JudikaturVfGH

E904/2024 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
17. September 2024

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist syrischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Kurden an. Er verließ seine Heimatstadt Ra's al-Ain in Syrien im Jahr 2022 und stellte am 16. März 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid vom 30. Dezember 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte dem Beschwerdeführer jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr (Spruchpunkt III.).

3. Das Bundesverwaltungsgericht wies, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 3. Juli 2023, die ausschließlich gegen Spruchpunkt I. erhobene Beschwerde mit Erkenntnis vom 14. Februar 2024 als unbegründet ab. Der Beschwerdeführer habe keine individuell gegen seine Person gerichtete asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen können.

4. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der ua die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch ebenso wie das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl abgesehen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 13.836/1994, 14.650/1996, 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hierfür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektive Recht widerstreitet einer Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001, 20.374/2020; VfGH 14.3.2023, E3480/2022), oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001, 18.614/2008, 20.448/2021 und 20.478/2021).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001, 20.371/2020 und 20.405/2020).

3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Der Beschwerdeführer brachte als Fluchtgründe vor, ihm drohe eine Zwangsrekrutierung zum Militärdienst von Seiten des syrischen Regimes oder der kurdischen Streitkräfte. Zudem befürchte er, auf Grund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden sowie wegen seiner oppositionellen Gesinnung vom syrischen Regime und der "Syrian National Army" (SNA) verfolgt zu werden.

Hinsichtlich seiner Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden gab der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl an, dass er in seinem Heimatort von der SNA geschlagen und am Kopf verletzt sowie telefonisch mit dem Tod bedroht worden sei, weil er zu den kurdischen Kräften gehöre. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht brachte der Beschwerdeführer vor, dass er seit 2019, als die SNA in Ra's al-Ain einmarschiert sei, wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit von der SNA beschuldigt werde, mit den "Syrian Democratic Forces" (SDF) zusammenzuarbeiten.

3.2. Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass der Beschwerdeführer ein Angehöriger der Volksgruppe der Kurden sei und aus Ra's al-Ain stamme, das bis Oktober 2019 unter Kontrolle der Kurden gestanden sei und seit November 2019 unter Kontrolle der türkischen Militäroperation Friedensquelle sei. Den Feststellungen des angefochtenen Erkenntnisses liegen Länderberichte zugrunde, welche zur Lage der Kurden in den türkisch kontrollierten Gebieten folgende Informationen enthalten:

"Im Zuge der türkischen Militäroperation Friedensquelle im Nordosten von Syrien Anfang Oktober 2019 kam und kommt es Berichten zufolge zu willkürlichen Tötungen von Kurden durch Kämpfer der – mit den türkischen Truppen affiliierten – Milizen der SNA sowie zu Plünderungen und Vertreibungen von Kurden, Jesiden und Christen (ÖB 1.10.2021).

[…]

Auch in den von der Türkei bzw der Türkei-nahen SNA kontrollierten Gebieten im Norden Syriens kam es vielfach zu Übergriffen und Verhaftungen, die laut UNCOI insbesondere die kurdische Zivilbevölkerung betreffen. In vielen Fällen befänden sich Kurdinnen und Kurden hier laut der UN-Kommission in einer doppelten Opferrolle: Nach einer früheren Zwangsrekrutierung durch die kurdischen SDF in vorherigen Phasen des Konflikts mit der Türkei würden sie nun für eben diesen unfreiwilligen Einsatz von der SNA verfolgt und inhaftiert."

3.3. In seiner Begründung legt das Bundesverwaltungsgericht sodann dar, dass es eine drohende Gefahr einer Verfolgung des Beschwerdeführers auf Grund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden durch die SNA als nicht wahrscheinlich erachtet: Der Beschwerdeführer habe nämlich erst sehr spät im Beschwerdeverfahren den Fluchtgrund der Verfolgung wegen Volksgruppenzugehörigkeit behauptet. Zudem habe er zuletzt in Al-Hasakah, einer seit 2016 durchgehend kurdisch kontrollierten Stadt, gelebt. Ferner lebe seine Familie aktuell "unbehelligt im Herkunftsstaat", "was nicht gerade für die Verfolgung des Beschwerdeführers wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit spricht."

3.4. Bei der Begründung übersieht das Bundesverwaltungsgericht jedoch zum einen, dass der Beschwerdeführer bereits vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl seine Verfolgung wegen der Volksgruppenzugehörigkeit vorbrachte. Zum anderen geht das Bundesverwaltungsgericht aktenwidrig davon aus, dass der Beschwerdeführer aus der Stadt Al-Hasakah und nicht – wie das Bundesverwaltungsgericht zuvor selbst feststellte – aus Ra's al-Ain stammt. Das Bundesverwaltungsgericht hätte daher das Fluchtvorbringen in Bezug auf Ra's al Ain prüfen, und sich mit der Lage in den Gebieten unter Kontrolle der Militäroperation Friedensquelle auseinandersetzen müssen. Das Bundesverwaltungsgericht hat überdies außer Acht gelassen, dass zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die Leitlinien der Asylagentur der Europäischen Union (European Agency for Asylum – EUAA) (Country Guidance: Syria, Februar 2023, S 97) bei Kurden aus von der SNA kontrollierten Gebieten grundsätzlich davon ausgingen, dass eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht (vgl bereits VfGH 19.9.2023, E720/2023).

3.5. Damit hat das Bundesverwaltungsgericht seine Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt unterlassen und ist vom Akteninhalt abgegangen und hat damit Willkür geübt (zur gebotenen Auseinandersetzung mit aktuellen Berichten und Leitlinien der EUAA vgl zB VfSlg 20.358/2019, 20.372/2020; VfGH 19.9.2023, E720/2023).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevor-bringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

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