Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler, die Hofrätin Dr. Leonhartsberger und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Honeder, BSc, über die Revision des S K in I, vertreten durch Dr. Martin Dellasega und Dr. Max Kapferer, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Schmerlingstraße 2/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14. Februar 2018, Zl. L515 2156832-1/3E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein armenischer Staatsangehöriger, stellte am 26. Oktober 2014 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).
2 Im Rahmen der Erstbefragung am 28. Oktober 2014 gab er nach seinen Fluchtgründen befragt an, dass er seit 2006 als Kriminalbeamter bei der armenischen Polizei gearbeitet habe. Seine Vorgesetzten und hohe Polizeifunktionäre hätten ihn gezwungen, illegale Aufträge durchzuführen. Weil er diese Anweisungen nicht befolgt habe, hätten sie ihn unter Druck gesetzt. Er habe deshalb keine jährliche Prämie und keine Aufstiegschancen erhalten. Am 15. Mai 2014 sei er krankheitsbedingt als Invalide vom Polizeidienst freigestellt worden. Darüber hinaus sei der Revisionswerber in seinem Wehrdienstbuch als "erster Reservist" bezeichnet worden und habe mit seiner Unterschrift bestätigen müssen, dass er mit strafrechtlichen Konsequenzen zu rechnen hätte, wenn er eine Einberufung zur Armee nicht befolgen würde. Im Zuge der vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) durchgeführten Einvernahme am 12. Oktober 2016 brachte der Revisionswerber vor, dass er nach näher geschilderten Vorfällen von seinem Grad als Oberkriminalbeamter zum normalen Kriminalbeamten herabgestuft und von der Korruptionsabteilung in die Antiterrorabteilung versetzt worden sei. Anfang September 2012 sei er dann zum Polizeipräsidenten von Jerewan bestellt worden, wo ihm mitgeteilt worden sei, dass er einer dienstlichen Überprüfung unterzogen werde, für deren Dauer er suspendiert sei. Nach weiteren, näher skizzierten Vorfällen und dem Eintreten ungeklärter gesundheitlicher Probleme sei dem Revisionswerber die Waffentrageerlaubnis entzogen und er als dienstuntauglich außer Dienst gestellt worden. Er sei sich sicher, dass er in Armenien vergiftet worden sei, da er getötet werden sollte. Zudem habe er bemerkt, dass er auch privat verfolgt werde. Das Türschloss seines Hauses sei aufgebrochen worden.
Um eine geplante Ausreise aus Armenien vornehmen zu können, hätte er jedoch zur Bestätigung der Ableistung seines Militärdienstes einen Stempel von der Militärbehörde gebraucht. Dabei sei ihm mitgeteilt worden, dass er für drei Monate an der Grenze Berg Karabach Dienst versehen müsste. Der Revisionswerber hätte bei der Behörde warten sollen, damit diese gleich den Termin des Dienstantritts mitteilen könnte. Er habe jedoch nicht gewartet, sondern sei gleich nach Hause gegangen, habe alles zusammengepackt und Armenien verlassen.
3 Mit Bescheid des BFA vom 20. April 2017 wurde der Antrag des Revisionswerbers hinsichtlich der Zuerkennung des Status sowohl des Asylberechtigten als auch des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Armenien zulässig sei. Begründend führte die Behörde im Rahmen ihrer Feststellungen aus, der vorgebrachte Fluchtgrund könne nicht als entscheidungsrelevanter Sachverhalt festgestellt und mangels GFK-Relevanz nicht unter die taxativ angeführten Gründe subsumiert werden. Im Rahmen der Beweiswürdigung begründete das BFA dagegen, dass es das Vorbringen grundsätzlich als glaubwürdig, jedoch als nicht asylrelevant erachte. Eine nähere beweiswürdigende Auseinandersetzung mit dem Fluchtvorbringen erfolgte nicht. Der vorgebrachte Sachverhalt - Bedrohung und Übergriff durch Privatpersonen/Vorgesetzte innerhalb der Polizei - vermöge eine Flüchtlingseigenschaft nicht zu begründen, zumal diese Bedrohungen und Übergriffe auch im Herkunftsstaat strafrechtliche Delikte darstellen würden. Zudem stützte sich die Behörde in ihrer Beweiswürdigung auf die anzunehmende Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit des armenischen Staates.
4 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 14. Februar 2018 ab und sprach aus, dass die Revision gegen diese Entscheidung gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. Das BVwG stellte zu den behaupteten Ausreisegründen aus dem Herkunftsstaat fest, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Revisionswerber wegen fehlender Diensttauglichkeit aus dem Polizeidienst entlassen worden sei. Nicht festgestellt werden könne, dass er zum Militärdienst nach Berg Karabach einberufen worden sei, sich der Einberufung durch die rechtswidrige Ausreise aus Armenien entzogen habe und nunmehr deswegen von den armenischen Behörden gesucht werde.
Im Rahmen der Beweiswürdigung bezeichnete das BVwG die Beweiswürdigung der Behörde als schlüssig und stimmig und ergänzte diese um "Konkretisierungen und Abrundungen". So hätten die dienstlichen Repressalien mit der Entlassung aus dem Polizeidienst ein Ende gefunden, der Revisionswerber sei nach seiner Entlassung vom Frühjahr bis Oktober 2014 - sichtlich unbehelligt - in Armenien aufhältig gewesen, die vom Revisionswerber vorgebrachte Verbindung des aufgebrochenen Wohnungsschlosses mit seiner Entlassung stelle lediglich eine Mutmaßung dar, was gleichermaßen für die Vermutung des Revisionswerbers, vergiftet worden zu sein, gelte, zumal dieser Umstand medizinisch - auch in Österreich - nicht bescheinigt werden könne.
Die behauptete Einberufung als Reservist nach Berg Karabach stelle sich für das BVwG als nicht glaubhaft dar. Zum einen seien Mobilmachungen zu diesem Zeitpunkt der Berichtslage nicht entnehmbar und die bewaffneten Auseinandersetzungen mit Aserbaidschan seien zu diesem Zeitpunkt schon wieder für Monate beendet gewesen. Zum anderen sei es nicht nachvollziehbar, dass die Militärbehörde beabsichtige, den Revisionswerber zum Militärdienst einzuberufen, ihm jedoch gleichzeitig die legale Ausreise gestatte. Fraglich erscheine auch, ob die bloß mündliche Bekanntgabe der Militärbehörde überhaupt eine Einberufung im rechtlichen Sinne darstelle. In Bezug auf die fragile Lage in Berg Karabach und die darauf gestützte Annahme, die Gefechte könnten wieder ausbrechen, sei dies eine rein spekulative Annahme des Revisionswerbers und es stehe ihm frei, die Grenzregion zu meiden. Zusätzlich beinhaltet die rechtliche Beurteilung des angefochtenen Erkenntnisses hinsichtlich Asyls - nicht aber im Rahmen der Prüfung der Zuerkennung subsidiären Schutzes - folgende "Wahrunterstellung": " Ebenso stellt - abstrakt betrachtet, ohne das entsprechende Vorbringen der bP an dieser Stelle als glaubhaft qualifizieren zu wollen - die Furcht vor Ableistung des Militärdienstes (...) grundsätzlich keinen Grund für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dar, ebenso wenig wie eine wegen der Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes oder wegen Desertion drohende, auch strenge Bestrafung (...) ". Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben können, da zum einen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als geklärt erscheine und die getätigten Abrundungen zu den als tragfähig erachteten Ausführungen im vorgenommenen Umfang zulässig seien. Zum anderen ergäben die bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei, dass das Vorbringen hinsichtlich der drohenden Einziehung zum Militärdienst als Reservist bzw. einer drohenden Bestrafung wegen der unterlassenen Befolgung eines Einberufungsbefehls nicht den Tatsachen entspreche und somit ein weiterer Grund vorgelegen habe, weshalb keine mündliche Verhandlung durchzuführen gewesen sei. Zudem wurde in Verweis auf Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aus dem Jahr 1994 und die darin zitierte " Relevanzdarstellung " argumentiert, dass in der Beschwerde nicht angeführt worden sei, was konkret an entscheidungsrelevantem und zu berücksichtigendem Sachverhalt noch hervorkommen hätte können.
5 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diese Entscheidung erhobene außerordentliche Revision nach Vorlage derselben sowie der Verfahrensakten durch das BVwG und nach Einleitung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
6 In der Revision wird zur Zulässigkeit unter anderem näher ausgeführt, das Erkenntnis des BVwG verstoße gegen die näher dargelegte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht.
7 Die Revision ist zulässig und begründet.
8 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes seit dem Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017, 0018, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, sind für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung durch das BVwG nach § 21 Abs. 7 BFA-VG wegen geklärten Sachverhalts und für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint" nunmehr folgende Kriterien beachtlich:
Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.
9 Diesen in der hg. Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen hat das Bundesverwaltungsgericht in mehrfacher Hinsicht im vorliegenden Fall nicht entsprochen.
10 Der Revisionswerber hat bereits in der Einvernahme am 12. Oktober 2016 auf seine Einberufung bzw. auf die Mitteilung, dass er in Berg Karabach einen Militärdienst ableisten müsse, was ihn zur sofortigen Ausreise veranlasst habe, hingewiesen. Dazu wurden seitens der Behörde weder weitere Ermittlungen durchgeführt noch lassen sich dem Bescheid, wie auch die Beschwerde zutreffend moniert hatte, Feststellungen oder beweiswürdigende Ausführungen diesbezüglich entnehmen. Schon deshalb wurde der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde nicht vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben. Daher ist dem BVwG in seiner Annahme, es sei dem Erkenntnis ein vollumfängliches und ordnungsgemäßes behördliches Ermittlungsverfahren vorangegangen, nicht beizutreten. Das BVwG konnte somit nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG ausgehen, sondern hätte schon aus diesem Grund eine mündliche Verhandlung durchzuführen gehabt.
11 Ausgehend davon, dass sich das BFA mit dem Vorbringen hinsichtlich eines allfälligen Einberufungsbefehls nicht auseinandergesetzt hat, unterzieht das BVwG dieses einer gänzlich neuen Beweiswürdigung. Darüber hinaus ergänzte es die sich in der Beurteilung, dass das Fluchtvorbringen "im Wesentlichen glaubhaft" sei, erschöpfende Beweiswürdigung des BFA um die oben zusammengefasst dargestellten "Konkretisierungen und Abrundungen", die somit allesamt über die vom BFA vorgenommene Beweiswürdigung hinausgehen.
Eine solcherart ergänzende Beweiswürdigung ist nur nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zulässig (vgl. VwGH 10.9.2015, Ra 2014/20/0142, mwN).
12 Zu der im Rahmen der rechtlichen Beurteilung vom BVwG getätigten "Wahrunterstellung" im Zusammenhang mit Wehrdienstverweigerung, die sich im Wesentlichen in der Darstellung von Rechtssätzen erschöpft, ist auszuführen, dass es damit den Anforderungen an die Feststellung des Vorbringens, wie sie im hg. Erkenntnis vom 12. November 2014, Ra 2014/20/0069, - auf welches gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird - dargelegt wurden, nicht zu entsprechen vermag. Das BVwG hat es verabsäumt offenzulegen, von welchen als hypothetisch richtig angenommenen Sachverhaltsannahmen bei der rechtlichen Beurteilung konkret ausgegangen wurde, um sowohl den Verfahrensparteien als auch dem Verwaltungsgerichtshof die Überprüfung zu ermöglichen, ob einerseits die derart erfolgte rechtliche Beurteilung - und daher auch die Annahme, keine (allenfalls: ergänzenden) Feststellungen zum Vorbringen treffen zu müssen - dem Gesetz entspricht, und ob andererseits überhaupt bei der rechtlichen Beurteilung vom Inhalt des Vorbringens ausgegangen wurde (vgl. zum Ganzen auch VwGH 18.6.2015, Ra 2014/20/0145). Das BVwG konnte das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung sohin auch nicht auf eine vorgenommene "Wahrunterstellung" stützen (VwGH 31.3.2016, Ra 2015/20/0234).
13 Der Begründung des Erkenntnisses ist auch keine Auseinandersetzung des BVwG mit der Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit Armeniens und damit keine tragfähige Alternativbegründung zu entnehmen.
14 Aus all diesen Gründen hätte das BVwG eine mündliche Verhandlung durchzuführen gehabt.
15 Schließlich ist auch in Bezug auf die vom BVwG als erforderlich erachtete " Relevanzdarstellung " auf die mittlerweile ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des - wie hier gegeben - Art. 47 GRC die Missachtung der Verhandlungspflicht zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften führt, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. zum Ganzen VwGH 1.3.2018, Ra 2017/19/0410, mwN).
16 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
17 Die Kostenentscheidung gründet ist auf die §§ 47 VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 20. September 2018