Leitsatz
Keine Gesetzwidrigkeit einer GeschwindigkeitsbeschränkungsV durch die Herabsetzung der Höchstgeschwindigkeit für das gesamte (ausgenommen Vorrangstraßen) Ortsgebiet auf 30 km/h zur Erhöhung der Verkehrssicherheit; Gesetzmäßigkeit der Verordnung trotz falsch zitierter Rechtsgrundlage
Spruch
Der Antrag wird abgewiesen.
Entscheidungsgründe
I. Antrag
Mit dem vorliegenden, auf Art139 Abs1 Z1 B VG gestützten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Steiermark, der Verfassungsgerichtshof möge
"1. die Verordnung des Regierungskommissärs für die Gemeinde Seiersberg-Pirka vom 02.01.20[…]15, GZ: 003-3/VOWiederverlautbarung/1, betreffend die ehemalige Gemeinde Seiersberg im Umfang der Z47 iVm der Verordnung des Gemeinderates der Gemeinde Seiersberg vom 16.12.1997, GZ: 1/120 20/ /Verkehrsberuhigung/44150/1997/150/Bgmstr/St, betreffend flächendeckende 30 km/h Zonierung innerhalb des Ortsgebietes Seiersberg und des Ortsgebietes – Ortsteil Seiersberg/Mantscha – ausgenommen Vorrangstraßen ihrem gesamten Inhalt nach als gesetzwidrig aufheben;
in eventu:
2. für den Fall, dass die genannten Verordnungen zwischenzeitig beseitigt wurde, feststellen, dass die unter Punkt 3. 1. genannten Verordnungen im jeweilig genannten Umfang gesetzwidrig waren;
in eventu:
3. unter ausschließlicher Berücksichtigung des im angefochtenen Straferkenntnisses der Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung vom 17.10.2024 vorgeworfenen Tatortes die Verordnung des Gemeinderates der Gemeinde Seiersberg vom 16.12.1997, GZ: 1/120 20/ /Verkehrsberuhigung/44150/1997/150/Bgmstr/St, betreffend flächendeckende 30 km/h Zonierung innerhalb des Ortsgebietes Seiersberg und des Ortsgebietes – Ortsteil Seiersberg/Mantscha – ausgenommen Vorrangstraßen, iVm der Verordnung des Regierungskommissärs für die Gemeinde Seiersberg-Pirka vom 02.01.20215, GZ: 003 3/VOWiederverlautbarung/1, betreffend die ehemalige Gemeinde Seiersberg im Umfang der Z47 jeweils hinsichtlich des Straßenzuges der 'Feldkirchner Straße' als gesetzwidrig aufheben;
in eventu:
4. für den Fall, dass die unter 3.3. genannten Verordnungen zwischenzeitig für den räumlichen Geltungsbereiches [sic!] des im Straferkenntnis vom 17.10.2024 vorgeworfenen Tatortes bereits beseitigt wurden, feststellen, dass die unter Punkt 3. genannten Verordnungen im Umfang des gesamten Straßenzuges 'Feldkirchner Straße' gesetzwidrig waren."
II. Rechtslage
1. Die angefochtene Verordnung des Gemeinderates der Gemeinde Seiersberg vom 16. Dezember 1997, 1/120 20/ /Verkehrsberuhigung/44150/1997/150/ Bgmstr/St, kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel am 30. Dezember 1997, lautet (Hervorhebung im Original):
"VERORDNUNG
Gemäß §43 der StVO 1960, BGBl Nr 159 in der derzeit gültigen Fassung wird eine
'flächendeckende 30 km/h Zonierung innerhalb des Ortsgebietes Seiersberg und des Ortsgebietes – Ortsteil Seiersberg/Mantscha – 'Ausgenommen Vorrangstraßen''
nach §94d Zif 4 StVO in Verbindung mit §40 Abs2 Zif 8 der Stmk Gemeindeordnung 1967, LGBl Nr 115, in der derzeit geltenden Fassung, erlassen.
Diese Verordnung ist gemäß §44 der StVO 1960, BGBl Nr 159 in der derzeit geltenden Fassung, durch die laut Niederschrift vom 09.12.1997 an den festgesetzten Punkten, anzubringenden Verkehrszeichen kundzumachen und tritt mit der Anbringung derselben in Kraft.
Für den Gemeinderat:
Der Bürgermeister:
[…]"
2. Die angefochtene Z47 der Verordnung des Regierungskommissärs für die Gemeinde Seiersberg-Pirka vom 2. Jänner 2015, 003 3/VOWiederverlautbarung/1, kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel am 2. Jänner 2015, lautet (Hervorhebungen im Original):
" VERORDNUNG
Aufgrund des §11 Abs2 Steiermärkische Gemeindeordnung 1967, LGBl Nr 115, in der geltenden Fassung, wird angeordnet, dass die folgenden Verordnungen für die bis zum Ablauf des 31.12.2014 bestehenden örtlichen Geltungsbereiche weiter gelten:
Ehem. Gemeinde Seiersberg:
[…]
47. Flächendeckende 30-km/h-Zonierung, ausgenommen Vorrangstraßen (gesamte Gemeinde), Erklärung zu Vorrangstraßen (GRB vom 16.12.1997)
[…]
Für die Gemeinde Seiersberg-Pirka:
Der Regierungskommissär:
[…]"
3. Die maßgeblichen Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung 1960 – StVO 1960, BGBl 159/1960, idF BGBl I 122/2022, lauten:
"§20. Fahrgeschwindigkeit.
[…]
(2) Sofern die Behörde nicht gemäß §43 eine geringere Höchstgeschwindigkeit erläßt oder eine höhere Geschwindigkeit erlaubt, darf der Lenker eines Fahrzeuges im Ortsgebiet nicht schneller als 50 km/h, auf Autobahnen nicht schneller als 130 km/h und auf den übrigen Freilandstraßen nicht schneller als 100 km/h fahren.
(2a) Die Behörde kann, abgesehen von den in §43 geregelten Fällen, durch Verordnung für ein gesamtes Ortsgebiet eine geringere als die nach Abs2 zulässige Höchstgeschwindigkeit festlegen, sofern dies auf Grund der örtlichen oder verkehrsmäßigen Gegebenheiten nach dem Stand der Wissenschaft zur Erhöhung der Verkehrssicherheit oder zur Fernhaltung von Gefahren oder Belästigungen, insbesondere durch Lärm, Geruch oder Schadstoffe und zum Schutz der Bevölkerung oder der Umwelt oder aus anderen wichtigen Gründen geeignet erscheint. Sofern dadurch der beabsichtigte Zweck der Verordnung nicht gefährdet wird, sind einzelne Straßen, Straßenabschnitte oder Straßenarten vom Geltungsbereich der Verordnung auszunehmen.
[…]
§43. Verkehrsverbote, Verkehrserleichterungen und Hinweise.
(1) Die Behörde hat für bestimmte Straßen oder Straßenstrecken oder für Straßen innerhalb eines bestimmten Gebietes durch Verordnung
[…]
b) wenn und insoweit es die Sicherheit, Leichtigkeit oder Flüssigkeit des sich bewegenden oder die Ordnung des ruhenden Verkehrs, die Lage, Widmung, Pflege, Reinigung oder Beschaffenheit der Straße, die Lage, Widmung oder Beschaffenheit eines an der Straße gelegenen Gebäudes oder Gebietes oder wenn und insoweit es die Sicherheit eines Gebäudes oder Gebietes und/oder der Personen, die sich dort aufhalten, erfordert,
1. dauernde oder vorübergehende Verkehrsbeschränkungen oder Verkehrsverbote, insbesondere die Erklärung von Straßen zu Einbahnstraßen, Maß-, Gewichts- oder Geschwindigkeitsbeschränkungen, Halte- oder Parkverbote und dergleichen, zu erlassen,
2. den Straßenbenützern ein bestimmtes Verhalten vorzuschreiben, insbesondere bestimmte Gruppen von der Benützung einer Straße oder eines Straßenteiles auszuschließen oder sie auf besonders bezeichnete Straßenteile zu verweisen;
[…]
(2) Zur Fernhaltung von Gefahren oder Belästigungen, insbesondere durch Lärm, Geruch oder Schadstoffe, hat die Behörde, wenn und insoweit es zum Schutz der Bevölkerung oder der Umwelt oder aus anderen wichtigen Gründen erforderlich ist, durch Verordnung
a) für bestimmte Gebiete, Straßen oder Straßenstrecken für alle oder für bestimmte Fahrzeugarten oder für Fahrzeuge mit bestimmten Ladungen dauernde oder zeitweise Verkehrsbeschränkungen oder Verkehrsverbote zu erlassen,
[…]
Bei der Erlassung solcher Verordnungen ist einerseits auf den angestrebten Zweck und andererseits auf die Bedeutung der Verkehrsbeziehungen und der Verkehrserfordernisse Bedacht zu nehmen.
[…]
§94d. Eigener Wirkungsbereich der Gemeinde
Sofern der Akt der Vollziehung nur für das Gebiet der betreffenden Gemeinde wirksam werden und sich auf Straßen, die nach den Rechtsvorschriften weder als Autobahnen, Autostraßen, Bundesstraßen oder Landesstraßen gelten noch diesen Straßen gleichzuhalten sind, beziehen soll, sind folgende Angelegenheiten von der Gemeinde im eigenen Wirkungsbereich zu besorgen:
1. die Erlassung von Verordnungen nach §20 Abs2a,
[…]
4. die Erlassung von Verordnungen nach §43, mit denen
[…]
d) Geschwindigkeitsbeschränkungen
erlassen werden,
[…]."
III. Antragsvorbringen und Vorverfahren
1. Dem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Die Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung verhängte über den Beschwerdeführer vor dem Landesverwaltungsgericht Steiermark mit Straferkenntnis vom 17. Oktober 2024 eine Geld- und Ersatzfreiheitsstrafe wegen eines Verstoßes gegen §52 lita Z10a StVO 1960, weil er am 17. Mai 2024 mit seinem Personenkraftwagen in der Gemeinde Seiersberg-Pirka auf der Feldkirchner Straße 140 die durch Straßenverkehrszeichen kundgemachte zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h überschritten habe.
2. Aus Anlass des Beschwerdeverfahrens gegen dieses Straferkenntnis stellt das Landesverwaltungsgericht Steiermark den vorliegenden auf Art139 Abs1 Z1 B VG gestützten Antrag. Das Landesverwaltungsgericht Steiermark legt die Bedenken, die es zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof bestimmt haben, wie folgt dar:
Die Verordnung des Gemeinderates der Gemeinde Seiersberg vom 16. Dezember 1997 stütze sich zwar auf §43 iVm §94d Z4 StVO 1960, entspreche jedoch nicht den an eine derartige Verordnung gestellten Anforderungen. Für den Normunterworfenen komme anhand des Verordnungstextes nicht zum Ausdruck, für welche konkreten Straßen(-züge) die Geschwindigkeitsbeschränkung konkret gelte. Aus dem Verordnungstext gehe nicht hervor, ob sich die Verordnung auf den Tatbestand des §43 Abs1 litb oder des Abs2 lita StVO 1960 stütze. Der Aktenlage sei nicht zu entnehmen, dass die verordnungserlassende Behörde eine Interessenabwägung und Verhältnismäßigkeitsprüfung iSd §43 StVO 1960 durchgeführt habe. Die verordnungserlassende Behörde habe nicht ermittelt, welche Gefahren bzw Belästigungen für die Bevölkerung oder Umwelt in Bezug auf die einzelnen Straßen(züge) bestünden, vor denen die Geschwindigkeitsbeschränkung schützen solle, und ob diese Umstände auch auf andere Straßen in der Gemeinde zuträfen. In Folge sei die von §43 StVO 1960 geforderte Erforderlichkeit der Geschwindigkeitsbeschränkung nicht nachvollziehbar. §43 StVO 1960 stelle keine taugliche Grundlage zur Erlassung einer Geschwindigkeitsbeschränkung für ein gesamtes Gemeindegebiet dar; eine solche Verordnung sei allenfalls auf §20 Abs2a StVO 1960 zu stützen. Die verordnungserlassende Behörde habe aber nicht – wie in §20 Abs2a StVO 1960 gefordert – geprüft, ob die beabsichtigte Geschwindigkeitsbeschränkung zur Erhöhung der Verkehrssicherheit oder zur Fernhaltung von Gefahren oder Belästigungen, insbesondere durch Lärm, Geruch oder Schadstoffe und zum Schutz der Bevölkerung oder der Umwelt oder aus anderen wichtigen Gründen geeignet erscheint.
Die Geschwindigkeitsbeschränkung habe – unabhängig davon, ob sich die Verordnung auf §43 oder §20 Abs2a StVO 1960 stütze – zumindest hinsichtlich der Feldkirchner Straße nicht im eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde erlassen werden dürfen, weil der Gemeinderat gemäß §94d Z1 und 4 StVO 1960 für die Erlassung von Geschwindigkeitsbeschränkungen ua auf Landesstraßen unzuständig sei. Im Zeitpunkt der Beschlussfassung des Gemeinderates im Jahr 1997 sei die Feldkirchner Straße als gekennzeichnete Vorrangstraße vom örtlichen Geltungsbereich der Verordnung ausgenommen gewesen. Durch die Aufhebung der Kennzeichnung der Feldkirchner Straße als Vorrangstraße durch die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung vom 23. Jänner 2013 erstrecke sich der örtliche Anwendungsbereich der Verordnung nicht automatisch auf die Feldkirchner Straße. Die Feldkirchner Straße sei nämlich bis ins Jahr 2009 eine Landesstraße gewesen. Die Verordnung sei dementsprechend rechtswidrig, weil der verordnungserlassende Gemeinderat nicht zur Erlassung einer auf §43 oder §20 Abs2a StVO 1960 gestützten Geschwindigkeitsbeschränkung zuständig gewesen sei.
Die Gemeinde sei außerdem ihrer Überprüfungsverpflichtung gemäß §96 Abs2 StVO 1960 nicht nachgekommen.
3. Der Verfassungsgerichtshof forderte den Gemeinderat der Gemeinde Seiersberg-Pirka, den ehemaligen Regierungskommissär der Gemeinde Seiersberg-Pirka und die Steiermärkische Landesregierung zur Aktenvorlage und Erstattung einer schriftlichen Äußerung auf.
4. Der Gemeinderat der Gemeinde Seiersberg-Pirka und der ehemalige Regierungskommissär der Gemeinde Seiersberg-Pirka legten die Akten betreffend das Zustandekommen der angefochtenen Verordnungen vor und erstatteten eine Äußerung, in der sie die Zulässigkeit des Antrages bestreiten und den im Antrag erhobenen Bedenken entgegengetreten.
Der örtliche Anwendungsbereich der Verordnung sei ausreichend bestimmt festgelegt. Die fehlerhafte Kundmachung der Verordnung sei vom Landesverwaltungsgericht Steiermark auch nicht vorgebracht worden. Dem Normunterworfenen seien Anfang und Ende der einzuhaltenden Geschwindigkeitsbeschränkung in Folge klar ersichtlich. Der örtliche Anwendungsbereich der Verordnung habe sich durch die partielle Aufhebung der Vorrangstraßenverordnung hinsichtlich der Feldkirchner Straße im Jahr 2013 nicht auf die Feldkirchner Straße erstreckt. Eine solche stillschweigende Verordnungserlassung erscheine von Art18 Abs1 B VG nicht gedeckt. In Folge könne auch dem Regierungskommissär bei Erlassung der Verordnung vom 2. Jänner 2015 nicht zugesonnen werden, er habe die Geschwindigkeitsbeschränkung auch für die Feldkirchner Straße verordnen wollen. Eine Willensbildung der Gemeinde dahingehend, dass die Geschwindigkeitsbeschränkung bei Aufhebung einer Vorrangstraßenverordnung auch für die ehemalige Vorrangstraße gelten solle, habe nicht stattgefunden. In Folge seien die angefochtenen Verordnungen nicht präjudiziell.
Es stehe außer Zweifel, dass sich die Verordnung des Gemeinderates auf §20 Abs2a StVO 1960 stütze. Die im Verordnungstext angegebene Rechtsgrundlage sei unbeachtlich. Die Willensbildung des Gemeinderates habe sich auf die unbedingte Erforderlichkeit der Geschwindigkeitsbeschränkung für die Sicherheit der Verkehrsteilnehmer gestützt. Auch die Textierung der Verordnung (Bezug auf das gesamte Ortsgebiet) entspreche §20 Abs2a StVO 1960. Im Sitzungsprotokoll des Gemeinderates seien die konkreten Straßenzüge ausgewiesen. Der verordnungserlassenden Behörde komme gemäß §20 Abs2a StVO 1960 ein weiter Spielraum zu, sodass eine Geschwindigkeitsbeschränkung lediglich geeignet sein müsse, die Verkehrssicherheit zu erhöhen, Gefahren oder Belästigungen, insbesondere durch Lärm, Geruch oder Schadstoffe fernzuhalten oder zum Schutz der Bevölkerung oder der Umwelt oder aus anderen wichtigen Gründen beizutragen. Die gegenständliche Herabsetzung der Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h sei geeignet, zur Verkehrssicherheit beizutragen. Der zur Anhörung beigezogene Amtssachverständige habe bestätigt, dass die Gesamtzonierung im Interesse der Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Fahrzeugverkehrs und zum Schutz der Fußgänger, insbesondere der zahlreichen Schulkinder positiv zu bewerten sei. Es bestünden keine Zweifel an der Zuständigkeit im Hinblick auf §94d Z1 StVO 1960, weil der Gemeinderat keine Geschwindigkeitsbeschränkung auf einer Landesstraße erlassen habe. Eine Ausdehnung des örtlichen Anwendungsbereiches der Verordnung sei nicht verfügt worden. Die Verletzung der Überprüfungspflicht gemäß §96 Abs2 StVO 1960 führe für sich alleine nicht zur Gesetzwidrigkeit der Verordnung. Es seien keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die Gründe für die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht mehr vorlägen.
5. Die Steiermärkische Landesregierung legte die Akten betreffend das Zustandekommen der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung vom 9. Dezember 1997, mit der ausgewählte Straßen in der ehemaligen Gemeinde Seiersberg zu Vorrangstraßen erklärt worden waren, sowie der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung vom 23. Jänner 2013, mit der diese Erklärung hinsichtlich eines Teilabschnittes der Feldkirchner Straße wieder aufgehoben wurde, vor. Von der Erstattung einer Äußerung sah die Steiermärkische Landesregierung ab.
6. Auf Aufforderung des Verfassungsgerichthofes legten die Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung und das Amt der Steiermärkischen Landesregierung Listen der Vorrang- bzw Landesstraßen im Gebiet der ehemaligen Gemeinde Seiersberg vor.
IV. Erwägungen
1. Zur Zulässigkeit des Antrages
1.1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).
Dem Beschwerdeführer im Anlassverfahren wird zur Last gelegt, er habe gegen §52 lita Z10a StVO 1960 verstoßen, indem er mit seinem Personenkraftwagen im Ortsgebiet der Gemeinde Seiersberg-Pirka die durch Straßenverkehrszeichen kundgemachte zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h (ausgenommen Vorrangstraßen) überschritten habe.
Es ist daher offenkundig, dass das Landesverwaltungsgericht Steiermark die Verordnung des Gemeinderates der Gemeinde Seiersdorf vom 16. Dezember 1997, 1/120 20/ /Verkehrsberuhigung/44150/1997/150/Bgmstr/St, mit der die "flächendeckende 30 km/h Zonierung innerhalb des Ortsgebietes Seiersberg und des Ortsgebietes – Ortsteil Seiersberg/Mantscha – 'Ausgenommen Vorrangstraßen'" erlassen wurde, iVm Z47 der Verordnung des Regierungskommissärs der Gemeinde Seiersdorf-Pirka vom 2. Jänner 2015, 003 3/VOWiederverlautbarung/1, mit der die zuvor genannte Verordnung in den Rechtsbestand der Gemeinde Seiersberg-Pirka übernommen wurde, anzuwenden hat.
1.2. Der Hauptantrag des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark erweist sich sowohl hinsichtlich der Verordnung des Gemeinderates der Gemeinde Seiersberg vom 16. Dezember 1997 als auch der Z47 der Verordnung des Regierungskommissärs der Gemeinde Seiersberg-Pirka vom 2. Jänner 2015 als zulässig. Die Verordnung des Gemeinderates der Gemeinde Seiersberg vom 16. Dezember 1997 hat ihren Geltungsgrund in Z47 der Verordnung des Regierungskommissärs der Gemeinde Seiersberg-Pirka vom 2. Jänner 2015. Die Anordnung der Weitergeltung hat sohin konstitutive Wirkung (vgl VfSlg 20.075/2016 zu ebendieser Verordnung des Regierungskommissärs der Gemeinde Seiersberg-Pirka).
1.3. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der Hauptantrag als zulässig, sodass auf die Eventualanträge nicht weiter einzugehen ist.
2. In der Sache
Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den im Antrag dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).
Der Antrag ist nicht begründet.
2.1. In der Verordnung des Gemeinderates der Gemeinde Seiersberg vom 16. Dezember 1997, mit der eine "flächendeckende 30 km/h Zonierung innerhalb des Ortsgebietes Seiersberg und des Ortsgebietes - Ortsteil Seiersberg/Mantscha – 'Ausgenommen Vorrangstraßen'" erlassen wurde, wird ausdrücklich angeführt, dass sich die Verordnung auf §43 StVO 1960 stütze. Die Verordnung entspricht allerdings nicht den Anforderungen des §43 Abs1 litb Z1 oder Abs2 lita StVO 1960:
2.1.1. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinen Erkenntnissen VfSlg 14.000/1994 und 20.200/2017 festgehalten hat, ist es dem Verordnungsgeber verwehrt, gestützt auf §43 StVO 1960 eine Geschwindigkeitsbeschränkung für die Straßen eines größeren Gebietes zu erlassen, ohne auf die spezifische Verkehrs- und Gefahrensituation auf den von der Verordnung im Einzelnen erfassten Straßen abzustellen. Dies gilt auch für eine für alle Straßen einer Gemeinde (mit Ausnahme der Vorrangstraßen) schlechthin erlassene Geschwindigkeitsbeschränkung, wenn und soweit nicht kraft der Verkehrs- und Gefahrensituation auf allen von der Verordnung im Einzelnen erfassten Straßen die Geschwindigkeitsbeschränkung erforderlich ist.
2.1.2. Diese Erforderlichkeit für jede von der Verordnung des Gemeinderates der Gemeinde Seiersberg von 16. Dezember 1997 betroffene Straße konnte von den verordnungserlassenden Behörden nicht dargetan werden.
Die aus Anlass der Verordnung des Gemeinderates der Gemeinde Seiersberg vom 16. Dezember 1997 angestellten Überlegungen und Untersuchungen reich(t)en nicht aus, um eine auf §43 Abs1 litb Z1 oder Abs.2 lita StVO 1960 gestützte Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h für das gesamte Gemeindegebiet ausgenommen Vorrangstraßen zu verordnen.
Die von den verordnungserlassenden Behörden vorgelegten Unterlagen (insbesondere die auf einer allgemein gehaltenen Bürgerbefragung basierende und sich in einer Zusammenfassung der Befragungsergebnisse erschöpfende Problemanalyse) genügen nicht, die spezifische Verkehrs- und Gefahrensituation für alle von der 30-km/h-Geschwindigkeitsbeschränkung erfassten Straßen(strecken) zu belegen, welche die Herabsetzung der nach §20 Abs2 StVO 1960 vom Gesetzgeber vorgesehenen zulässigen Höchstgeschwindigkeit im Ortsgebiet erforderlich machen (§43 Abs1 litb Z1 und Abs2 lita StVO 1960).
Aus dem Verordnungsakt und den sonstigen, dem Verfassungsgerichtshof zur Verfügung stehenden Unterlagen geht auch sonst nicht hervor, dass sich der Gemeinderat mit der spezifischen Verkehrs- und Gefahrensituation in den einzelnen von der Verordnung erfassten Straßen(zügen) auseinandergesetzt hat.
2.1.3. Die Verordnung entspricht somit nicht den von §43 StVO 1960 aufgestellten Anforderungen, obwohl sie sich ausdrücklich auf diese Rechtsgrundlage stützt.
2.2. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes bewirkt die Angabe einer falschen Rechtsgrundlage jedoch noch nicht die Gesetzwidrigkeit einer Verordnung (vgl VfSlg 17.353/2004 mwN; VfGH 10.6.2024, V26/2023). Es ist vielmehr zu prüfen, ob sich die Verordnung auf eine andere als die in der Verordnung angegebene gesetzliche Grundlage stützen kann.
2.2.1. Gemäß §20 Abs2a StVO 1960 kann die Behörde abgesehen von den Fällen des §43 StVO 1960 für ein gesamtes Ortsgebiet Geschwindigkeitsbeschränkungen erlassen, sofern dies auf Grund der örtlichen oder verkehrsmäßigen Gegebenheiten nach dem Stand der Wissenschaft zur Erhöhung der Verkehrssicherheit oder zur Fernhaltung von Gefahren oder Belästigungen, insbesondere durch Lärm, Geruch oder Schadstoffe und zum Schutz der Bevölkerung oder der Umwelt oder aus anderen wichtigen Gründen geeignet erscheint.
Im Unterschied zu §43 StVO 1960 räumt §20 Abs2a StVO 1960 der Behörde einen weiten Spielraum ein. Die Geschwindigkeitsbeschränkung muss (lediglich) geeignet sein, zur Erhöhung der Verkehrssicherheit oder zur Fernhaltung von Gefahren oder Belästigungen, insbesondere durch Lärm, Geruch oder Schadstoffe und zum Schutz der Bevölkerung oder der Umwelt oder aus anderen wichtigen Gründen, beizutragen. Bei der Erlassung von Geschwindigkeitsbeschränkungen gemäß §20 Abs2a StVO 1960 gelten daher nicht die strengen Anforderungskriterien an die Erforderlichkeit nach §43 StVO 1960.
2.2.2. Auf Grund des durch §20 Abs2a StVO 1960 eingeräumten – weiten – Spielraumes für den Verordnungsgeber ist dem Verordnungsgeber nicht entgegen zu treten, wenn er (nicht zuletzt gestützt auf die ergänzende gutachterliche Stellungnahme im Anhörungsverfahren) davon ausgeht, dass die Herabsetzung der Höchstgeschwindigkeit für das gesamte Ortsgebiet auf 30 km/h zur Erhöhung der Verkehrssicherheit beizutragen geeignet ist.
2.2.3. Die Verordnung des Gemeinderates der Gemeinde Seiersberg vom 16. Dezember 1997 ist somit von §20 Abs2a StVO 1960 gedeckt. Es ist auch nicht ersichtlich, dass sich durch die Überleitung dieser Verordnung in den Rechtsbestand der Gemeinde Seiersberg-Pirka durch Z47 der Verordnung des Regierungskommissärs der Gemeinde Seiersberg-Pirka vom 2. Jänner 2015 daran etwas geändert hat.
2.3. Der Verfassungsgerichtshof kann – auf Grundlage der ihm zu Verfügung stehenden Unterlagen und des Antragsvorbringens – nicht erkennen, dass die angefochtenen Verordnungen von unzuständigen Behörden erlassen worden wären.
2.3.1. Gemäß §94d Z1 StVO 1960 sind Verordnungen nach §20 Abs2a StVO 1960 von der Gemeinde im eigenen Wirkungsbereich zu erlassen, sofern die Verordnungen nur für das Gebiet der betreffenden Gemeinde wirksam werden und sich auf Straßen, die nach den Rechtsvorschriften weder als Autobahnen, Autostraßen, Bundesstraßen oder Landesstraßen gelten noch diesen Straßen gleichzuhalten sind, beziehen sollen.
2.3.2. Die Verordnung des Gemeinderates der Gemeinde Seiersberg vom 16. Dezember 1997 iVm Z47 der Verordnung des Regierungskommissärs vom 2. Jänner 2015 erfasst das gesamte im Ortsgebiet Seiersberg-Pirka gelegene Gebiet der ehemaligen Gemeinde Seiersberg mit Ausnahme der Vorrangstraßen.
2.3.3. Sowohl im Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Verordnungen als auch im Zeitpunkt der Tatbegehung durch den Beschwerdeführer im verwaltungsgerichtlichen Anlassverfahren waren – soweit aus den Unterlagen und dem Antragsvorbringen ersichtlich – keine Landesstraßen vom örtlichen Anwendungsbereich der Verordnung des Gemeinderates der Gemeinde Seiersberg vom 16. Dezember 1997 iVm Z47 der Verordnung des Regierungskommissärs der Gemeinde Seiersdorf-Pirka vom 2. Jänner 2015 erfasst.
Der vom Landesverwaltungsgericht Steiermark bemängelte Umstand, dass die Feldkirchner Straße im Zeitpunkt der Erlassung der Verordnung des Gemeinderates der Gemeinde Seiersberg im Jahr 1997 eine Vorrang- und Landesstraße gewesen sei, jedoch seit dem Jahr 2013 (teilweise) keine Vorrangstraße mehr sei, führt nicht zur Ausweitung des örtlichen Anwendungsbereiches der Verordnung auf eine Landesstraße (und in Folge zur Unzuständigkeit der Gemeinde im eigenen Wirkungsbereich gemäß §94d StVO 1960), weil die Feldkirchner Straße nach Angaben des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark bereits seit dem Jahr 2009 keine Landesstraße ist.
2.4. Zum Vorbringen des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark, die angefochtenen Verordnungen seien gesetzwidrig, weil der Gemeinderat keine Überprüfungen gemäß §96 Abs2 StVO 1960 durchgeführt habe, ist darauf zu verweisen, dass die Verletzung der Überprüfungspflicht für sich alleine keine Gesetzwidrigkeit der Verordnung zur Regelung oder Sicherung des Verkehrs begründet (vgl zB VfSlg 12.290/1990).
2.5. Die Bedenken des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark gegen die angefochtenen Verordnungen treffen daher nicht zu.
V. Ergebnis
1. Der Antrag ist abzuweisen.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.