Bescheid auf dieses Gutachten gestützt werde, um den Parteien die Möglichkeit zu bieten, dem Gutachten auf gleicher fachlicher Ebene entgegenzutreten (VwGH, 20.12.2017, Ra 2017/03/0069; 28.3.2018, Ra 2016/11/0085, 0086, jeweils mwN)
14 Wie sich aus dem oben dargestellten Verfahrensgang und dem Vorbringen des Revisionswerbers übereinstimmend ergibt, erhielt der Revisionswerber das Gutachten Dris. G erst unmittelbar vor der Verhandlung, welche ohne Einräumung einer Stellungnahmefrist geschlossen wurde, sodass ihm keine angemessene Frist zur Vorbereitung einer Reaktion auf das Gutachten zur Verfügung stand. Das Parteiengehör wurde somit nicht ordnungsgemäß gewahrt, wodurch das Verwaltungsgericht sein Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit behaftete.
15 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften nach § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben. Bei diesem Ergebnis erübrigte sich ein Eingehen auf das weitere Revisionsvorbringen.
16 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff. VwGG iVm. der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren war im Hinblick auf die in § 11 Abs. 2 VOG normierte Gebührenfreiheit abzuweisen.
Wien, am 7. Juni 2022