E3787/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden. Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesministerin für Justiz) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I.
Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Mit Lastschriftanzeige vom 3. August 2023 schrieb das Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz dem Beschwerdeführer die Zahlung von Gerichtsgebühren in Höhe von € 156.759,– vor.
2. Mit Schreiben vom 11. August 2023 begehrte der Beschwerdeführer, die Zahlungspflicht aufzuheben bzw die Kostenvorschreibung "auf NULL/O,--€" zu setzen. Begründend brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, er habe keinen gebührenpflichtigen Antrag iSd Gerichtsgebührengesetzes (GGG) eingebracht.
3. Mit Bescheid vom 18. September 2023 gab die Präsidentin des Oberlandesgerichtes Wien dem Antrag nicht statt, die vorgeschriebenen Gerichtsgebühren gemäß §9 Abs2 des Gerichtlichen Einbringungsgesetzes (GEG) nachzulassen, in eventu gemäß §9 Abs1 GEG zu stunden.
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass es der Beschwerdeführer versäumt habe, die für den Nachlass erforderliche besondere Härte, insbesondere die Bekanntgabe seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse, darzulegen. Weiters sei im Verfahren über den Nachlass der Gerichtsgebühren kein Raum dafür, die Richtigkeit der Gebührenbemessung aufzurollen. Die Argumentation des Beschwerdeführers, wonach keine Gebührenpflicht bestehe, weil der Antrag auf Verfahrenshilfe abgewiesen worden und daher auch keine Klage eingebracht worden sei, gehe somit ins Leere. Zudem habe der Beschwerdeführer für den Stundungsantrag weder die erforderliche Sicherheitsleistung angeboten noch ein Vorbringen erstattet, warum die Einbringung nicht gefährdet sei. Es fehle somit neben der erforderlichen besonderen Härte an der für eine Stundung unabdingbaren zweiten Voraussetzung, dass entweder eine Sicherheit geleistet werde oder der Gebührenschuldner darlegen könne, warum die Einbringung in dieser Sache gerade nicht gefährdet sei.
4. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer eine Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht und beantragte gleichzeitig Verfahrenshilfe. Begründend brachte er erneut vor, er habe niemals eine Klage eingebracht, weshalb auch keine Gerichtsgebühr habe entstehen können. Er habe bloß einen Verfahrenshilfeantrag beim Landesgericht Graz eingebracht, der zurückgewiesen worden sei. Die Präsidentin des Oberlandesgerichtes Wien habe seinen Antrag vom 11. August 2023 unrichtig als Stundungsantrag gedeutet. Er beantrage vielmehr, dass der Betrag "auf NULL" gesetzt werde.
5. Das Bundesverwaltungsgericht wies den Antrag auf Verfahrenshilfe ab (Spruchpunkt A.I.), hob den Ausspruch über die Abweisung des Antrages auf Stundung wegen Unzuständigkeit ersatzlos auf und wies die Beschwerde im Übrigen hinsichtlich des Antrages auf Nachlass unter Modifikation des Bescheidausspruches als unbegründet ab (Spruchpunkt A.II.).
Die Abweisung des Antrages auf Verfahrenshilfe begründet das Bundesverwaltungsgericht damit, dass die Eintreibung von Gerichtsgebühren nicht in den Anwendungsbereich des Art6 EMRK falle, weil keine "civil rights" betroffen seien und auch Art47 GRC nicht anwendbar sei, weil kein Bezug zum Recht der Europäischen Union vorliege.
Da die Voraussetzungen des §8a VwGVG schon deshalb nicht erfüllt seien, erübrige sich eine weitere Prüfung.
Die ersatzlose Behebung des Ausspruches über die Stundung begründet das Bundesverwaltungsgericht damit, dass die belangte Behörde nicht berechtigt gewesen sei, in ihrem Bescheid über eine nicht beantragte Stundung abzusprechen. Die Abweisung des Antrages auf Nachlass stützt das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen darauf, dass der Beschwerdeführer keine "besondere Härte" bescheinigt habe.
6. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
7. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichtsakten vorgelegt und ebenso wie die Präsidentin des Oberlandesgerichtes Wien von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen. Über Ersuchen übermittelte der Verwaltungsgerichtshof kurzfristig die ihm im Revisionsverfahren vorgelegten Verwaltungsakten.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
1.1. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 3. Oktober 2024, G3504/2023, die Wort- und Zeichenfolge "dies auf Grund des Art6 Abs1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl Nr 210/1958, oder des Art47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr C83 vom 30.03.2010 S. 389, geboten ist," in §8a Abs1 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG, BGBl I 33/2013, idF BGBl I 109/2021 als verfassungswidrig aufgehoben.
1.2. Gemäß Art140 Abs7 B VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlassfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlassfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Norm bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichtes zugrunde gelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.
1.3. Dem in Art140 Abs7 B VG genannten Anlassfall (im engeren Sinn), anlässlich dessen das Gesetzesprüfungsverfahren tatsächlich eingeleitet worden ist, sind all jene Beschwerdefälle gleichzuhalten, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren (bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung) beim Verfassungsgerichtshof bereits anhängig waren (VfSlg 10.616/1985, 11.711/1988); darüber hinaus muss der das Verwaltungsgerichtsverfahren einleitende Antrag vor Bekanntmachung des dem unter Pkt. 1.1. genannten Erkenntnis zugrunde liegenden Prüfungsbeschlusses des Verfassungsgerichtshofes gestellt worden sein (VfSlg 17.687/2005).
1.4. Die nichtöffentliche Beratung im Gesetzesprüfungsverfahren begann am 18. Juni 2024; der dieses Gesetzesprüfungsverfahren einleitende Beschluss wurde am 8. Jänner 2024 bekannt gemacht. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Beschwerdeführer – am 4. Dezember 2023 – bereits einen Verfahrenshilfeantrag beim Verfassungsgerichtshof gestellt. Die nach Bewilligung der Verfahrenshilfe durch einen Rechtsanwalt fristgerecht eingebrachte Beschwerde gilt gemäß §73 Abs2 und §464 Abs3 ZPO iVm §35 Abs1 VfGG als zum Zeitpunkt der Einbringung des Verfahrenshilfeantrages, somit also noch vor Beginn der nichtöffentlichen Beratung im Gesetzesprüfungsverfahren erhoben und beim Verfassungsgerichtshof anhängig (vgl zB VfSlg 11.748/1988, 13.665/1994). Der dem Verfahrenshilfeantrag zugrunde liegende Fall ist somit einem Anlassfall gleichzuhalten.
Das Bundesverwaltungsgericht wendete im Verfahren zur Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses die als verfassungswidrig aufgehobene Gesetzesbestimmung an. Es ist nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen, dass diese Gesetzesanwendung für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nachteilig war. Der Beschwerdeführer wurde somit wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt.
2. Bei diesem Ergebnis erübrigt sich eine nähere Erörterung, inwiefern Verfahren über Kosten und Gerichtsgebühren vor dem Hintergrund der jüngeren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in den Anwendungsbereich des Art6 Abs1 EMRK ("civil rights and obligations") fallen (s etwa EGMR 28.2.2023, 14166/19, Stoenescu , Z29, mwN).
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevor-bringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.