JudikaturVwGH

Ra 2016/22/0096 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
18. Januar 2017

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl und Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision des Bundesministers für Inneres in 1010 Wien, Herrengasse 7, gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Wien vom 20. Juli 2016, VGW-151/016/6040/2016- 12, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien; mitbeteiligte Partei: M S, vertreten durch Dr. Wolfgang Weber, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Wollzeile 12/1/27), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

1 Der Mitbeteiligte ist usbekischer Staatsangehöriger, hält sich seit 2005 durchgehend rechtmäßig in Österreich auf, besuchte hier die Schule, begann eine Lehre, die er jedoch nicht abschloss, und war in den letzten Jahren wiederholt berufstätig. Er verfügte zuletzt über einen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 41a Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), gültig bis 12. August 2015.

2 Am 17. August 2015 brachte der Mitbeteiligte einen Verlängerungsantrag ein; eine Begründung für die verspätete Einbringung erfolgte zunächst nicht. Den Angaben in der Beschwerde zufolge habe der Mitbeteiligte auf Nachfrage der Behörde vom 11. November 2015 mündlich gegenüber dieser vorgebracht, er habe den Ablauf seines Aufenthaltstitels übersehen und sei erst im Rahmen eines Vorstellungsgespräches auf den abgelaufenen Aufenthaltstitel aufmerksam gemacht worden (den Akten ist eine Niederschrift dieses Vorbringens nicht zu entnehmen).

3 Der Landeshauptmann von Wien wertete unter Hinweis auf § 24 Abs. 2 NAG den Antrag des Mitbeteiligten als Erstantrag und wies diesen mit Bescheid vom 5. April 2016 wegen unzulässiger Inlandsantragstellung gemäß § 21 Abs. 3 NAG ab.

4 Mit dem angefochtenen Beschluss hob das Verwaltungsgericht Wien (VwG) diesen Bescheid auf und verwies das Verfahren gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG an den Landeshauptmann von Wien zurück. Eine ordentliche Revision wurde für nicht zulässig erklärt.

5 Begründend führte das VwG im Wesentlichen aus, ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis im Sinn des § 24 Abs. 2 NAG könne auch in einem inneren, psychischen Geschehen liegen, daher auch in einem Vergessen oder Versehen (Hinweis auf die hg. Erkenntnisse vom 13. Dezember 2011, 2010/22/0179, und vom 10. Dezember 2013, 2011/22/0144). Fallbezogen liege ein solches unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis vor, weshalb dem Mitbeteiligten nur ein minderer Grad des Versehens anzulasten sei, "wofür insbesondere spricht, dass (...) den bisherigen Verlängerungsanträgen des (Mitbeteiligten) wiederholt stattgegeben wurde und der verfahrenseinleitende Antrag nur fünf Tage nach Ablauf des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels eingebracht wurde."

Insofern sei die zweiwöchige Frist des § 24 Abs. 2 Z 2 NAG jedenfalls gewahrt. Da der verfahrenseinleitende Antrag des Mitbeteiligten somit als Verlängerungsantrag zu werten sei, sei der angefochtene Bescheid schon aus diesem Grund rechtswidrig.

6 Die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung der Rechtssache an die Behörde seien gegeben, weil diese unter der unrichtigen Annahme einer unzulässigen Inlandsantragstellung keinerlei Ermittlungen über die allgemeinen und besonderen Voraussetzungen zur Erteilung des begehrten Aufenthaltstitels durchgeführt habe.

7 Dagegen richtet sich die Amtsrevision des Bundesministers für Inneres. Die belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht und der Mitbeteiligte gaben keine Revisionsbeantwortung ab.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

8 In seiner Zulässigkeitsbegründung rügt der Revisionswerber das Abweichen des angefochtenen Beschlusses von der hg. Rechtsprechung einerseits hinsichtlich der Beurteilung des Vorliegens eines unvorhergesehenen oder unabwendbaren Ereignisses (Hinweis auf zahlreiche hg. Entscheidungen, u.a. auf den Beschluss vom 17. Februar 2005, 2005/18/0029), und andererseits betreffend die Zulässigkeit einer Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG.

9 Die Revision ist zulässig und aus folgenden Gründen auch berechtigt:

10 Gemäß § 24 Abs. 2 NAG gelten Anträge, die nach Ablauf der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels gestellt werden, nur dann als Verlängerungsanträge, wenn (Z 1.) der Antragsteller gleichzeitig mit dem Antrag glaubhaft macht, dass er durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis gehindert war, rechtzeitig den Verlängerungsantrag zu stellen, und ihn kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens trifft, und (Z 2.) der Antrag binnen zwei Wochen nach dem Wegfall des Hindernisses gestellt wird; § 71 Abs. 5 AVG gilt.

11 Es trifft zwar zu, dass ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis im Sinn des § 24 Abs. 2 NAG auch in einem inneren, psychischen Geschehen liegen kann. Die beiden, vom VwG in diesem Zusammenhang zitierten hg. Erkenntnisse (vom 13. Dezember 2011, 2010/22/0179, und vom 10. Dezember 2013, 2011/22/0144) unterscheiden sich hinsichtlich des Sachverhaltes jedoch entscheidend vom verfahrensgegenständlichen. In einem Fall wurde eine emotionale Ausnahmesituation aufgrund einer drohenden Beinamputation der Mutter vorgebracht, im anderen Fall lag eine ungewöhnlich verkürzte Laufzeit des Aufenthaltstitels (16 Tage kürzer als ein Jahr) vor und die erforderliche Schulbesuchsbestätigung wurde erst später ausgestellt. Ein vergleichbares Vorbringen des Mitbeteiligten stellte das VwG fallbezogen nicht fest.

12 Der Verwaltungsgerichtshof führte wiederholt aus, dass Parteien nicht auffallend sorglos handeln, somit die im Verkehr mit Behörden und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihnen nach ihren persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt nicht in besonders nachlässiger Weise außer Acht lassen dürfen. Bei der Beurteilung, ob eine auffallende Sorglosigkeit vorliegt, ist ein fallbezogener Maßstab anzulegen, wobei es insbesondere auf die Rechtskundigkeit und die Erfahrung im Umgang mit Behörden ankommt (vgl. etwa den hg. Beschluss vom 17. Februar 2005, 2005/18/0029, mwN).

13 Der Mitbeteiligte hält sich seit 2005 durchgehend rechtmäßig in Österreich auf, besuchte hier die Schule, begann eine Lehre und war in den letzten Jahren wiederholt berufstätig; seine bisherigen Verlängerungsanträge wurden jeweils bewilligt. Daraus ist - entgegen der vom VwG vertretenen Ansicht - abzuleiten, dass der Mitbeteiligte im Umgang mit Behörden vertraut ist und von ihm daher eine entsprechende Sorgfalt bei der Einhaltung von Terminen und Fristen erwartet werden kann (vgl. zu den unterschiedlichen Maßstäben für die Beurteilung einer auffallenden Sorglosigkeit nochmals den hg. Beschluss vom 17. Februar 2005, 2005/18/0029, und das hg. Erkenntnis vom 9. September 2013, 2011/22/0328). Angesichts dessen kann ohne weitere Feststellungen über außergewöhnliche Umstände, die zum Übersehen der Frist führten, nicht von einem minderen Grad des Versehens des Mitbeteiligten ausgegangen werden. Dass der verfahrenseinleitende Antrag nur fünf Tage nach Ablauf des zuletzt erteilten Aufenthaltstitels eingebracht wurde, ändert nichts am Vorliegen eines groben Verschuldens. Darüber hinaus ist den Verfahrensakten zu entnehmen, dass der Mitbeteiligte die Begründung für die verspätete Antragstellung nicht gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 NAG gleichzeitig mit dem Antrag vom 17. August 2015, sondern eigenen Angaben zufolge erst im November 2015, vorbrachte. Dass er sich somit erst Monate später mit den Folgen der verspäteten Antragstellung befasste, verstärkt die grobe Missachtung der Sorgfaltspflicht.

14 Der angefochtene Beschluss war daher bereits aus diesem Grund wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben. Somit kann dahinstehen, ob fallbezogen die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG vorlagen.

Wien, am 18. Jänner 2017

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