JudikaturVfGH

E46/2023 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
28. November 2023

Spruch

Dem Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe wird im beantragten Umfang stattgegeben.

II. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

III. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der im Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes 17 jährige Beschwerdeführer ist syrischer Staatsangehöriger, gehört der arabischen Volksgruppe an und bekennt sich zur islamischen Glaubensgemeinschaft. Der Beschwerdeführer lebte vor seiner Ausreise aus Syrien in Menbij im Gouvernement Aleppo.

2. Der Beschwerdeführer reiste mit seinem ebenfalls minderjährigen Cousin in Begleitung eines Onkels schlepperunterstützt über die Türkei nach Österreich und stellte am 5. November 2020 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

3. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11. November 2021 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.), ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte für ein Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).

4. Die gegen Spruchpunkt I. erhobene Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 14. November 2022 als unbegründet ab und begründet dies im Wesentlichen damit, dass eine Zwangsrekrutierung des Beschwerdeführers nicht glaubhaft sei, weil dieser sich mit 17 Jahren als Minderjähriger noch nicht im wehrdienstpflichtigen Alter für die syrische Armee befinde und auch die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten (im Folgenden: SDF) keine Minderjährigen einberufen würden. Eine Rekrutierung durch das syrische Regime sei überdies nicht anzunehmen, weil die Herkunftsregion des Beschwerdeführers unter kurdisch autonomer Verwaltung stehe und dem Zugriff durch syrische Behörden nicht unterliege. Der Beschwerdeführer könne über mehrere Grenzübergänge im Norden Syriens, etwa den Grenzübergang Bab al Hawa, in seine Herkunftsregion zurückkehren, ohne in unmittelbaren Kontakt mit den syrischen Behörden zu gelangen.

5. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.

II. Erwägungen

1. Die − zulässige − Beschwerde ist begründet.

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Das Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass dem Beschwerdeführer auf Grund seiner Minderjährigkeit im Entscheidungszeitpunkt keine aktuelle Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die kurdischen SDF drohe. Auf diesen Umstand verweist das Bundesverwaltungsgericht auch im Hinblick auf eine drohende Rekrutierung durch die syrische Armee, führt hierzu jedoch zusätzlich aus, dass eine solche dem Beschwerdeführer auch deshalb nicht drohe, weil er aus einer kurdisch kontrollierten Region stamme, in welcher das syrische Regime keine Zugriffsmöglichkeit habe und in die er auch ohne mit den syrischen Behörden in Kontakt zu kommen, zurückkehren könne.

Hinsichtlich einer möglichen Zwangsrekrutierung durch die SDF setzt das Bundesverwaltungsgericht sich zwar mit der für den Beschwerdeführer als Minderjährigen bestehenden Gefahr auseinander und führt unter Hinweis auf die Länderberichte aus, dass im September 2018 seitens der SDF ein Befehl ergangen sei, der die Rekrutierung von Minderjährigen verbiete. Es sei daher nicht ersichtlich, dass dem Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr an seinen Herkunftsort gegenwärtig mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit unmittelbar konkret die Gefahr einer Zwangsrekrutierung als noch Minderjähriger durch die SDF drohe.

3.2. Auf die vom Beschwerdeführer vorgebrachte Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die SDF bei Erreichen des Alters, ab dem die SDF Männer rekrutiert, geht das Bundesverwaltungsgericht jedoch nicht ein. Das Bundesverwaltungsgericht unterlässt damit eine Prüfung anhand der in diesem Zusammenhang maßgeblichen Kriterien (siehe dazu das vom Bundesverwaltungsgericht herangezogene Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien, Version 7, vom 10. August 2022, Seite 100).

3.3. Die asylrelevante Verfolgungsgefahr muss aktuell sein und somit im Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes vorliegen (vgl Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer , Asyl und Fremdenrecht, 2016, §3 AsylG 2005, K 61). Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den Konventionsgründen zu befürchten habe (siehe VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

3.4. Aus den im angefochtenen Erkenntnis abgedruckten Länderberichten ergibt sich, dass in den von den SDF kontrollierten Gebieten Rekrutierungen stattfinden. Dem − im angefochtenen Erkenntnis nicht abgedruckten − Punkt 10.7 des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu Syrien, Version 7, vom 10. August 2022, Seite 101, ist zu entnehmen, dass nach dem "Dekret Nr 3 vom 4. September 2021" für Männer zwischen 18 und 24 Jahren in der "Demokratischen Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien" eine "Selbstverteidigungspflicht" besteht. Für den am 1. Oktober 2005 geborenen Beschwerdeführer besteht somit im Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes in weniger als einem Jahr die Gefahr, in der "Demokratischen Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien" für die SDF zwangsrekrutiert zu werden. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass es nach den Herkunftslandinformationen zu Überprüfungen von möglichen Rekruten an Checkpoints und auch zu Ausforschungen komme und das "Dekret Nr 3 vom 4. September 2021" teilweise mit Gewalt durchgesetzt werde (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien, Version 7, vom 10. August 2022, Seite 102), hätte das Bundesverwaltungsgericht nicht ohne weiteres eine fehlende Verfolgung annehmen dürfen, sondern sich im Rahmen seiner Prognoseentscheidung mit einer etwaigen asylrelevanten Verfolgung im Zusammenhang mit der Gefahr einer Zwangsrekrutierung in der "Demokratischen Selbstverwaltung für Nord und Ostsyrien" im Zuge des Erreichens der Volljährigkeit des Beschwerdeführers auseinandersetzen müssen. Der Beschwerdeführer befand sich im Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes mit 17 Jahren in einem Alter, in dem eine mögliche Zwangsrekrutierung ab Erreichen des 18. Lebensjahres nicht allein mit dem Hinweis darauf, dass er "als Minderjähriger nicht im wehrdienstpflichtigen Alter" sei und die Gefahr "einer Einberufung zu den kurdischen Einheiten" nicht bestehe, als reale Verfolgungsgefahr ausgeschlossen werden kann.

3.5. Indem das Bundesverwaltungsgericht es unterlassen hat, die vorgebrachte Gefahr einer Zwangsrekrutierung des Beschwerdeführers zu den SDF bei Erreichen des Alters, ab dem die SDF Männer rekrutiert, zu prüfen, mangelt es der angefochtenen Entscheidung an einer schlüssigen Begründung, warum diesbezüglich keine asylrelevante Verfolgung vorliegt, womit sie mit Willkür belastet ist (vgl VfGH 27.2.2023, E3307/2022; 13.6.2023, E693/2023 ua).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Dem Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe ist im beantragten Umfang (§64 Abs1 Z1 lita bis c und e, Z2 und 5 ZPO) stattzugeben.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

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